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Oberflächliche Wünsche zu verfolgen, hier
und dorthin zu laufen, dies und das zu wollen... es gibt viele Wege zur
Sinnestäuschung.
Gib das Äußerliche auf. Kultiviere die Inner-lichkeit.
Laotse
Es siegt die Kurzsichtigkeit, das äußerst
kurze Verfallsdatum einer Kultur, die sich in ihrer Gesamtheit umbringt und die
Welt tötet. Anthropologen und Philosophen erklären uns, dass wir vielleicht so natürlich
abdriften. Unsere Gesellschaft hat seit langem darauf verzichtet, an die Rettung
der Welt zu glauben. Wir werden unsere Macht nur in der Zerstörung und im
Verderb erkennen. Und heute werden die Schwarzseher von der Offensichtlichkeit
derer überflügelt, die denken, dass eine realistische Sicht der Welt deren Zerstörung
impliziert.
Franco La Cecla
Gott ist Vater, noch mehr ist er allerdings Mutter.
Papst Johannes Paul I.
CHRISTINE ROM
- Eine Utopie
*
Roman
von Eliseo Lagana
Neuabfassung
Mit Präsentation von Elisabetta Di Lernia und
neuem
Schlusswort des Autors
Übersetzung von Birgit Kohl
Präsentation
Wie könnte sich
unsere Gegenwart in Zukunft weiterentwickeln? Und wer könnte sie abändern, wenn
ihm Gehör geschenkt werden würde? Mit anderen Worten: Wie können wir vermeiden,
den Abgrund der totalen Katastrophe zu erreichen?
Christine Rom, die
Hauptfigur dieser Geschichte, ist eine Zigeunerin, oder besser gesagt… eine
Romni. Eine Symbolfigur für die Intoleranz unserer Gesellschaft gegenüber der
Andersartigkeit. Wenn sie in der Vergangenheit in ein Konzentrationslager
geschickt worden wäre, wie dies vielen ihrer „Ethnie”
passiert war, würde sie in der Gegenwart sicherlich isoliert und diskriminiert
werden – weil sie zur Bevölkerungsgruppe der Roma gehört und weil sie außerdem
revolutionäre Ideen verbreitet. Diese bestehen darin, dass sich Christine bei
ihren Aktionen innerhalb einer konformistischen und konformierten Gesellschaft
mitteilt und ausdrückt, die nur an einen Gott glaubt, den Christine nicht anerkennen
will: Den Gott Euro. Und dies macht aus ihr ein destabilisierendes Element, das
als solches isoliert und kontrolliert werden muss.
Tatsächlich unterscheidet sich die Ausdrucksweise
von Christine von der der Allgemeinheit. Sie stammt aus einer archaischen,
längst vergessenen Vergangenheit, die tiefgehende und vererbte Wurzeln
hinterlassen hat, die auf die Figur der Muttergöttin zurückgehen.
Der Autor veranlasst den Leser im Text zu ständigen Überlegungen. Hierbei verwendet er die Methode der Kontraposition, sowohl bei der Wahl der ins Spiel gebrachten, menschlichen Charaktere, als auch durch das Angebot verschiedener Perspektiven, aus denen die Welt betrachtet werden kann: Das Weibliche und das Männliche; Achtung, Liebe und Unterwerfung; Ökologie und innere Harmonie, denen Macht und Zerstörung sowie schließlich Muttergöttin und Euro gegenübergestellt werden.
Der Autor veranlasst den Leser im Text zu ständigen Überlegungen. Hierbei verwendet er die Methode der Kontraposition, sowohl bei der Wahl der ins Spiel gebrachten, menschlichen Charaktere, als auch durch das Angebot verschiedener Perspektiven, aus denen die Welt betrachtet werden kann: Das Weibliche und das Männliche; Achtung, Liebe und Unterwerfung; Ökologie und innere Harmonie, denen Macht und Zerstörung sowie schließlich Muttergöttin und Euro gegenübergestellt werden.
Alle weiblichen Romanfiguren haben einen
positiven Charakter und sind fähig, sich und ihre Umgebung zu verwandeln. Dagegen
sind die männlichen Protagonisten nur dazu in der Lage, sich positiv zu
verändern, wenn sie dies unter dem Einfluss der „weiblichen” Figuren wollen.
Ein großzügiger und mutiger Roman, der aus dem üblichen Raster fällt, um eine scheinbar weit entfernte, weil vergessene Welt zu ergründen, eine Welt, in der die Rolle der Frau geachtet wurde, weil sie ein harmonisches Symbol für den Ursprung von Welt und Leben ist.
Ein großzügiger und mutiger Roman, der aus dem üblichen Raster fällt, um eine scheinbar weit entfernte, weil vergessene Welt zu ergründen, eine Welt, in der die Rolle der Frau geachtet wurde, weil sie ein harmonisches Symbol für den Ursprung von Welt und Leben ist.
(…) „Für die Veränderung der Welt bräuchte
es das Beispiel weiser, glücklicher Frauen, weiser Frauen wie dir, die das Sein
über das Haben stellen und es aufwerten, für die Freude wichtiger als Stolz
ist, und die Glückseligkeit über Kriegsmedaillen steht” (…).
Deshalb können wir uns nur wünschen, dass Frauen die Kühnheit
von Christine annehmen, dass sie lernen, sich der derzeitigen,
chauvinistischen, zerstörerischen und umweltfeindlichen Mentalität zu
entziehen, die sich Leistung, Bürokratie und Krieg auf die Fahne schreibt. Dieser
Akt der Befreiung erfolgt nicht durch einen Krieg der Geschlechter, sondern
durch die Wiederentdeckung des weiblichen Prinzips, das uns allen innewohnt.
Und das im Endeffekt das ist, was Christine schließlich wirklich verkörpert.
Elisabetta di Lernia
Prolog
Richter des obersten Gerichtshofs von Euro,
hört nun meine Verteidigungsrede zu Euch an. Als Junge wurde ich in London
ausgebildet. Danach absolvierte ich die Hochschule für Wirtschaftswissenschaften
von Frankfurt. Wie meine Kollegen aus Finanzfachkreisen bezeugen können,
befolgte ich das Gesetz unserer Väter immer in aller Strenge und voller Eifer
für Euro. Ich kümmerte mich nicht um die Armen und verfolgte die Zigeuner. Als
ich allerdings auf Reisen war, wurde ich plötzlich von einem Licht umgeben und
ich hörte eine Stimme, die mir sagte: „Paul, warum verfolgst du mich?”.
„Wer
bist du?” fragte ich.
„Ich bin Christine, Tochter der Leute, die
du verfolgst! Aber jetzt steh auf und geh nach Bulla! Dort wirst du die Liebe
unserer Mutter kennenlernen und dein Schicksal wird sich erfüllen”.
ERSTES KAPITEL
CHRISTINE
Auf der Straße
Der intensive
Gesichtsausdruck von Christine war einfach hinreißend. Ihre Augen schienen
einen versteckten Sinn, ein Geheimnis oder ein undefinierbares Versprechen zu
enthüllen. In ihrem Lächeln, in der Intensität ihres mitunter funkelnden Blicks
schwang etwas Primitives und gleichzeitig bezaubernd Sanftes mit.
Christine trug
einen langen Rock und ein eng anliegendes Hemd unter einer schweren Jacke. Sie
war wohlgeformt und mittelgroß, hatte eine schmale Taille und breite, wenn auch
nicht zu breite Hüften. Ihr Gesicht mit schwarzen und lebhaften Augen, der
kleinen, leicht nach rechts verschobenen Nase und den vollen Lippen, die
gleichmäßige und weiße Zähne freigaben, war rund und ebenmäßig. Ihre nackten
Füße waren in Plastiksandalen gehüllt. Sie lief aufrecht und mit stolzen,
langsamen, fast wohlüberlegten Schritten dahin. Das blinde Schicksal hatte sie
auf die Straße gestellt. Hätte sie sich jedoch mit der gleichen Körperhaltung
und eleganter Kleidung anderswo befunden, wäre sie als vornehme Dame betrachtet
worden. Sie bettelte, schien aber, wie eine gute Schauspielerin, die sich selbstsicher
ihres Wertes bewusst war, eine bescheidene Rolle im Theater des Lebens zu
spielen. Christine war schön, jung, selbstzufrieden – und sie war eine Nomadin.
Sie war sogar glücklich und, wie allseits bekannt, kennt Glück keinen Rassismus.
Aus ihrer Sicht hatte sie keine Vorurteile gegen die sogenannten ‚Gage‘ und beneidete sie auch nicht. Obwohl
sie sie anbettelte, behandelte sie sie doch unbefangen, als ob sie Geld nicht
wirklich bräuchte. Indessen verhielt sie sich Paul gegenüber genauso. Sie nahm
seine Almosen an, zeigte aber, außer einem flüchtigen und intensiven Lächeln, keine
Dankbarkeit.
Bei seiner
ersten Begegnung mit ihr, erfuhr Pauls Seele ein unerwartetes und von unerklärlicher
Beunruhigung begleitetes Begehren, das ihm wie eine Hörigkeit erschien.
Derartige Gefühle zu einer Frau wie ihr mussten ihm etwas unpassend erscheinen.
Paul lebte in
London und war Finanzfachmann und Manager eines multinationalen Konzerns. Er
war ein Mann, den viele als normal eingestuft hätten. Manchmal hegte er einige
übliche Vorurteile gegenüber Sachverhalten und Personen, insbesondere, wenn ihm
diese sozial unterlegen erschienen. Auch Frauen beurteilte er eher
herablassend. Eben diese oder besser gesagt jene Frauen, die einen reichen und
nicht hässlichen Ehemann suchten, hatten ihn sehr umworben. Allerdings war er
immer stark von seiner Arbeit eingenommen, so dass die Jahre vergingen und er
nie in den Stand der Ehe getreten war.
Seinen
Sommerurlaub verbrachte er gerne in Sizilien. Er flog von London nach Catania, nahm
sich einen Zug nach Bulla und mietete sich dort im exklusiven Hotel Margroz in
der Nähe des Strandes ein. Dieses lag jedoch auch nicht weit von einem
berühmt-berüchtigten Ort entfernt, an den die Behörden eine Gruppe
unerwünschter Nomaden verbannt hatte. Wenn Paul sie mitunter erblickte, beobachtete
er sie voller Verachtung. Dennoch traf er Christine jeden Morgen sobald er das
Hotel verließ – und er bekam Lust, stehenzubleiben und sie zu bewundern.
Christine wartete und schenkte ihm ein Lächeln, wenn ein Geldstück in ihren
Plastikbecher fiel.
Paul grüßte sie
und gab ihr zehn Euro. Dies war sicherlich viel für ein Almosen, war für ihn
jedoch in Anbetracht eines großen Lächelns vollkommen bedeutungslos. Paul wollte
das Geld nicht in den Plastikbecher geben, den sie ihm hinstreckte. Vielmehr
legte er es in ihre Hand, um mit ihr in Kontakt zu treten. Ihre Finger
berührten sich für einen langen Augenblick. Sie hatte kalte Hände, die Paul
allerdings als angenehm frisch deutete.
- Wie geht es
dir? – fragte er sie.
Christine schenkte
ihm einen leuchtenden Blick, den Paul nicht erwidern konnte. Im
Licht dieser lebendigen und durchdringenden Augen spiegelte sich ihre Seele
wider. Ihre übliche Geste, den Kopf nachdenklich und entspannt auf eine
Schulter zu legen, forderte gleichzeitig fast zu Küssen und Umarmungen auf.
Dabei schienen ihre Augen mit einem heiteren und glücklichen Gesichtsausdruck
in aller Freiheit die Gegenwart und das Wesentliche der Dinge um sich herum
aufzunehmen. Sie war vollkommen ungeschminkt und trug weder Puder, noch
Lippenstift oder Wimperntusche. Ihre Haut und ihr Antlitz zeigten tatsächlich
die Vitalität und Blüte der Jugend, die keine Kosmetika benötigte.
Paul hatte nun, als er sie so vor
sich betrachtete und ihre Stimme hörte, plötzlich den Eindruck, nicht gelebt zu
haben. Er fühlte sich wie aufgerüttelt und neues Leben schien ihn jetzt mit
sanfter Intensität zu erfüllen.
Christines
Haare waren gut gekämmt und bildeten hinter dem Nacken einen dichten Pferdeschwanz.
- Welch schöner
Goldglanz, - sagte er zu ihr.
Christine löste
den Haarknoten mit einem schnellen Griff ihrer Hände hinter den Kopf, so dass
ihre Haare sanft auf die Schultern fielen.
- Ich habe
einen Müllcontainer gesehen, der mir interessant scheint, - sagte sie.
- Wo? - fragte
Paul.
- Hier in der
Nähe, hinter dem Bahnhof.
Christine sah Paul
an. Sie warf ihm einen durchdringenden Blick voller glühender Vitalität zu, der
auch eine stillschweigende und unwiderstehliche Einladung war, ihr zu folgen.
Sie liefen in
Richtung Bahnhof und fanden sich in einem schattigen Sträßchen wieder.
- Hier, - sagte
Christine.
Während sie
neben Paul stand, zog sie an seinem Arm und hielt ihn lächelnd
mit einer ungezwungenen und unschuldigen Geste fest. Er verstand und beugte
sich nach vorne, um den Deckel des Containers anzuheben.
Christine begann, darin herumzuwühlen und etwas zu suchen.
- Ich habe es
gefunden! – rief sie aus. – Es ist ein neues Täschchen aus Leder. – Und sie
hängte es sich über den Arm. Dann blieben sie einige Augenblicke lang still und
ruhig zusammen stehen, weil sie es nicht schafften, sich zu verabschieden und
wegzugehen. Das graue Licht des späten Sommernachmittags schwand langsam. Paul drehte
sich um und erblickte das Schild einer Pizzeria.
- Komm mit zum
Essen, - sagte er zu ihr.
- Gehst du
nicht im Hotel essen? – fragte sie ihn.
- Heute Abend
nicht. Ich habe Lust auf eine Pizza und ich würde mich freuen, sie in deiner
Begleitung zu genießen… komm, gehen wir hinein.
Eine Katze
ruhte zusammengerollt auf einem Stuhl. Christine bemerkte sie überrascht, dann
setzte sie sich. Sie betrachtete das Besteck und nahm es in die Hand.
- Müssen wir
damit essen? – fragte sie lächelnd und Paul verstand nicht, ob sie das ernst
meinte oder ob sie scherzte.
Sie bestellten
die Pizzas. Christine strahlte. Die zunächst ruhige Katze sprang nun plötzlich
auf ihre Knie.
- Johannes,
mein lieber Johannes, du hast mich erkannt! – rief sie und begann ihn zu streicheln.
- Seid ihr
Freunde? - fragte Paul.
- Ja, wir
kennen uns aus einem früheren Leben.
- Meinst du das
ernst? - erwiderte Paul.
- Ja, - sagte
sie entschlossen.
- Glaubst du
das wirklich?
- Ich glaube an
das, was ich weiß. Im Übrigen gibt es die Reinkarnation. Dies ist Johannes.
- War dieser
dein Freund in einem anderen Leben ein gewisser Johannes und ist er jetzt eine
Katze?
- Viele kehren
als Katzen zurück. Manchmal ist das besser so. Katzen haben eine natürliche Harmonie
mit sich selbst, sind spirituelle Wesen und lieben die Göttin. Vor allem jetzt
in unserer Welt ist ihre Lebensbedingung oft besser als die des Menschen.
- Ein Mensch
ist einer Katze immer überlegen.
- Die Menschen
sind verrückt geworden. Sie hasten, wollen kaufen und zu etwas werden, um an irgendeinem
Punkt in der Zukunft anzukommen, den sie für besser halten. Dabei entgehen
ihnen die Gegenwart und das Leben im Hier und Jetzt und wenn du nicht jetzt
lebst, lebst du nicht in vollen Zügen. Katzen sind dagegen weise und sind in
die ewige Gegenwart getaucht. Einige von ihnen sind Zen-Meister,
Reinkarnationen von erleuchteten Menschen der Vergangenheit. Von ihnen könnten
wir viele Dinge lernen, wenn wir sie nur beobachten würden, - sagte Christine.
- Ich wusste
gar nicht, dass du ein New Age-Apostel bist, Christine, - sagte Paul, der sich
nicht entscheiden konnte, ob er darüber amüsiert oder verstimmt sein sollte.
Johannes sprang
auf den Tisch, machte einen Buckel und richtete den Schwanz auf, betrachtete
Paul mit menschlichen Augen und miaute. Dann kehrte er auf die Knie von Christine
zurück und begann zu schnurren.
- Hast du seine
Worte gehört? - fragte Christine.
- Was hat er
gesagt?
- Er hat dich
begrüßt.
Paul dachte, dass Christine verrückt sei.
Dennoch übte sie eine starke Anziehungskraft auf ihn aus. Er war förmlich von
ihren funkelnden, durchdringenden, tiefgründigen Augen und ihrer gleichzeitig
sanften und überzeugenden Stimme angezogen, ja sogar hypnotisiert. Paul
wurde von der ewig währenden, verrückten Liebesleidenschaft ergriffen, die er
in jeder Faser seiner Körpers verspürte und die sich nach Erwiderung sehnte.
- Wer bist du? –
fragte er sie.
- Weisst du das
nicht? Alle sagen, dass ich eine Nomadin bin.
- Du bist
anders…
- Wer bin ich
deiner Meinung nach? Wie siehst du mich?
- Ich weiß nicht, du bist frei und es scheint
mir, dass du dein eigenes Gesetz bist und dass du keinen Meistern nachläufst.
- Wenn jemand wirklich einen
Meister braucht, so muss er aufpassen und abwägen. Er muss eine richtige
Auswahl darüber treffen, wer dies sein könnte. Ich erkenne die Präsenz meines
Meisters im Lächeln eines Kindes, im Gesicht eines Liebenden, aber auch im
Blick des Verrückten, in der Hoffnungslosigkeit des Armen, dem Leiden des Missbrauchten,
des Kranken. Ich sehe meinen Meister inmitten von Freude oder Verzweiflung. Ja,
ich nehme ihn deutlich wahr und erkenne ihn, ich erhalte seine Gnade.
Allerdings kann ich nicht viel für ihn, meinen armen, leidenden, an das Kreuz
genagelten Gottessohn tun, für ihn, der von den Verehrern von Geld, Macht und
Erfolg ans Kreuz geschlagen wurde. Und deshalb erweist sich er, der selbst von
seinem Vater am Kreuz verlassen wurde, im Leiden als mein wahrer Meister.
- Vielleicht bist du ihm ähnlich...
er war ob-dachlos und arbeitslos, von Gott und den Menschen verlassen und
hatte, wie du, kein Geld.
- Ich bin nicht
verlassen... Die Göttin führt und stützt mich. Eine Mutter verlässt ihre Kinder
nie.
- Dann bist du
deshalb glücklich...
Nach dem
Abendessen erschien Christine Paul bei der Verabschiedung noch faszinierender.
Beim Kontakt
ihrer Hände wurde eine Banknote übergeben.
- Du bist
wunderbar, - sagte er sanft zu ihr und suchte dabei ihre Augen. Christine erwiderte
seinen Blick allerdings nicht, sondern wendete sich nach oben, um eine einsame
Wolke zu beobachten, die den Himmel wie ein fliegender Drache durchzog.
Auch Paul bemerkte
sie. Dann wendete er sich wieder zu Christine, die sich jetzt entfernte. Die
Trennung von ihr fiel ihm sehr schwer, eine düstere Wolke breitete sich über seinem
Herzen aus. Es wurde dunkel und die Sterne glitzerten. Paul hatte nie Zeit
gehabt, sie zu betrachten und in seiner Metropole London konnte man sie nicht sehen,
weil sie immer von tausend künstlichen Lichtern verdunkelt wurden. Er steuerte
auf die Strandpromenade zu, beobachtete einen rötlichen Schimmer, der sich in
den düsteren Wellen andeutete und wartete darauf, dass der Mond aufging. Dann
betrachtete er in der Ferne eine Reihe von hundertjährigen Bäumen, die ihm
zunächst wie große dunkle Schatten und dann, aus der Nähe, wie fühlende Wesen erschienen,
die sich fast seiner Gedanken bewusst waren.
Als er dann
abends, bevor er zu Bett ging, an das dachte, was er am vergangenen Tag getan
hatte, verstand er sich selbst nicht. Er fragte sich, wie er, ein reicher,
anerkannter und ernsthafter Mann, sich zusammen mit einer Zigeunerin vor einem
Müllcontainer aufhalten und dessen Deckel aufmachen konnte, um ihr zu
ermöglichen, darin zu wühlen. Welche hypnotische Kraft hatte ihn dazu gebracht,
eine vorher derartig undenkbare und absurde Tat zu begehen? Und was hätten
seine Freunde aus Finanzfachkreisen gedacht, wenn sie ihn gesehen hätten? Sie
hätten gedacht, dass er den Verstand verloren hatte und wie allseits bekannt,
ist die Liebe bisweilen eine Form von Wahnsinn.
Mario, der Eremit
An gewissen
Stunden des Tages, meistens nachmittags, sah man Christine nicht auf der Straße
und Paul fragte sich beunruhigt, wo sie war.
Er steuerte auf
die Orte zu, an denen sie sich üblicherweise aufhielt. Dann erblickte er sie in
der Ferne, während sie mit einem Passanten sprach. Christine blieb schließlich
alleine zurück und ging weg. Paul beobachtete einige Sekunden lang ihren
bedächtigen und eleganten Gang. Dann folgte er ihr.
Er schlich ihr
bis zum Ende einer Straße am Ortsrand
nach. Dabei kamen sie zunächst in der Nähe von alten, roten Backsteinhäusern
vorbei und passierten dann eine Reihe von majestätischen Pinien. Danach
erreichten sie auf einem einsamen Pfad ein offenes Feld, das zu den Füßen eines
großen Felsens führte. Hinter ihm konnte sich der Blick an grünen und blühenden
Hügeln erfreuen. Christine überschritt den Hügel und verschwand dahinter.
Nachdem er sich
vorher vergewissert hatte, dass Christine auf der Straße bettelte, durchlief
der von großer Neugierde angetriebene Paul am folgenden Tag die gleiche Strecke
und kam vor dem Felsen an, der in der Mitte eines Gartens mit majestätischen
Bäumen aufragte. In der ganzen Umgebung fühlte er eine unglaubliche Ruhe und
hatte das sonderbare Gefühl, dass die Zeit irgendwie stillstand und stark auf
die Gegenwart konzentriert war. Hinter dem Felsen erhob sich ein bescheidener
Bau aus Holz. Die Eingangstür stand offen. Paul erblickte einen spärlich
eingerichteten Raum, dessen Fußboden mit Perserteppichen bedeckt war. In einer
Ecke war links neben einem weitläufigen Fenster die Ikone eines Madonnenbildes
aufgehängt. Darunter saß ein meditierender Mann auf dem Boden. Dieser nahm
Pauls Anwesenheit wahr und lud ihn ein, auf einem Hocker Platz zu nehmen, während
er seitlich versetzt in Meditationshaltung auf dem Teppich verblieb. Dann schloss
er die Augen erneut, senkte den Kopf und führte die Hände zur Gebetshaltung zusammen.
Es vergingen wenige Sekunden, die Paul sehr lang erschienen. Draußen begann es
zu regnen.
Mario sah Paul
in die Augen. Paul senkte den Blick und wie selbstverständlich legte er seine
Hände aufeinander. Nun schienen beide in ein Gebet vertieft zu sein.
- Willkommen!
Bleiben sie hier, um sich vor dem Regen in Sicherheit zu bringen. Kommen sie
von weit her? - sagte Mario mit heiterer und tiefer Stimme.
- Ich komme
jetzt aus Bulla, bin aber Engländer.
- Reisen sie
oft hierher?
- Ja, jeden
Sommer. Die Primitivität des Orts und die Ruhe der umliegenden Landschaft
ziehen mich an.
- Die göttliche
Gnade zeigt sich in der Stille.
- Ich möchte
sie nicht stören.
- Sie stören
überhaupt nicht. Ich bin immer alleine, aber mitunter treffe ich gerne
jemanden, um mich zu unterhalten.
- Leben sie
hier als Eremit? Es gibt nicht viele, - sagte Paul.
- Ja, ich
könnte ein Eremit sein.
- Darf ich sie
nach den Gründen für diese Entscheidung fragen? Leben sie alleine, weil sie die
Menschen hassen?
- Absolut nicht
– antwortete Mario gelassen – ich hasse sie nicht, aber ich halte mich lieber
von ihnen fern.
- Warum?
- Nach nur
wenigen Jahren Aufenthalt auf diesem Planeten habe ich erkannt, dass einige
seiner Bewohner oberflächlich, gierig, unehrlich, aggressiv und egoistisch
sind. Deshalb habe ich mich zurückgezogen, um für sie zu beten. Außerdem liebe
ich meine eigene Gegenwart, die Natur und vor allem die Stille sehr. Und
vielleicht wissen sie nur zu gut, dass die Bewohner von Bulla zum Großteil
nichtssagend gesprächig sind.
- Und dennoch
unterhalten sie sich gerne.
- Ja, hin und
wieder. Also, worüber wollen wir sprechen? Was möchten sie mir erzählen? Warum
sind sie bis hierher hoch gekommen?
Die Stimme von Mario
klang überzeugend.
Paul war sich
seiner Sache nicht sicher und wusste nicht recht, ob er sprechen oder sich mit
einem Gruß verabschieden sollte. Er sah das Gesicht des Eremiten forschend an
und las darin eine große Zuhörbereitschaft.
- Ich spazierte
und bemerkte den Felsen… oder sagen wir so: Um ehrlich zu sein, wollte ich
verstehen, wo eine Person verschwunden war oder sich versteckt hatte, der ich
gestern bis hierher gefolgt war - sagte Paul. Gleich danach bereute er allerdings,
sein kleines Geheimnis preisgegeben zu haben.
Mario legte
erneut die Hände zusammen. Dann betrachtete er den Gast eingehend. Es
entstanden Augenblicke des Schweigens, die Paul als unangenehm empfand. Einerseits
fühlte er sich immer noch unsicher, andererseits nahm er jedoch wahr, dass der
Eremit wirklich gastfreundlich war.
- Sie möchten
also vielleicht von ihrer Beziehung zu einer Frau sprechen? - fragte Mario.
- Zu einer
Zigeunerin.
- Ich hoffe,
dass sie nicht nur eine Zigeunerin, sondern ein menschliches Wesen für sie ist.
- Ja, ein
menschliches Wesen, das mich quält.
- Sie beziehen
sich auf Christine... eine wunderschöne und mysteriöse, glückliche und
freundliche, immer lächelnde Frau.
- Es scheint,
als ob sie sie sehr gut kennen…
- Sie ist eine
echte Frau, eine Avatara.
- Avatara?
- Ja. Die avatarischen Frauen sind
Gottheiten, erhabene Offenbarungen der vielgestaltigen Weiblichkeit und sie
hatten das Glück, eine von ihnen zu treffen.
- Eine Avatara,
die mir Kopfschmerzen bereitet.
- Das glaube
ich ihnen. Frauen beunruhigen uns mitunter.
- Das kann
schon sein, aber Christine ist anders: Eine Bettlerin, aber stolz und
glücklich, eine lächelnde Frau, die ihren Weg geht. Sie lässt mich nicht zur
Ruhe kommen.
- Warum ist sie
ein Problem für sie? - fragte Mario.
- Sie
fasziniert mich wirklich sehr, aber ich ärgere mich, wenn ich bemerke, dass sie
eine derartige Macht über mich ausübt. Ich treffe sie und sie zieht mich in
ihren Bann, sie hypnotisiert mich.
- Christine hat
also diese Wirkung auf sie?
- Ja, sie hypnotisiert
mich und gleichzeitig bin ich ihr gegenüber derartig gerührt. Dieses zarte Gefühl
habe ich noch nie erlebt.
- Und das ist
keine gute Sache?
- Schon, aber
sie fasst keine Zuneigung, sie ist mir nicht dankbar, sie flieht vor mir.
- Nomaden sind fast nie dankbar. Bitten
ist ihre Arbeit, sie arbeiten und die Gage
geben. Und was geben sie schon? Nur ein kleines Geldstück, um sie loszuwerden.
- Gage?
- Mit diesem
Begriff bezeichnen die Nomaden die Sesshaften. Sie sind Roma, das heißt
Menschen. Dies ist tatsächlich die Bedeutung des Wortes, wäh- rend die anderen Gage sind.
- Sind wir
keine Menschen für sie?
Mario schloss
die Augen, senkte den Kopf und kratzte sich an der Stirn.
- Was ist ein
Mensch? – sagte er etwas ratlos, - es gibt wenige Menschen. Wir werden mit
einer gewissen Neigung geboren, Mensch zu werden. Wenigen gelingt dies
allerdings wirklich. Vielmehr sind wir Bestien, besondere Bestien, die denken
können.
- Denken ist doch
schon etwas…
- Wenn sie
unsere Situation, den Zustand unseres Planeten betrachten, erkennt man, dass
der Gedanke nicht viel nützte. Sprechen wir aber nicht davon, kehren wir zu
ihnen, zu ihrem Gefühl zurück. Sie sagten also?
- Ich sagte,
dass ich stark gerührt bin, wenn ich Christine sehe. Sie löst bei mir ein
intensives Gefühl auf Höhe der Brust aus.
- Dem
Herzchakra.
- Dem Herzcha…?
- Dem Zentrum
der Gefühle. Man empfängt Gefühle, sie werden übertragen und durchlaufen das
Herzchakra. Christine teilt ihnen ihren inneren Zustand mit. Nun erfolgt beim
Kontakt mit einem gesunden und starken Frauenherz eine Ansteckung, es kommt zu
einer Kommunikation. Die Gnade schwappt von dort über, wo sie im Überfluss vorhanden
ist. Dies ist ein gutes Zeichen. Es bedeutet, dass sie verstehen, wahrnehmen,
dass Christine eine besondere Frau ist... weil sie glücklich und mit Gnade
gesegnet ist und weil sie außerdem einige Siddhi besitzt.
- Siddhi?
- Übernatürliche,
spirituelle Kräfte.
- Gnade, Siddhi,
übernatürliche, spirituelle Kräfte, was soll das heißen? - fragte Paul.
- Das sind
Kräfte der Natur, der Seele. Es gibt Mysterien, auch wenn wir versuchen, diese
mit den verschiedensten Ansätzen zu erklären. Und hier sehen wir uns zweifellos
realen, konkreten, wenn auch mysteriösen Tatsachen gegenüber.
- Welche realen
Tatsachen?
- Personen, vor allem Frauen, die natürlicher,
d. h. tiefgründiger und stärker sind, strahlen besondere Energien aus. Darüber
hinaus sind sie auch oft schlauer, flexibler und intuitiver. Je natürlicher ein
Wesen ist, umso größer ist seine natürliche Stärke, seine gnadenreiche Segnung,
umso mehr Energie strahlt dieses Wesen aus und beeinflusst so die anderen.
- Ich
persönlich glaube nicht an diese Einflüsse. Die Wissenschaft hat sie
schließlich nicht bewiesen.
- Die
Wissenschaft ist fast zu einer Religion geworden, auf die die einfachen
Menschen, ganz zu schweigen von den Wissenschaftlern, blind vertrauen. Viele
glauben, dass sie uns absolute und endgültige Antworten geben kann.
- Sie basiert
auf dem Prinzip der Reproduzierbarkeit und Messbarkeit der Phänomene, während
dagegen alles, was nicht messbar und quantifizierbar ist, nicht in den Rahmen
der Wissenschaft fällt, - warf Paul ein.
- Das stimmt.
Allerdings gibt es neben der wissenschaftlichen Erkenntnis auch die Beziehungserkenntnis,
die sich direkt mitteilt und wahrnimmt. Und Christine teilt die Sicherheit des
Glücks mit, die vielleicht kein wissenschaftliches, objektives und
reproduzierbares Faktum ist, die jedoch von denen wahrgenommen wird, die eine
gewisse Sensibilität besitzen. Und das erklärt den Grund, warum viele sie
suchen, mit ihr sprechen wollen, sich in ihrem Einflusskreis bewegen möchten. Und
sie, Paul, sind einer von diesen. Aber auch ich gehöre dazu und vielleicht
sogar mehr als sie, weil ich nicht sehr an die Wissenschaft glaube und weil ich
auch nicht sehr rational bin.
- Sind sie das
wirklich nicht?
- Vielleicht
wäre es besser zu sagen, dass ich nicht von Descartes Gift durchtränkt bin.
- Was hat
Descartes damit zu tun?
- Oh, er hat sicher
etwas damit zu tun. Meiner Meinung nach ist er ein Unbedachter, der das Subjekt
vom Objekt und den Körper von der Seele getrennt hat. Dabei hat er nicht
verstanden, dass die Grenzen nur mental und erdacht sind, dass alles in der
Einheit Gottes lebt.
- Es kann schon
sein, wie sie sagen, Eremit. Aber ich bin ich und Christine ist Christine, wir
sind keine Einheit, das scheint mir offensichtlich. Allerdings habe ich mich
absurd an sie gebunden und es geht mir schlecht, wenn ich sie nicht sehe.
- Wenn sie in
ihrer Nähe sind, erfahren sie ihren angenehm ausgleichenden Einfluss und fühlen
sich wohl. Und wenn sie dann von ihr entfernt sind, kehren sie in sich und in
ihren üblichen existentiellen Modus, in ihre gewöhnlichen und mechanischen
Gedanken zurück. Ihr Unbehagen ist ein endogener Faktor. Vielleicht geht es
ihnen schlecht, weil sie sich schließen, verweigern, weil sie denken. Versuchen
sie sich zu entspannen, sich vollkommen für die Liebe Christines zu öffnen und
sie werden sehen, dass der Schmerz wie von Zauberhand verschwindet.
- Christine liebt
mich also?
- Sicher,
Christine liebt, sie liebt sehr, und deshalb ist sie glücklich, obwohl sie eine
arme Bettlerin ist; aber sie liebt nicht insbesondere sie, Paul. Christine strahlt
Liebe aus, ebenso wie die Sonne überall und auf jeden Licht ausstrahlt.
- Wie hätte Christine
ihre spirituelle Kraft, ihre Siddhi erworben, von denen sie sprechen?
- Sie wurde so
geboren. Sie ist eine gute, einfache Seele und jetzt hat sie sich der großen Aufgabe
der spirituellen Suche gewidmet.
- Ich sehe sie,
wenn sie Geld sucht!
- Lassen sie sich nicht vom Schein trügen.
Beurteilen sie ein menschliches Wesen nicht nach der unmittelbaren Bedingung,
in der sie es antreffen. Vergessen sie nicht, dass auch Buddha ein Bettler war
und viele Erleuchtete und auch Philosophen nichts besassen. Dennoch waren sie
Meister der Weisheit. Auch Jesus lebte von milden Gaben, war ein armer Obdachloser.
Niemand kann diese Wahrheit leugnen. Tatsächlich zeichnen sich die Erleuchteten,
Heiligen, großen Forscher, Liebhaber der Weisheit durch Armut aus und sie
werden sie nie in tausend Gütern verloren, von tausend Dingen oder tausend
Gedanken erschwert sehen. Sie verlassen das Äußerliche und kultivieren die
Innerlichkeit. Sie leben in ihrem Zentrum, nicht im Äußerlichen, in den
Besitztümern. Die Weisen sind arm, sie sind frei und verwirklicht. Auch
Christine ist so und sie sehen, sie fühlen das. Vielleicht ist das verwirrend
für sie? Außerdem macht Christine, wie ich ihnen sagte, eine unermüdliche
innere Suche durch.
- Wie?
- Sie
konzentriert ihren Geist, befreit ihn von unnötigen Gedanken, schweren
Gefühlen. Sie breitet die Hand aus, wo ein mildtätiger Passant eine kleine
Spende ablegt und gleichzeitig betet und meditiert sie. Sie tut dies seit
Jahren und ist noch so jung. Sie wird eine Heilige werden.
- Und deshalb
hat sie durch Gebet und Medita-tion ihre spirituellen Kräfte perfektioniert?
- Sicher und es
sind die gleichen Kräfte, die auch wir besitzen oder die wir besitzen würden,
wenn wir uns nicht in tausend Gedanken und Zerstreuungen, in vielen unnötigen
oder sogar schädlichen Tätigkeiten verlieren würden. Wenn wir, statt ständig
unter künstlichen Anregungen, inmitten der Natur, am Meeresufer oder mit Blick
auf einen Berg leben würden, wenn wir den ständigen Fluss unserer Gedanken,
unserer Fantasien und Emotionen unbeteiligt beobachten würden. Wenn wir all
unsere Energien an einem Punkt konzentrieren würden, anstatt stumpfsinnige
Fernsehprogramme anzuschauen, anstatt Geld dadurch zu verdienen, dass die Armen
beraubt werden, dann wären wir jetzt glücklicher und würden nicht zu Christine
gehen, um einen Krümel Glück zu erbetteln. Und so sind wir die wahren Bettler.
Ja, das ist tatsächlich so, auch wenn unsere Häuser voller Schätze sind.
- Geschätzter Eremit,
lassen Sie sich eines sagen: Sie sind ein sonderbarer Typ.
- Denken sie
auch über ihre Seele nach; wenn sie sich verstehen und selbst lieben würden,
wenn sie in sich Kraft und Frieden ihrer tiefgehenden Innerlichkeit entdecken
und realisieren würden, dann müssten sie nicht außerhalb von sich suchen.
- Wirklich?
- Christine zeigt
ihnen den Weg zu einem Schatz, der in ihnen verborgen ist, Paul. Sie beginnen
zu erwachen. Verlieren sie nicht ihr Leben, wachen sie auf und Gott wird ihnen
die Gnade erweisen.
Paul antwortete
nicht. Er war betreten und dachte, dass ihm diese Predigten reichten und dass
er eigentlich gehen wollte, wenn ihn nicht irgendetwas zurückgehalten hätte.
Gleichzeitig hatte er gemischte Gefühle. Er teilte keinesfalls die Worte von Mario,
hatte sie aber aufmerksam angehört.
Beide
schwiegen. Paul schaute aus dem Fenster. Die Blätter eines mächtigen
Eukalyptusbaums nahmen den Regen weiter auf. Eine Elster hüpfte in den Zweigen umher.
Sie verschwand, tauchte weiter oben wieder auf, flog dann plötzlich gegen den
grauen Himmel und verschwand. Paul kehrte mit seinem Blick in den Raum zurück.
Der Eremit lächelte ihm zu. Er hatte ein Licht in seinen Augen. Nun empfand Paul
ein Gefühl der Ruhe, das ihn schließlich erreichte.
- Eremit, sie
sind unbeschwert? – fragte er.
- Ja, warum
fragen sie das?
- Zutiefst
unbeschwert?
- Ja.
- Das wäre ich
auch gerne, was muss ich tun? Ich würde jede Summe bezahlen, um unbeschwert zu
leben.
- Die
Unbeschwertheit kann man also kaufen? – fragte Mario.
Sie hörten auf
zu sprechen. Dann verabschiedeten sie sich mit einer Umarmung und Paul kehrte
nachdenklich ins Hotel Margroz zurück. Sicher verstand er Mario, seine Ideen
und die radikal andersartige Lebenseinstellung nicht und dennoch nährte er ihm
gegenüber ein sonderbares Gefühl der Bewunderung. Er dachte, dass ein Mann ein
gewisses Format haben musste, um sich beim Nichtstun unbeschwert zu fühlen.
Christine und Mario
Als Mario allein zurückblieb, begann er, die
Bäume im Garten zu beobachten: Dort standen mächtige Eukalyptusbäume, Tannen
und mediterrane Pinien. Jenseits des Gartens erblickte man Hügel voller Erika.
Marios Geist
war frei und in der Gegenwart verankert. Durch seine Meditationspraktik war es
ihm gelungen, den Raum, der zwischen den Gedanken besteht, zu erkennen und
auszudehnen. Deshalb hatte er sich still in die Natur versenkt, ohne den
verschiedenen, sich wiederholenden Gedankenautomatismen oder Erinnerungen zu
folgen, die ihm noch in den Sinn kommen konnten. Er glaubte, dass eine
Erinnerung eine Art Traum war. Die Vergangenheit wird im Gedächtnis umgeformt,
neu interpretiert und geschaffen und dann geträumt. Und wenn ihm Erinnerungen
oder Geistesblitze aus der Vergangenheit kamen, verweilte er nicht bei der
Rückschau, sondern ließ die Bilder ohne Widerstand erscheinen und hielt sie
nicht auf, um sich darin zu verlieren.
Wenn ihn jemand
beobachtet hätte, hätte er ihn nicht für einen glücklichen Mann gehalten, wenn
man unter Glück eine angenehme Gefühlsregung versteht. Mario war nicht „glücklich“,
er war unbeschwert und in eine tiefgehende, friedvolle Stille gehüllt. Und der
leichte Klang von jetzt hörbaren Schritten schien sich harmonisch mit dieser
Stille zu verbinden. Mario drehte sich um und das Lächeln Christines brachte
ihn zum Strahlen. Und so stand sie still vor ihm und jedes Wort wäre überflüssig
erschienen. Sie umarmten sich und setzten sich dann beide hin, um die Natur zu
betrachten.
Man hörte einen
Hund bellen. Ein großer, roter Mond kletterte die Zweige eines Eukalyptusbaums
hoch, während die Nacht sich von Osten näherte. Es war Mario, der zuerst sprach.
- Heute habe
ich den Besuch eines originellen Typs, eines Ausländers, erhalten.
- War es
vielleicht Paul?
- Ja, er schien
sehr an dir interessiert.
- Das stimmt.
Er kommt mich jeden Tag besuchen. Er ist großzügig.
- Er scheint
mir wirklich verliebt zu sein.
- Du wirst doch
nicht eifersüchtig sein?
- Vielleicht
schon.
- Du hast
keinen Grund dazu. Denken wir lieber darüber nach, wie wir uns mit diesem armen
Gage verhalten sollen.
- Liegt dir
sein Schicksal so am Herzen?
- Ich weiß
nicht. Er ist herzerweichend. Ein sehr reicher Mann, aber alleine und verloren
und kommt immer zu mir, um Begleitung und Zuneigung zu erbetteln. Ich würde ihm
gerne helfen, aber wie?
- Du hilfst ihm
schon so wie du bist. Es genügt, wenn du du selbst bist. Seine Seele gibt in
der Gegenwart deines großen Herzens Lebenszeichen, sie lebt angesichts deiner
unbegründeten Freude förmlich auf. Er erahnt, dass es ein anderes Reich gibt,
wo man ohne viele unnütze Dinge auskommt, wo es einem gut geht, auch ohne im exklusiven Hotel
Margroz zu übernachten. Du bist unbeschwert und fröhlich. Deine Freude
verbreitet sich um dich und Paul steht unter deinem Einfluss.
- Vielleicht.
Aber welchen Einfluss kann ich auf einen Mann haben, der derartig andere Werte
als ich hat?
- Der Weise agiert
ohne Anstrengung, er lehrt mit seinem gelassenen Beispiel.
- Ich bin eher
arm als weise und die Armen waren noch nie ein Beispiel für irgendjemanden und
schon gar nicht für Personen, die Geld haben.
- Für die Veränderung der Welt bräuchte es das Beispiel
weiser, glücklicher Frauen, weiser Frauen wie dir, die das Sein über das Haben
stellen und es aufwerten, für die Freude wichtiger als Stolz ist, und die
Glückseligkeit über Kriegsmedaillen steht.
- Denkst du,
dass die Welt sich ändern würde, wenn nur die Frauen anders wären?
- Ja, sicher,
wenn sie nur aufhören würden, das Geld und reiche Männer zu lieben. Leider sind
auch die Frauen unnatürlich geworden.
- Schluss mit
diesen Reden, - sagte Christine. Mario schwieg und sie begann wilde Brombeeren
zu sammeln.
- Die frühere
Stille ist zurückgekehrt, - sagte sie in einem Flüsterton.
- Das ist ein
Segen.
- Weißt du,
Mario, und dennoch sollten wir neben Gebet und Meditation vielleicht an die
praktischeren Dinge des Lebens denken.
- Worauf
beziehst du dich?
- Der Klimawandel beunruhigt mich. Es
gibt keine Jahreszeiten mehr. Die Winter sind kalt und unerträglich und im
Sommer weiß ich nicht, wie ich mich anziehen soll: Es ist kalt, es ist heiß, es
gibt Stürme und Überschwemmungen.
- Was können
wir dagegen tun? Unser Beitrag zum Treibhauseffekt ist sehr gering, ja sogar
nichtig. Wir haben kein Auto, wir verbrauchen nichts, wir verbrennen keine
Kraftstoffe.
- Wir könnten
vielleicht zusammen in einem Haus aus Ziegelsteinen wohnen.
- Meinst du das
im Ernst?
- Ja, das habe
ich mir schon mehrmals gedacht. Weißt du, obwohl die Reichen mit ihren Geländewagen,
usw. viel CO2 produzieren, sind sie dennoch geschützt, können gut unter diesen
Bedingungen überleben, besitzen Häuser mit Klimaanlage und Heizung. Nur wir
sind der Natur ausgesetzt.
- Das stimmt.
- Jetzt baut
der neue Bürgermeister von Bulla Häuser für die Armen.
- In welchem
Teil von Bulla, meine geliebte Christine?
- Erinnerst du
dich an den Spaziergang, den wir unter dem Sternenhimmel am Strand von… wie
hieß er doch gleich… gemacht haben?
- Es war der
Strand von Maregrosso.
- Ja, genau, dort
bauen sie die neuen Sozialwohnungen.
- Das ist ein
schöner Platz, aber er ist auch voller Müll. Man kann kaum zwischen den verschiedenen
Abfällen laufen.
- Wir könnten
ihn entrümpeln und am Meeresstrand wohnen. Dort könntest du ganz alleine am
Strand weiter als Eremit leben und mit den Fischen und Möwen sprechen, während
ich zum Betteln in die Stadt ginge.
- Das ist keine
schlechte Aussicht, Christine.
- Bist du davon
überzeugt? Würdest du diese Einsiedelei verlassen?
- Ich glaube
schon.
- Wir werden
also mit dem Bürgermeister sprechen, um ihn um eine Wohnung zu bitten?
- Christine, mit
dir würde ich überall leben, auch in einem Haus aus Ziegelsteinen. Ich würde es
auch schaffen, ein normales Leben zu führen. Ich würde meine Einsiedelei
verlassen, so sehr wünsche ich mir, dich für immer zu besitzen.
- Was sagst du denn da? Die Liebe
kann nur frei sein wie das Lied eines verborgenen Vogels, den du nicht kennst
und nicht siehst. Wenn du ihn aber packst und in einen Käfig steckst,
kommt er um, weil er nicht für die Gefangenschaft geboren ist, sondern fliegen
muss. Deshalb verliert die Musik der Liebe ihren wunderbaren Klang, wenn die Liebenden
immer in ihren Gewohnheiten, in der Vergangenheit und in ihren Erwartungen gefangen,
miteinander verbunden sind. Wir werden zusammen leben und gleichzeitig frei
sein.
Mario nahm sie
bei der Hand und zog sie sanft an sich. Christine schloss die Augen. Sie konzentrierte
sich, fühlte sich und genoss ihre inneren Reaktionen, bevor sie sich für die
Liebe öffnete. Er streichelte sie weiter, sie stieß hohe und leichte Töne aus,
die an den Ruf eines mysteriösen Waldtieres erinnerten.
Paul bleibt alleine zurück
Vielleicht beginnen sich die
Seelen bereits in den ersten Lebensjahren zu suchen. Und einige von ihnen
treffen sich schließlich nach langen Jahren der Wanderschaft und falscher
Entdeckungen. Dabei erkennen sie sich gegenseitig sofort und werden nicht vom Begehren,
sondern von einer felsenfesten, wenn auch nicht rationalen, inneren Gewissheit
geleitet. Paul glaubte, dass sein Zusammentreffen mit Christine vorherbestimmt
war und er fühlte sich mit ihr durch eine natürliche und unwiderstehliche Kraft
verbunden. Und vielleicht gab es keinerlei Hindernisse für ihren zukünftigen, gemeinsamen
Weg. Nichts würde sie je trennen.
Inzwischen
blieb der arme Paul allerdings mit seinen Gedanken an Christine und sein
Begehren für sie in seinem geschlossenen Zimmer zurück. Er hatte sie vergeblich
den ganzen Nachmittag beim Hotel, am Strand und an der Ampel gesucht. Er hatte
Süßspeisen, Joghurt und eine Halskette für sie gekauft.
Er schraubte
den Deckel eines Joghurtglases ab und begann es zu verkosten. „Diesen Geschmack
hätte sie genossen, - dachte er – aber für mich ist er bitter“. Sie fehlte ihm
sehr, er hatte ein starkes Verlangen, sie an sich zu ziehen, zu küssen und zu
streicheln. Der verliebte Paul plagte sich mit einem unvergleichlich starken
Liebeskummer und gleichzeitig war ihm bewusst, wie schwierig die Situation war.
Er war reich, aber auch viele Jahre älter als sie. Was ihn noch trauriger
machte, war die Vermutung, dass seine wertvollen Besitztümer, mit denen er alles
kaufen konnte, für sie keine große Bedeutung hatten. Christine schien ein
leichtes Verhältnis zu Geld zu haben. Sie sammelte ihre Almosen wie ein Kind,
das farbige Steinchen am Strand aufhebt, etwas damit spielt und sie dann
vergisst, unbeschwert heimläuft, um am nächsten Tag zum Strand zurückzukehren
und dort ohne irgendwelche Gedanken oder Erinnerungen, einfach in ihr Spiel und
die Gegenwart versunken, weiterzusuchen.
Paul dachte,
dass Christine, weil sie jung und möglicherweise leichtsinnig war, nicht an die
Zukunft dachte und nicht wusste, dass Geld schon Trost spenden kann, wenn man
nicht mehr jung ist, und dich niemand um deiner selbst Willen, wegen deiner
verblassten Schönheit, deiner verlorenen Kraft, sucht und liebt. Wenn man Geld
besonnen um sich verteilte, konnte man das erreichen, was man in der Jugend als
Geschenk erhielt. Paul kannte also seine Kraft, die auf Christine jedoch keine
Wirkung hatte. Dennoch lächelte sie ihn immer an, zeigte Interesse und
Zuneigung und ihm war bewusst, dass sie ungekünstelt, ehrlich und ohne jegliche
Berechnung war.
Er aß das Joghurt
auf und erhob sich, vom Widerhall eines Donners abgelenkt, vom Tisch und
blickte vom Balkon hinunter. Das Meer war dunkel und aufgewühlt, in ein
unendliches Schwarz gehüllt und verschmolz am Horizont mit einem sternenlosen
Himmel. Von Zeit zu Zeit wurde die Dunkelheit von wilden Blitzen durchzuckt,
schwindelerregende Winde brachten eine Wasserflut, rissen Zweige von den Bäumen
und trugen sie durch die Luft. Und auch in seinem Herzen stürmte es. „Ich bin
alt und allein, - dachte er, - aber ich habe einen Haufen Geld und weiß nicht
einmal, wem ich ihn hinterlassen soll, wenn ich sterbe… vielleicht der Gesellschaft
zum Schutz von streunenden Katzen. Wenn ich die Form wählen müsste, in der ich
wiedergeboren werde, - dachte er weiter, - würde ich am liebsten eine Katze
werden oder ein Zigeuner, wie Christine, ja, ein Zigeuner unter Zigeunern. Sie
haben nichts und nicht einmal Gedanken, streifen umher wie Vögelchen, erwischen
hier und dort ein paar Almosen und wenn die Kälte kommt, trifft sie sie
vollkommen, wenn der Schmerz auftaucht, werden sie davon eingenommen, aber wenn
die Freude, die intensivste Freude kommt, dann sind sie dafür nicht
unvorbereitet. Sie leben. Ich habe mich dagegen dreißig Jahre lang in ein Büro
eingeschlossen, habe keine Sonnenuntergänge und Morgenröten gesehen. Im
Frühjahr habe ich nicht dem Gesang der Vögel gelauscht und wurde auch von niemandem
geliebt. Sicher hatte ich Sex, ich bezahlte für die Liebe, auch die, die echt
schien. Ich war zu reich, um wirklich geliebt zu werden, und der Glanz meines
Reichtums verhüllte all meine anderen Eigenschaften. Niemand hat mich gesehen,
niemand hat in mein Herz geblickt und jetzt durchdringen mich die schwarzen
Augen einer Zigeunerin, sie erforschen mich, erkennen und lieben mich. Nur
liebt sie alle Menschen. Ich könnte irgendjemand sein und sie würde mich
genauso lieben“.
Paul trat auf
den Balkon hinaus und blickte nach oben. Zwischen den stürmischen Wolken
erschien ein Stern. Er beobachtete ihn aufmerksam und fühlte seine Einsamkeit
noch stärker. Dann schloss er die Fensterflügel, versuchte sich selbst zu vergessen,
obwohl ihm das nicht gelang. Tausend Gedanken drehten sich in seinem Kopf und
er fühlte einen Schmerz, hatte den Eindruck von Enge, von unerträglicher
Trennung von allem und jenem.
Paul gesteht Christine seine Liebe
Nach einer
schlaflosen Nacht kleidete sich Paul an und ging zum Frühstück hinunter. Dann verließ
er das Hotel durch das Tor und suchte Christine mit seinem Blick. Er fand sie bezaubernd
lächelnd im Hier und Jetzt verankert.
- Wo gehst du
hin? – fragte sie ihn.
- Ich weiß es
nicht, - antwortete Paul.
Die schwarzen
Augen von Christine musterten ihn und Paul fühlte sich ertappt und durchschaut.
Deshalb machte es Sinn, offen zu sprechen.
- Ich habe ein
Problem.
Der Gesichtsausdruck
von Christine wurde ernst und fragend.
- Was für ein Problem?
- Ich denke
immer an dich.
- Ja, und? – antwortete
Christine flüsternd.
- Ich denke
immer an dich, - wiederholte Paul sichtbar erregt.
- Komm nicht
mehr zu mir, - sagte sie entschlossen.
- Christine, du
weißt, dass das nicht geht. Sei nicht so hart zu mir. Ich muss mit dir sprechen.
- Schon gut.
Aber nicht hier auf der Straße.
- Wo und wann?
- Am
Nachmittag. Laufe am Strand entlang, bis du zu einer Barackensiedlung kommst.
Dort findest du auch meine Hütte: Sie steht unter dem Feigenbaum. Komm gegen
vier. Und jetzt geh, lass mich arbeiten, - sagte Christine leidenschaftslos,
lächelte ihn dann aber süß an und Paul freute sich darüber.
Er kehrte zum Margroz
zurück, verbrachte den Vormittag damit, mit einem Kellner Billard zu spielen
und aß dann in aller Eile ein warmes Mittagessen, ohne es besonders zu genießen.
Gleichzeitig stellte er sich Christine vor und dachte an das, was er ihr sagen
wollte. Er würde ihr jedes Gefühl, jede Hoffnung gestehen; er würde ihr sagen,
dass er sich des Altersunterschiedes und der kulturellen Verschiedenheiten
bewusst war, aber er würde auch versuchen, sie davon zu überzeugen, dass die
Liebe keine Grenzen kennt. Er würde ihr klare und reizvolle Angebote machen: Er
würde sie nach London bringen, ihr ein Bankkonto eröffnen, er würde ihr ein
schönes Haus und tausend Wertgegenstände geben. Dann dachte er allerdings, dass
es keinen Sinn machte, offen so viele Versprechen abzugeben. Christine konnte
beleidigt reagieren, aus Stolz verweigern, um sich nicht gekauft zu fühlen. Deshalb
würde er unaufdringlich sein, er würde ihr nur sagen, dass er sie sehr liebte
und dass er für sie zu jeglicher Verrücktheit fähig wäre und sie würde ihn
verstehen. Und dennoch betrachtete er nicht einmal diese zweite
Herangehensweise als von sicherem Erfolg gekrönt. Würde Christine das Unausgesprochene
verstehen? Wäre es dagegen, nachdem er mit einer Zigeunerin verhandelte, nicht
besser gewesen, die Versprechungen wegzulassen und sofort etwas Konkretes
anzubieten? Wie würde sie reagieren? Die Erfahrung, die Paul mit Frauen gemacht
hatte, brachte ihn zu der Überzeugung, dass einige und manchmal sogar die sehr
edelmütig wirkenden, insbesondere wenn es sich um eine stattliche Summe handelte,
der Macht des Geldes nie vollkommen gleichgültig gegenüber standen. Sicherlich
hatte sich Christine in Bezug auf Geld immer als desinteressiert gezeigt. Allerdings
glaubte Paul, dass es angesichts von wenigen Zehn-Euroscheinen keiner großen
Anstrengung bedurfte, sich unbeteiligt zu geben. Bei großen Summen wankt dagegen
so manches Ideal.
Paul bestellte
sich einen Kaffee. Er blickte durch die weitläufigen Glasfronten des
Speisesaals, beobachtete den Flug einer einsamen Möwe und kehrte dann zu seinen
Gedanken zurück. Sie waren ihm eine Last. Mit dem Wunsch sich von ihnen zu befreien
und um also vom Konzept zur Tat überzugehen, sprang er plötzlich auf und lief vom
Hotel direkt zur Bank.
Dann machte er
sich gegen drei Uhr nachmittags zur Bleibe von Christine auf.
Nachdem er die
asphaltierte Straße am Strand entlang gelaufen war, wagte sich Paul zu einer wilden
Umgebung mit Dünen und Schilf vor. Seine Schuhe versanken im nach dem großen Unwetter
der vergangenen Nacht noch feuchten Sand. Paul zertrat weiße Muscheln und von
den Wellen an den Strand geschwemmte Algen. Bei einem Dickicht von Büschen
hielt ein Kormoran seine Flügel ausgestreckt, als wollte er sie an der Sonne
trocknen. Dabei achtete er nicht auf das Eichhörnchen, das zwischen Steinen und
Gras nach Futter suchte.
Paul erblickte
schließlich den Lagerplatz der Nomaden, der zum Teil hinter einem Schilfdickicht
versteckt war. Er bemerkte einen majestätischen Feigenbaum und, ganz in dessen
Nähe, eine Holzhütte. Die Tür war angelehnt. Er klopfte, bekam aber keine
Antwort. So trat er ein und war über das plötzliche Miauen einiger Katzen
überrascht. Vor seinem Zutritt hatten sie sich beim Ofen zusammengekuschelt und
flohen jetzt erschrocken. Neben einem kleinen Holzbett mit einer Bettdecke gab
es klobige Regalböden, die mit verschiedenen, farbigen Gegenständen, wie
Muscheln, Zweiglein, Steinen, trockenen Blumen und anderem mehr gefüllt waren.
Inmitten des engen Raums stand dann ein rudimentärer Tisch, auf dem ganz offensichtlich
eine Bibel lag. Daneben legte Paul gut sichtbar ein Bündel großer Scheine, die
er aus den geräumigen Seitentaschen seines Mantels hervorzog. Neben dem Tisch
stand ein Schemel, auf den er sich setzte und wartete.
- Bist du schon
angekommen?
Paul drehte
sich um, als er die Stimme von Christine hörte. Die Katzen kehrten mit ihr miauend
in die Hütte zurück.
- Ciao, sind
das alles deine? – war alles, was er sagen konnte.
- Nein, wir
sind nur Freunde. Sie genießen gerne die Wärme des Ofens. Sieh her, ich stelle
sie dir vor.
Die Katzen
umrangen Christine, die sie streichelte. Ihre gebräunten Hände mit den gut
gepflegten Fingernägeln erschienen Paul jetzt wunderschön. Die langen und
kräftigen Finger bewegten sich mit sinnlicher Geschicklichkeit über das Fell
der Katzen, die das zu genießen schienen, einen Buckel andeuteten und den
Schwanz aufstellten.
- Dies ist
Simon Petrus und das ist sein Bruder Andreas, und dies ist Jakobus, der Sohn
des Zebedäus, der nicht hier ist. Und der da ist auch Jakobus, aber Sohn des Alphäus;
und dann haben wir Johannes, meinen Liebling; komm her, Johannes, du bist so
schön! Und das ist Philippus, und dann haben wir noch Bartholomäus, Thomas,
Matthäus, Thaddäus, Simon und… komm Judas, du Verräter! Ja, das ist Judas.
- Welch
sonderbare Namen für Katzen! Und wie kannst du sie dir alle merken?
- Das ist nicht
schwer, - sagte Christine ruhig. Dann klatschte sie in die Hände und die Katzen
sprangen auf den Tisch und kämpften dabei um den besten Platz neben der Bibel.
- Sie sind
wunderbar. Nur sie verstehen mich, - sagte Christine.
Paul schaute
sie verständnislos an.
- Ich bereite
dir ein heißes Getränk zu, - sagte sie. Sodann stellte sie einen kleinen Topf
voll Wasser auf den Ofen, öffnete dessen Klappe und legte Holzstöckchen hinein.
Danach setzte sie sich auf den Teppich und lud Paul ein, das gleiche zu tun.
- Würdest du
nicht gerne in einem Haus wohnen, Christine? – fragte Paul.
- Ich weiß
nicht... momentan ist das hier mein Haus. Aber Paul, hast du mir nicht etwas zu
sagen?
- Ja.
Jetzt fehlten
Paul die Worte. Er hatte ein starkes Gefühl, wusste aber nicht, wie er es
ausdrücken sollte.
Sie verharrten
einige Augenblicke lang in Schweigen. Paul betrachtete die Konturen ihres
Gesichts, dann sah er in ihre Augen. Sie erwiderte seinen Blick, worauf er
seinen sofort absenkte. Christines Augen waren durchdringend und hatten eine
magnetische Ausstrahlung, der Paul nicht standhielt.
Das Wasser im
Töpfchen begann zu kochen und Christine erhob sich, um Tee zuzubereiten. Dann
stellte sie die rauchenden Tassen auf den Boden.
- Wer bist du? –
fragte Paul sie, - du bist nicht wirklich eine Zigeunerin.
- Ich bin, das
genügt.
Paul bemerkte
Christines bezauberndes Lächeln, fühlte die Ruhe, die sie ausstrahlte, fasste
Mut und begann sich verständlich zu machen.
- Christine, du
bist eine außergewöhnliche Frau. Du bist nicht nur schön, sondern eine
faszinierende Blume und nun… wenn du es wissen willst, ich bin verrückt nach
dir.
Vom Tisch hörte
man ein Miauen.
- Kann ich frei
sprechen? - fragte Paul.
- Ja, achte
nicht auf Johannes. Sprich mit mir.
- Christine, für
dich bin ich zu allem bereit.
- Zu allem? Was
soll das bedeuten „zu allem”?
- Ich würde dir
alles geben, alles was ich habe.
Ein weiteres
Miauen wurde vom Tisch hörbar.
- Was haben
meine Kätzchen denn heute? – seufzte Christine.
- Johannes? - fragte
Paul.
- Nein, das ist
Judas. Jetzt meldet er sich auch. Er scheint aufgeregt.
Christine wendete die Augen dem Tisch zu und
bemerkte, dass Judas die Geldscheine von Paul beschnupperte. Es ergab sich eine
peinliche Stille. Christine sah in Pauls Augen und erhob sich vom Boden. Sie
erreichte den Tisch, nahm das Geld in die Hand und wog es stillschweigend.
- Ist das alles?
– sagte sie mit einem Klang in der Stimme, den Paul nicht entziffern konnte,
der ihn aber verwirrte. Er hätte geschworen, dass Christine beim Anblick des
Geldes, dieser stattlichen Summe, Freude, wenn nicht sogar Dankbarkeit gezeigt
hätte. Oder sie hätte so getan, als ob sie das Geld nicht bemerkte, um es dann
heimlich anzunehmen. Stattdessen fixierte sie Pauls Augen weiter. Die Situation
wurde für ihn anstrengend und qualvoll.
- Warum kommst
du nicht mit mir, - sagte er sanft zu ihr – bettle nicht mehr, mein Haus wird
zu deinem Haus, alle Dinge, die ich besitze, gehören dir, mein Schmuck, meine
Autos, meine Yacht, mein Garten mit überdachtem Pool und auch all mein Geld.
- Ist das alles? – wiederholte Christine verächtlich,
während sie das Geld wieder auf den Tisch legte. Ihre eiskalte Ruhe war
beängstigend. Dann wendete sie ihm den Rücken zu und begann, die Gegenstände
auf den Regalböden zu ordnen. Jetzt verhielt sie sich, als ob er nicht da wäre,
berührte und bewunderte einige schimmernde Muscheln, zählte sie, wog sie ab und
stellte sie fein säuberlich auf.
Paul errötete,
als ihm jetzt betrüblich bewusst wurde, dass seine Herangehensweise falsch war.
Er dachte, dass sie in ihrem Innersten das Geld vielleicht nicht verachtete,
wenn dies auch nicht die Art war, es ihr anzubieten. Deshalb war sie vielleicht
nur ernst geworden, um Haltung zu bewahren.
Christine drehte
sich um und wiederholte mit tiefer und klarer Stimme:
- Überdachter
Pool, Schmuck, Geld. Ist das wirklich alles, was du mir bieten kannst? Ist das
alles?
Die letzten
drei von Christine wiederholten und deutlich ausgesprochenen Worte, jenes „ist
das alles“, brachten Paul extrem aus der Fassung.
- Ja, ich werde
dir alles geben, - sagte er, - ich liebe dich.
Christine nahm
ein Holzstück vom Boden, schlug es heftig gegen den Ofen, so dass es in mehrere
Teile zerbrach, die sie aufsammelte und in das knisternde Feuer warf.
- Wenn du Geld hast, verleih es nicht mit Zins, sondern
gib es dem, von dem du es nicht zurückerhalten wirst! – schrie sie, - gib es dem, der dir keine Dankbarkeit zeigt, - sagte sie mit
einer wütenden Stimme, die Paul schwer traf.
Nach einem langen Augenblick emotiver Spannung
und nicht erwidertem Begehren, fühlte sich Paul jetzt im Innersten getroffen.
Wie den Besucher einer verlassenen Winterlandschaft, beschlich seinen Körper und
Geist ein Gefühl von Leere und Kälte. Er begann zu schwitzen und zitterte am ganzen
Körper. Es vergingen einige Sekunden, die ihm wie eine Ewigkeit erschienen. Er
senkte seinen Blick zu Boden und sah dann um sich.
Christine erschien kalt, distanziert und weit entfernt. Ihre Ferne wirkte
intensiv auf ihn. Er fühlte sich, als ob er wie ein im Meer versinkender Stein
darin unterging.
Die Stille
zwischen ihnen dauerte einige, sehr lange Sekunden an. Die Zeit nahm eine
sonderbare, andersartige, irreale oder für ihn in neuer Weise reale,
unverständliche Dimension an. Und in dieser Zeit begann ihn langsam schleichend
eine unsagbare, neue Empfindung zu
überkommen. Es war ein vollkommen ungewöhnlicher Eindruck, eine merkwürdige,
erleuchtende Eingabe. Er blieb regungslos geneigt auf dem Teppich. Er begriff
sich nicht, erkannte sich nicht wieder. Plötzlich begann er zu lachen und war
gleichzeitig überrascht über seine derartig jähe, innerliche Reaktion. Er
lachte über sich selbst. Alles was er gewesen war, seine Person, die
Vorstellung, die er von sich selbst gehabt hatte, alles, was er jahrelang in
sich, seinem Geist und Herzen, bewahrt hatte, alles, was er bis in die Hütte Christines
getragen hatte – jetzt schien ihm all das vollkommen lächerlich. Er war nie er
selbst gewesen, hatte nicht frei gelebt, sondern folgte den Werten seiner Zeit
und Umgebung. Diese Werte verloren nun urplötzlich Gradient und Kraft, sie
fielen von ihm ab und lösten sich wie eine alte Haut. Er fühlte sich wie ein
Todgeweihter, der in den letzten Augenblicken seines Lebens endlich dessen Bedeutung
begreift und dem gleichzeitig bewusst wird, wieviel Zeit er damit verloren
hatte, hinter Dingen herzulaufen, die ihm vorher sehr wertvoll erschienen und
die ihm jetzt, im Angesicht des Todes,
hohl und leer vorkamen.
Er traf erneut
auf den Blick Christines. Nun zeigte ihr Gesicht keine Spur des vorherigen
Wutausbruchs, sie war nicht mehr kalt und distanziert, sondern lächelte und
erschien schöner denn je. Sie verharrte in ihrer Stille und trank Tee. Ein
goldener Lichtstrahl fiel ihr mitten ins Gesicht. Der Raum in der Hütte, der
ihm vorher eng erschienen war, wirkte jetzt immer weiter und Paul blickte um
sich, als ob er aus einem tiefen und langen Schlaf erwacht wäre. Er fühlte sich
leicht, befreit und glücklich, sie intensiv zu betrachten und dennoch nun von
der Liebesqual oder von dem Gefühl, das er dafür gehalten hatte, erlöst zu sein.
Die Liebe... wieviele Milliarden Wörter hatten versucht, sie zu beschreiben! Wie
wenig wurde getan, um sie zu verstehen und zu realisieren! Die Liebe, die ihn
in den Himmel heben oder in die Tiefen hinabsteigen lassen konnte, war für ihn
eine Qual gewesen. Dagegen war jetzt eine sanfte und leichte Stille entstanden,
in der Paul eine eindeutige und starke, neue Vitalität seines Wesens verspürte.
So intensiv und gleichzeitig lieblich hatte er sie nie vorher empfunden.
Christine zeigte
sich weiterhin lächelnd. Ihre Glückseligkeit verbreitete sich rund um sie und
traf Paul in seinem Innersten. Er betrachtete sie aufmerksam, und sah ihr
Strahlen. Es überraschte ihn scheinbar nicht, dass ihr Kopf von einem weißen
Lichtschein umgeben war. Diese Wahrnehmung hielt nur einen Augenblick an. Dann
erschien ihm Christine wieder im normalen Mittagslicht.
- Geht es dir
gut? – fragte sie ihn sanft.
- Ja.
Entschuldige, ich war verrückt zu glauben, deine Liebe kaufen zu können.
- Sicher, du
musstest wissen, dass ich dich immer geliebt habe, obwohl du reich bist, - flüsterte
Christine ihm zu.
Paul sah in
ihre Augen. Jetzt konnte er ihrem Blick gut standhalten. Gemeinsam tranken sie
schluckweise ihren Tee in einer intensiven Stille weiter, die nur mitunter von
Johannes Miauen unterbrochen wurde. Judas hörte nicht auf, die auf dem Tisch
hinterlassenen Geldscheine zu beschnüffeln.
Christine und Mario
in Maregrosso
Christine und
Mario, die sich zur Gemeinde von Bulla begeben hatten, wurden vom Bürgermeister
höchstpersönlich empfangen, der sich erwähnenswerterweise selbst für die Armen
und Enterbten engagierte. So legten sie ihm also den Antrag für die Zuteilung
eines der neuen Häuser vor, die in der Nähe des Strandes von Maregrosso gebaut
wurden.
Nach Erhalt der
Unterkunft fing Mario, der etwas auf seine Unabhängigkeit fixiert war, sofort
an, ein Quadrat Bodens zu umzäunen und zu behacken. Dann gab er sich Zeit zum
Nachdenken. Er erstellte eine Liste mit allen Gegenständen, Möbeln und
Annehmlichkeiten, die sich in der ihnen zugeteilten Bleibe befanden, und
befreite sich schließlich, mit dem Rat und der Zustimmung Christines von all
dem, was er für überflüssig hielt. „Je weniger Dinge man besitzt, an desto
weniger Dinge denkt man“ war sein geistiges Motto, denn er wollte gern frei von
unnötigen Gedanken sein. „Ehrlichkeit braucht keine Schnörkel, und die Einfachheit
ist schon alleine ein großer Luxus, den sich nur wenige leisten können“, wiederholte
er weiter, während er einen Fernseher auf den Strand warf.
Der Strand von Maregrosso
war einst ein Ort voller Müll gewesen: Man fand hier Batterien, Autowracks, alte
Kühlschränke und Spülmaschinen, Bauschutt und verschiedene, unergründliche
unter anderem auch organische Materialien und vieles mehr. Den neuen
Gemeindeverwaltern war der derartig von Müll überquellende Strand so dreckig erschienen,
dass sie ihn frei räumen ließen. Und dennoch begingen sie dabei vielleicht
einen Fehler. Denn durch die Entfernung des Abfalls haben sie auch eine gewisse
Poesie des Orts beseitigt. Mario, der sich dessen bewusst war, warf den Fernseher
auf den Strand. Regen, Sonne und die Zeit würden ihn zerstören und für einen
poetischen Blick nutzbarer machen. Inzwischen lag er dort allerdings
unbeweglich in Meeresnähe. Mario schaute ihn sich an und sah die hellblauen Wellen
des Meeres, die sich auf dem Bildschirm spiegelten: Das beste Fernsehprogramm,
das ein menschliches Auge je gesehen und ein gesunder Geist je genossen hatte.
Dann kehrte er nach Hause zurück.
- Der
Bürgermeister hat uns viele dieser Dosen geschenkt, - sagte Christine, - was
enthalten sie?
- Zeig her, - antwortete
Mario, - es handelt sich um eine Flüssigkeit, die sie Orangeade nennen. Sie besteht
aus Wasser, Zucker, Kohlensäure, chemischem Extrakt, Konservierungs- und
Farbstoffen und zwei Prozent echtem Orangenfruchtfleisch.
- Ich dachte,
der Bürgermeister ist uns gut gesinnt. Er hat uns so anmutig empfangen und stattdessen
will er uns umbringen? Ich werde dieses Gebräu nie trinken.
- Du hast Recht.
Und denke nur an all die Arbeit, um den Stahl zu fördern, ihn in Dosen zu verwandeln,
um dann eine sonderbare Flüssigkeit dort einzuschließen.
- So viel Arbeit
und Energieverschwendung! Während man sich einfach eine Orange auspressen
könnte. Warum stellt man diese Dinge her, Mario?
- Die Industrie
hat ihre eigene Logik. Ihr ist es wichtig, immer irgendwelche Gegenstände herzustellen,
auch wenn das eine unnütze Verschwendung ist.
- Und die Gage akzeptieren diese Philosophie? - erwiderte
Christine.
- Sie denken
nicht einmal daran, sondern trinken synthetische Getränke. Sie kennen keine
unverfälschten Dinge.
- Denken sie
nicht?
- Sie denken
schon und auch sehr gut, aber nur die Dinge, die nach ihren Paradigmen und dem
Fernsehen, das ihnen ihre Gedanken beibringt, in ihren Kram passen. Und deshalb
brauchen sie alles auf und brauchen die Welt auf. Nun ja, was machen wir jedenfalls
mit diesen Klimaanlagen? - fragte Mario.
- Nichts,
entsorge sie. Wir brauchen sie nicht, weil wir nicht in einem Wolkenkratzer aus
Glas in New York mit kalten Wintern und heißen Sommern wohnen, - antwortete
Christine, - und ich leide nicht unter der Hitze – im Gegenteil – sie gefällt
mir, ich vertrage sie gut. Übrigens haben wir jahrtausendelang ohne
Klimaanlagen gelebt und jetzt… verbrauchen diese Dinger Energie und verursachen
den Treibhauseffekt.
- Das stimmt.
Wenn alle Familien der Welt eine Klimaanlage hätten, würde die Temperatur
unseres Planeten noch weiter ansteigen.
- Zum Glück
können viele sie sich nicht leisten.
- Das sind die
Armen. Die Armen retten den Planeten.
Man hörte an
der Türe klopfen.
- Wer wird das
sein? fragte Mario.
- Vielleicht
ist es Paul.
- Immer noch er?
Er verfolgt dich. Wie hast du ihn verzaubert?
- Überhaupt
nicht.
- Naja,
überhaupt nicht ist unmöglich. Du hast ihn verhext.
- Wenn ich das getan
habe, dann habe ich es gar nicht bemerkt.
- Genau. Du
bist dir deiner Kräfte nicht bewusst. Du hast ihn mit deinem magnetischen
Lächeln verhext und er folgt dir ständig auf Schritt und Tritt. Er hat London
verlassen, ist nach Sizilien gekommen, um mit uns zu leben und läuft dir
überall hinterher. Und er macht Notizen, aber was schreibt er? Übt er sich
jetzt als Schriftsteller?
- Ich weiß
nicht. Er schreibt alles was ich sage in ein Notizbuch. Allerdings kann ich den
armen Paul nicht wegschicken. Er ist alleine, wirklich alleine und dann hat er,
wie du weisst, sein ganzes Vermögen unseren Brüdern, den Armen, gegeben. Er hat
alles aufgegeben, um bei uns zu bleiben.
- Bei dir,
würde ich sagen.
- Schon gut,
bei mir, aber er stört mich nicht, er ist wie ein Sohn.
- Ein
fünfzigjähriger Sohn mit einer dreißigjährigen Mutter – ein schönes
Verwandschaftsverhältnis!
- Gewisse
Männer brauchen selbst mit hundert Jahren noch eine Mutter.
- Ganz
bestimmt! Und du hast dich zur großen Mutter aller gemacht, einschließlich
eines verrückten Gage.
- Was ist
schlecht daran?
- Vielleicht
nichts, solange er sich auf das Schreiben beschränkt.
ZWEITES KAPITEL
DAS NOTIZBUCH VON PAUL
Die Herkunft
In ihr war das
Bewusstsein, und dieses Bewusstsein war das Licht für die Menschen. Das Licht strahlte
in der Dunkelheit und die Dunkelheit hatte es noch nicht überkommen.
Dann
verdunkelte sich das Firmament und die Menschen verhüllten die Sterne mit
künstlichen Lichtern. Sie begannen, Kriege zu führen, zu kämpfen, zu plündern
und zu betrügen. Ihre Augen verschlossen sich und sie hörten auf, sich, ihren
Nächsten und die Natur wahrzunehmen. Das Bewusstsein starb.
Als aber die
Mutter all dies sah, hatte sie mit den Menschen Mitleid.
Es trat eine
auf, die die Mutter gesandt hatte: Sie hieß Sofia. Sie sollte Zeugin sein für das Licht.
Und nach Sofia kam das wahre Licht, das jeden
Menschen erleuchtet, der weise lebt und liebt.
Das Licht
begann in einer Frau von bescheidener Herkunft, in Christine, zu erstrahlen; und doch erkannte die Welt sie nicht.
Und das Bewusstsein
wurde Frau und lebte unter uns; und wir sahen ihre Herrlichkeit. Die Herrlichkeit
Christines, einer Tochter der Mutter, voller Harmonie und Mitgefühl.
Von Christine
erhalten wir Gnade über Gnade, und das Licht des bewussten Handelns kam durch
sie. Was die Mutter betrifft, so ist sie sichtbar, auch wenn viele blind sind.
Geburt von Sofia
Zurzeit von Euro,
dem König Europas, lebte ein Mann des Namens Kevala ganz alleine in einer Hütte
am Ufer der Donau, nicht weit vom Zigeunerdorf Calaràz entfernt. Er hatte immer
dort in der Natur gelebt, war inzwischen betagt und bedauerte, keine Nachkommen
gezeugt zu haben. Während er nun, in eine gelassene Betrachtung versunken, am
Flussufer entlang lief, geschah es, dass er über der Wasseroberfläche eine
Wolke erblickte, die sich öffnete und einen Engel freigab. Als Kevala ihn erblickte,
geriet er in Verwirrung und wurde von Furcht befallen. Aber der Engel beruhigte
ihn:
- Fürchte dich
nicht, - sagte er. – Dein Wunsch ist erfüllt worden: Eine Nomadin wird dir eine
Tochter geben, die du Sofia nennen wirst. Sie wird fröhlich und weise sein und
mit dir und wie du leben, nie getötete Tiere essen und berauschende Getränke zu
sich nehmen. Bereits in der Jugend wird sie voller Sattvischem Geist sein und während
sie sich unter das Volk mischt, wird sie viele zur Mutter zurückführen.
- Wie kann dies
geschehen? - antwortete Kevala. - Ich bin alt und seit langer Zeit habe ich
niemanden hier vorbeikommen sehen.
- Ich wurde
gesandt, dir diese gute Nachricht zu bringen, deren Wahrhaftigkeit du selbst erkennen
wirst. – Erwiderte ihm der Engel.
Dann enteilte er
in der Wolke, aus der er erschienen war und Kevala verblieb am Flussufer, um
über die gehörten Worte nachzudenken.
In der
Zwischenzeit hatte Cateluta, eine junge Nomadin, die von ihrer langen Reise
ermüdet war, in der Hütte von Kevala Zuflucht gesucht und lag träumend da, während
der Engel ihren Traum besuchte und zu ihr sagte:
- Freue dich
Cateluta, obdach- und sorgenlose Frau, die Mutter ist mit dir.
Während sie
schlief, erschrak Cateluta bei diesen Worten und begann bedeutungslose Dinge zu
flüstern.
- Fürchte dich
nicht, Cateluta, - sagte ihr der Engel, - denn du hast Gnade bei der Mutter
gefunden. Heute Nacht wirst du eine Tochter empfangen, du wirst sie nach neun
Monaten gebären und sollst ihr den Namen Sofia geben. Sie wird groß und Zeugin
des Lichts sein.
- Wie soll das
zugehen? - fragte Cateluta, aber der Engel verschwand.
Als Kevala in
die Hütte zurückkehrte, erblickte er dort die schlafende Nomadin. Weil er sie
nicht wecken wollte, wachte er über ihren Schlaf und legte sich dann zu ihr.
Nach neun
Monaten wurde ein Mädchen geboren, das Cateluta, die sich an ihren Traum
erinnerte, Sofia nennen wollte.
Sofia wuchs prächtig
und fröhlich heran und wurde kräftig. Dabei erhielt sie keinerlei formale Bildung.
Sie hörte die Lehren ihrer Eltern, aber auch die von Wind, Fluss, Wolken,
Bäumen, Rehkitzen und anderen Meistern, deren Erwähnung zu viel Raum einnehmen
würde. Und nachdem sie so viele Dinge gelernt hatte, wurde sie schließlich
weise und ihr Ruf verbreitete sich in alle vier Winde, so dass folglich viele
zu ihr kamen. Sie erbaten ihre Ratschläge und verbrachten sehr gerne Zeit in
ihrer Gegenwart. Dies hing auch mit den uns bekannten, verheerenden Ereignissen
zusammen, die viele dazu bewegten, sich grundlegende Fragen zu stellen, die
während der glanzvollen Zeit des Kapitalismus und des Finanzwesens
vernachlässigt worden waren.
Deshalb kamen
viele zu den Flussufern. Einige von ihnen blieben wenige Tage oder Stunden, sahen
Sofia und machten sich wieder auf den Weg. Andere blieben dort. Dies waren die
ernsthafteren und hartnäckigeren Suchenden, die über sehr bedeutende Themen
nachdachten. Sie fragten sich, ob sie, aufgrund des Besitztums vieler Güter,
technologischen Spielzeugs, sowie aufgrund des westlichen Reichtums zur
Blütezeit des Kapitalismus zu besseren Menschen geworden waren. Führte der Weg
der Glückseligkeit über Orte von Technik, Konsum und Besitz?
Sicher hat es
die echten Erforscher der Wahrheit immer gegeben. Allerdings wuchs jetzt ihre Zahl.
In ihrer Bemühung vor dem Chaos zu flüchten, das nun überall herrschte und von
einer neuen inneren Unruhe ergriffen, eilten sie in ihrer Hoffnung zu Sofia, um
von ihr eine Antwort zu erhalten und so Ruhe und Freude zu erfahren und zu
erlangen. In der Einsamkeit der wilden Natur, in der Sofia lebte, wurden sich
die Suchenden bewusst, welch große Illusion ihr Leben und ihre Tätigkeiten seit
jeher angeleitet hatte – diese große Illusion, die sie für die Wahrheit gehalten
hatten. Sie gingen zu Sofia und diese hörte ihnen schweigend zu und predigte in
aller Stille, während sie im Schatten einer hundertjährigen Eiche saß.
Schließlich wusste sie nur zu gut, dass jegliche Wahrheit, die in Worten ausgedrückt
wurde, wahrgenommen und interpretiert, aber auch sehr oft von der besonderen physischen
Konformation des Zuhörers verzerrt worden wäre.
Sofia hatte
jede Leidenschaft und jeden Wunsch nach den nichtigen Dingen der Welt
überwunden. Sie hatte sich von der Bürde ihres Ichs befreit und war eine gute
Frau.
Die Wissensbegierigen
gingen zu ihr und erhielten die Samen der Weisheit, die durch ihr Schweigen
kundgetan wurden.
Christine trifft Sofia
Seit ihrer Kindheit fragte sich Christine, ob
es irgendetwas gäbe, das nicht der Änderung unterlag. Mit dieser ihr
innewohnenden Frage kam sie zum Flussufer. Sie erblickte die in Beschaulichkeit
versunkene Sofia. Nachdem sie nicht zu sprechen wagte und das Schweigen brechen
wollte, das die Atmosphäre durchdrang, setzte sie sich neben die weise Frau.
Ein leichter
Wind, der vom Gesang der Vögel beschwingt wurde, rauschte zwischen den Blättern
der Bäume. Christine betrachtete das vertiefte und glückliche Gesicht von Sofia,
während Sofia die Einsamkeit eines Herzens wahrnahm, das die Wahrheit sucht.
Dann begann Sofia zu sprechen:
- Willkommen
Christine. Dein Erscheinungsbild ist das einer kleinen Frau, du hast aber eine
große Seele. Dein Licht, das du noch nicht kennst, stammt direkt vom
leuchtendsten Stern des Himmels.
- Hallo, - war
alles, was Christine sagen konnte.
- Was suchst du?
– drängte Sofia.
- Ich trage
eine gewaltige Frage in meinem Herzen, die ich nicht in Worte fassen kann, die
aber einer klaren Antwort bedarf. Ich hoffe, dass du sie mir geben kannst,
Sofia.
- Was du
suchst, lebt bereits in dir. Es kann nicht mehr von Worten eingegrenzt werden,
sondern bleibt hier und die naheliegende Antwort wird sich zeigen.
Die Initiation von Christine
Sofia war
einfach gekleidet. Sie trug keine modischen Designerstücke und dennoch
erglänzte ihre Schönheit vor den Menschen. Sie fuhr nicht mit dem Auto zum
Supermarkt, sondern nährte sich von den Früchten des Gemüsegartens, von
Kräutern und wildem Honig.
Dann kam der
Augenblick, in dem diejenigen, die ihr folgten, darum baten, in die Geheimnisse
eingeweiht zu werden und Sofia sagte ihnen:
- Ihr seid hier
und seid euch der Übel der Welt, der Begierde und Grauen von Euro bewusst. Ihr
kennt den Klimawandel, die Wüstenbildung, die Kommerzialisierung der
menschlichen Beziehungen und ihr seid willkommen. So führe ich euch also in das
Geheimnis des Friedens ein und zeige euch die Weisheit, die von Erde und
Himmel, von unserer Mutter stammt, die das Eine ist. Aber, die die nach mir
kommt, steht über mir und wird euch den Sattvischen Geist geben.
Dann ging
Christine zu ihr, um die Initiation zu erhalten, aber Sofia sagte ihr:
- Ich müsste
die Initiation von dir erhalten und du kommst zu mir?
Aber Christine antwortete
ihr:
- Erfülle deine
Aufgabe, die vor dem Willen der Göttin gerecht ist.
Da gab Sofia nach
und führte sie in die Geheimnisse ein und gleichzeitig öffnete sich der Himmel
und zahllose, fröhlich zwitschernde Spatzen flogen herbei. Und eine Stimme
erklang aus Wald, Fluss, Erde und Himmel: „Dies ist meine Tochter, ihr gilt
meine Liebe, wie ich euch alle, meine Brüder und Schwestern, meine Söhne und
Töchter liebe”.
Nachdem
Christine sich lange bei Sofia aufgehalten hatte, kehrte sie in ihr Dorf zurück
und lebte einige Jahre dort. Sie wurde von allen wegen ihrer sanften Art, ihres
großzügigen Herzens und ihrer weisen Worte geliebt, während sie vor der Mutter
und den Menschen an Wissen und Gnade gewann. Nachdem sie ihr Haus verlassen
hatte, begann sie bettelnd durch die Welt zu wandern.
Christine trifft den reichen Mann
Während Christine
auf der Straße bettelte, hielt einer an, der einen großen Geländewagen fuhr und
sie fragte:
- Schöne
Zigeunerin, ich sehe dich glücklich lächeln, auch wenn du arm bist. Sag mir
also, hast du Drogen genommen? Oder was macht dich sonst fröhlich?
Christine antwortete
ihm:
- Du nennst mich
Zigeunerin, ich bin aber eine Romni, mit anderen Worten ein menschliches Wesen,
und als solches habe ich meine Würde. Und was meine Armut betrifft, so sag mir
du, reicher Mann, welcher Religion du folgst?
- Ich bin Christ.
- Und warum
wirst du dann nicht arm und folgst dem Beispiel unseres Herrn?
- Schöne Zig... ich
wollte sagen, schöne Romni, sicher macht dich nicht deine Armut glücklich. Sag
mir lieber, was wirklich hinter deinem Zustand steht.
- Warum fragst
du das? Suchst du auch nach dem Glück?
- Sicher, wir
suchen es alle und es ist schwer zu finden.
- Man sucht das
Glück und findet es manchmal auch, oder glaubt, es zu finden und möchte, dass
es anhält. Allerdings ist der Frieden größer als das Glück. Suche vor allen
Dingen nach dem Frieden.
Der Reiche
runzelte die Stirn. Christine sah, dass er sehr elegant war. Wie einer, der
sich zu oft wäscht, hatte er einen künstlichen Duft an sich. Auf seinem Hemd
war eine Marke sichtbar. Unter der Brusttasche der Jacke war ein Name aufgedruckt,
wie er ebenfalls auf Hose, Schuhen und vielleicht auch auf seiner Unterwäsche erkennbar
war.
- Welcher
dieser Namen ist deiner? - fragte Christine.
- Keiner. Dies
sind die Namen großer Modeschöpfer.
- Warum trägst
du ihren Namen am Leib? Hast du selbst keinen?
- Sicher, aber
es gefällt mir, Designer-Kleidung zu tragen.
- Mein Glück
kommt nicht von außen, - sagte Christine, - oder von den Dingen, die ich trage,
sondern von innen.
- Ja,
vielleicht, aber was ist der Grund dafür? – warf der Reiche ein.
- Du vermutest,
dass es einen Grund für das Glück geben muss, das dagegen für sich alleine
besteht.
- Willst du sagen,
dass du aus einem natürlichen Grund glücklich bist?
- Beseitige die
Ursache und entferne die Hindernisse.
- Erkläre dich
besser.
- Wenn der Wind
die Wolken wegbläst, die den blauen Himmel bedecken, erblickst du die Unendlichkeit,
die aber schon immer da war.
- Und welche
Hindernisse musstest du wegnehmen, um glücklich zu sein?
- Dein Herz
liegt außerhalb von dir, in deinen Reichtümern, „denn dein Herz wird immer dort
sein, wo du deinen Schatz hast“. Du bist reich, aber eines fehlt dir: Geh,
befreie dich von allem, einschließlich deines grauenvollen Geländewagens. Oder
besser noch: Verschrotte ihn, damit ihn niemand anders verwenden und die Erde
damit verschmutzen kann. „Verkaufe alles, was du hast, und gebe das Geld den
Armen und du erhältst einen Schatz im Himmel“.
- Dies sind
schöne Worte, aber die Welt funktioniert nicht so. Es wäre ein echter Wahnsinn,
mein Vermögen den Armen zu geben und selbst arm zu werden. Die Armut ist keine
schöne Sache, meine Liebe, und nicht einmal die Armen wüssten, was sie mit
einem Schatz im Himmel anfangen sollten.
- Du hast
gesagt, dass du ein Christ bist. Nun gut, ich sage dir nochmals, folge deinem
Meister, „sehe dir die Vögel des Himmels an! Sie säen nicht, sie ernten nicht,
sie sammeln keine Vorräte – aber euer Vater im Himmel sorgt
für sie. Sieh, wie die Blumen auf den Feldern wachsen! Sie arbeiten nicht und
machen sich keine Kleider, doch ich sage dir: Nicht einmal Salomo bei
all seinem Reichtum war so prächtig gekleidet wie irgendeine von ihnen“.
- Man muss
nicht das ganze Evangelium wörtlich nehmen, meine Bettlerin. Die Zeiten haben
sich geändert. Es stimmt schon, dass die Blumen auf den Feldern nicht arbeiten
und an morgen denken, aber das kannst du nicht zu einem Armen sagen. Er braucht
viele Dinge!
- Du bist reich
und denkst nicht an die Armen. Dein Reichtum beleidigt ihre Armut.
- Ich habe
zugepackt, meine Schöne, mein Geld kam nicht vom Himmel geflogen. Ich habe
gearbeitet. Auch ich war arm, ich habe aus dem Nichts begonnen, und meine
ganzen Besitztümer wurden mir nicht geschenkt.
- Und bist du
zufrieden?
- Ich würde
nicht gerne wieder arm werden.
- Nachdem du
jetzt so viele äußerliche Dinge besitzt, kannst du dich deiner Innerlichkeit
bewusst werden. Befreie dich vom unnützen Gewicht deiner Reichtümer, und auch
von dieser deiner Bewegungsprothese, deinem Geländewagen. Und befreie dich ebenso
von der Zeit, deinen sich wiederholenden Gedanken, von jeglichem Wunsch nach
unnötigen Dingen. Befreie dich vor allem von dem Wunsch, jemand sein zu wollen
und für deine Besitztümer bewundert zu werden.
- Wir können
uns weder von der Zeit, noch von unseren Wünschen befreien. Das ist unmöglich,
schöne Zig… schöne Frau. Vielleicht wünschst du dir kein Auto wie ich es habe,
aber sicherlich hast du andere Bestrebungen, oder etwa nicht?
- Man muss die
Grundbedürfnisse befriedigen. Allerdings können wir ohne induzierte Wünsche
leben. Beseitige sie und pflege dieses Bewusstsein. Es sind die Wünsche, die
die Zeit erschaffen und wenn du sie beseitigst, findest du dich in der Fülle
der Gegenwart wieder.
Als der Reiche
diese Worte hörte, verdunkelte sich sein Gesicht.
- Du bist
glücklich, weil du verrückt bist. Ich hatte es gut erfasst: Du bist eine
verrückte und etwas philosophische Zigeunerin, - sagte er ärgerlich und
startete seinen Geländewagen.
Christine blieb
alleine zurück und begann wieder zu betteln.
Er, der von
tausend Dingen, von tausend Wünschen besessen ist, er, der vielen Gütern
hinterher hetzt und der wie ein Kind, das den Pferdchen des Karussells folgt,
vielen Dingen nachläuft, wird nur schwerlich froh sein können, - dachte sie. Zweifellos
„kommt eher ein Seil durch ein Nadelöhr als ein Reicher - mit seinem
Geländewagen - in das Himmelreich”.
Segnung eines Baumes
Nun geschah es,
dass Christine und einige ihrer Bettlerfreunde an einem Spätnachmittag, als die
Sonne ihre Reise beendete und in ein unendliches und ruhiges Meer eintauchte,
müde und hungrig zu ihrem Lagerplatz zurückkehrten. Und sie erblickten einen
Feigenbaum, der üppig am Straßenrand wuchs. Da näherten sie sich voller
Hoffnung, sahen aber, dass er keine Früchte trug, was sie sehr bedauerten. So
kam es also, dass ein Nomade, der seinen Hunger noch weniger als die anderen
zügeln konnte, zu Christine sagte:
- Meine Liebe,
du siehst sehr gut, dass dieser Baum keine Früchte trägt, während wir hungrig
sind. Fällen wir ihn also und machen wir ihn zu Brennholz.
Christine runzelte
die Stirn und antwortete folgendermaßen:
- Du Narr!
Weißt du denn nicht, dass dies nicht die Jahreszeit der Feigen ist? Und im
Übrigen haben wir nicht das Recht, diesen Baum zu fällen. Wir sind weder die
Herren der Welt, noch sind wir von dieser losgelöst und wenn wir die Natur
zerstören, zerstören wir uns selbst. Die Bäume sind unsere Brüder, sie sind
Söhne und Töchter unserer gleichen Mutter, die alles erschafft und für alles
sorgt.
Und an den Baum
gewandt sagte sie dann:
- Bruder Baum,
du trägst noch keine Früchte, aber du spendest uns Schatten und Sauerstoff und
bist schön anzusehen. Du bist Teil eines Ganzen, das wir anerkennen und ehren.
Gesegnet seist du.
Sofort danach
bewegten sich die Blätter des Baumes und zeigten große und reife Feigen. Christine
pflückte sie und bat sie ihren Freunden an. Und als sie dies sahen, staunten
sie und sagten:
- Warum hat der
Feigenbaum so plötzlich Früchte getragen?
Christine
antwortete ihnen:
- Wahrlich ich
sage euch, wenn ihr an die Mutter glaubt, wenn ihr versteht, dass auch die
Bäume, wie die Tiere, die Berge und alles was unter der Sonne lebt, ihre Kinder
sind, dann wird sich die Mutter um euch kümmern
und wird euch nähren. Denn alles was ihr vertrauensvoll von der Mutter
erbittet, wird sie euch zugestehen. Und wenn ihr euch wünscht, dass die Bäume
und auch die Berge bleiben, wo sie sind, und nicht von Sägen und Raupen
entweiht werden, dann werdet ihr erhört werden.
Christine und der traurige Mann mit den verschleierten
Augen
Während Christine
vollkommen leichtblütig bettelte, erhielt sie ein Almosen von einem Mann, der
traurig war, weil seine Augen von einem Schleier bedeckt waren. Er sagte zu
ihr:
- Du glückliche
Zigeunerin, du lebst in deinen Tag hinein, ohne an die Vergangenheit zu denken
und deine Zukunft zu kennen, während ich traurig bin und mich meine Traurigkeit
umhüllt, wie die Erde im Winter von einem Mantel aus Schnee umhüllt wird. Und
ich weiß nicht, wie ich mich davon befreien kann.
- Wenn du
Freude verspürst, möchtest du sie festhalten. Wenn du Traurigkeit fühlst,
möchtest du sie von deinem Herzen wegjagen und dabei härmst und täuschst du
dich oft unnötigerweise, mein Bruder. Verstehe dagegen die Ursache deiner Verstimmtheit
und befreie dich davon. Und begreife, dass die neun Seelenzustände nicht
dauerhaft sind, - antwortete Christine.
- Was sind die
neun Zustände von denen du sprichst?
- Sie heißen
Traurigkeit, Heiterkeit, Gier, Hass oder Gewalt, Angst, Überdruss,
Befremden, Depression oder Verzicht sowie Erregtheit oder
Forschheit. Diese Zustände sind
wie die Jahreszeiten. Sie dauern solange es Sinn macht und vergehen dann und
jeder Jahreszeit folgt eine weitere. Du fühlst diese Zustände, aber bist nicht
das, was du fühlst. Werde dir bewusst, wer du bist.
- Du drückst
dich gut für eine Zigeunerin aus, - antwortete der traurige Mann, - aber ich
wüsste wirklich nicht, wie ich mir bewusst werden soll, wer ich bin.
- Beobachte
einfach deine vorübergehenden, inneren Zustände und blicke dann in die Tiefe,
in dich hinein. In dir wirst du einen Samen finden, der eine Frucht der Freude
werden könnte.
- Ich blicke
oft in mich hinein, - antwortete der Mann, - und erblicke nichts als Gedanken
und Schmerzen. Den Samen der Freude, von dem du sprichst, sehe ich jedoch
nicht. Bist du sicher, dass du dich auf etwas Reales beziehst?
- Erforsche den
Grund deines Herzens, wo sich der kleinste Samen versteckt, der das ganze Universum
umfasst. Wenn du ihn findest, berühren dich die oberflächlichen Dinge sowie die
Traurigkeit nicht mehr.
- Meine
Traurigkeit ist nicht oberflächlich. Vielmehr ist sie ein tiefer Schmerz, - sagte
der Mann.
- Der echte
Schmerz berührt den Menschen und beugt ihn, er vergießt bittere Tränen und
wendet sich an die Mutter, die ihn tröstet. Allerdings kann der Ich-bezogenen
Traurigkeit kein Trost gespendet werden, - sagte Christine.
Der traurige
Mann begriff nicht und schwieg. Christine hatte Mitleid mit ihm.
- Wenn du den
Samen nicht in dir siehst, - fuhr sie fort, - dann richte deine Aufmerksamkeit
nach außen. Sehe dir zerstreuende Fernsehprogramme an, oder gehe ins
Einkaufszentrum, betrete die Geschäfte und kaufe tausend Dinge und deine Traurigkeit
wird vorübergehend gelindert sein.
- Ich werde deinen
Worten folgen, denn nun sprichst du eine verständliche Sprache, - sagte der traurige
Mann und machte sich auf den Weg zum Einkaufszentrum.
Ein Nomade fragte
indessen Christine:
- Du predigst
Armut und dann schickst du den traurigen Mann zum Einkaufszentrum?
- Auch wenn die
Engel des Himmels kämen und die Wahrheit zeigten, so würden die Menschen sie
nicht sehen, weil ihre Augen von einem Schleier bedeckt sind. Der
technologische Mensch kann nur seinem Schicksal folgen, durch die
Einkaufszentren ziehen, ausgeben und erwerben, erwerben und konsumieren. Wenn
dann alles konsumiert und der Boden steril sein wird, so werden sich seine Augen
öffnen und er wird sehen, - sagte Christine.
- Was? - fragte
der Nomade.
- Er wird sehen,
- antwortete Christine, - und dann gibt es nur noch Heulen und Zähneknirschen.
Christine und die Nomaden
Christine durchlief die Straßen
und die Kunde von ihr verbreitete
sich. Viele Menschen, die traurig, von wiederkehrenden und unnützen Gedanken
besessen waren, wendeten sich an sie und sie erfreute ihre Herzen und heilte
sie mit einem Lächeln. Auch zahlreiche Nomaden begannen ihr zu folgen und mit
ihr zu betteln.
So geschah es,
dass Christine während sie am Strand von Maregrosso entlang wandelte und viele Nomaden
um sich herum erblickte, auf ein Autowrack stieg, zu sprechen begann und ihnen
Folgendes lehrte:
- Meine lieben
Schwestern, meine lieben Brüder, „Die Wölfe haben ihren Bau und die Vögel ihr Nest”; aber wir armen Obdachlosen haben kein Haus. Auch
unsere Väter und unsere Mütter schweiften umher, wie Leto, unsere Urmutter.
Selbst als Leto schwanger war, wurde sie, wohin sie auch ging, von den Gage weggejagt und fand keinen Ort, um
ihre Kinder zu gebären und irrte herum, ohne jemals Ruhe zu finden. Schließlich wurde sie am Strand von Maregrosso, der immer
von allen verlassen und zu einer Müllhalde gemacht worden war, von den Hunden
und Wölfen aufgenommen. Um der Verfolgung der Gage zu entgehen, nahm Leto die Form einer Wölfin an und brachte
ihre Kinder zur Welt. Wir sind ihre Nachkommen, wir sind arm, aber nicht erbärmlich,
weil wir alles haben, was wir wirklich brauchen. Wir sind arm und dennoch sind
wir keine Sklaven vieler unnötiger und schädlicher Dinge. Wir verlagern uns
nicht auf unnütze äußere Gegenstände und wir haben uns frei von induzierten
Wünschen verwirklicht – in uns selbst und in unserem Frieden. Unser Reichtum
ist echt, wir sind Fürsten und Kaiser. „Wenn ihr die reichsten Menschen der
Welt betrachtet, die voller Gier sind, so seht ihr nur Bettler, weil die Gier
zum Bettler macht. Dagegen kann es geschehen, einen echten Bettler zu treffen
und einen Kaiser zu sehen“.
Wir sind reich
und glücklich, weil uns auch viele gelehrte Worte, Worte der Politik fehlen,
die nur als Instrument zur Ausnutzung des Menschen durch den Menschen dienen.
Wir sind reich und glücklich, weil wir alles, was wir haben, nämlich unser
Leben hier und jetzt, besitzen und in vollen Zügen genießen. Dieser flüchtige
Augenblick an diesem Strand von Maregrosso ist unser ganzer Schatz, den wir
nicht anhäufen können, weil alle echten und lebendigen Dinge weder angehäuft
noch besessen werden können. Sie sind wie die Wogen des Windes.
Ihr Obdachlosen
seid das Salz der Welt. Verliert nicht euren Geschmack. Ihr Armen seid das
Licht, aber die Welt zerstört sich selbst durch den Wahnsinn des Konsums. „Freut euch und jubelt, denn im Himmel erwartet euch
reicher Lohn“ und das Himmelreich ist hier, in unserem
Herzen.Wenn ihr mich liebt, so passt euch also nicht der Welt an. Wenn ihr meine Stimme hört, so hört auf, miteinander zu kämpfen, wie dies die Gage tun. Sie waren bereits vor dem technologischen Zeitalter unglücklich und sind es heute noch. Einst mordeten sie mit Keulen und jetzt töten sie mit intelligenten Bomben. Ihr meine Freunde lebet jedoch in Frieden und widmet euch in eurer Freizeit der Betrachtung und Freude.
Das zweite Treffen mit dem reichen Mann
Während sie
aber so sprach, näherte sich ihr ein armer Mann, der sie mit harten Worten
anfuhr:
- Verrückte
Zigeunerin, ich kam einst zu dir und fragte dich, warum du glücklich bist. Du
schlugst mir vor, arm zu werden, mein Vermögen und Geld loszuwerden, was ich
dann auch tat. Dennoch bin ich jetzt nicht glücklich. Im Gegenteil, niemand
achtet mich. Wenn sie mich vorher liebten und respektierten, so behandeln sie
mich nun schlechter als einen räudigen Hund. Meine Frau hat mich verlassen, meine
Kinder erkennen mich nicht an, meine Freunde haben mich fallen gelassen und schämen
sich für mich. Jetzt bin ich wegen meiner Armut unglücklich. Ich habe alles
verloren und stattdessen nichts gewonnen. Ich bin nichts und niemand und habe
meine Identität verloren.
Christine hörte
ihm zu und hatte Mitleid mit ihm.
- Alles, was du
verloren hast – sagte sie ihm, - war wertlos. Die Leute liebten nicht dich,
sondern dein Geld und deine Frau hatte nicht dich, sondern deine
Wirtschaftslage geheiratet. Deine Kinder erkennen dich nicht an, weil sie nur
die geläufigen Ideale kennen und deine Freunde waren falsch. Nun ziehst du
ärmlich durch die Gegend und sie behandeln dich respektlos, weil im Reich von
Euro nur Geld und Macht Respekt
einflößen. Wenn es Gerechtigkeit und Solidarität gäbe, hättest du kein Problem.
Aber es gibt wenig Menschlichkeit und viele Menschen sind zu geldgierigen
Hunden geworden, die nichts anderes sehen. Lass also zu, dass sich die Hunde
untereinander zerfleischen. Suche den Umgang mit echten und ehrlichen Menschen
und bleibe alleine, wenn du sie nicht findest. Es ist besser alleine, als von
Falschheit umgeben zu sein.
- Was mache ich
alleine? Das Geld reicht mir nicht einmal zum Überleben.
- Du könntest
betteln oder dir irgendeine Arbeit suchen. Was hast du vorher gemacht?
- Ich war
Finanzfachmann und bewegte Kapitalgüter.
- Das verstehe
ich nicht. Was willst du damit sagen?
- Ich saß vor
einem Computer und drückte Tasten, kaufte Aktien und verkaufte sie mit Profit.
Ich spekulierte und verdiente viel Geld.
- Und woher
kamen deine Gewinne? Hast du nichts produziert?
- Nein,
Finanzfachleute produzieren nichts.
- Aber die
Dinge, die du mit dem so gewonnenen Geld
kauftest, mussten doch von irgendjemandem produziert werden, oder?
- Sicher.
- Folglich
hattest du Güter gekauft und angehäuft, die mit der Arbeit anderer produziert
wurden?
- Das ist die
Welt des Finanzwesens.
- Willst du
also damit sagen, dass du ein Dieb warst?
- Du bist eine
Zigeunerin und hast keine Ahnung, wie diese Dinge laufen. Allerdings weiß ich,
dass ich, als ich deinem Rat und Charisma folgte, oder sagen wir besser, als
ich von dir hypnotisiert war, verrückt war, alles den Armen zu spenden.
- Du hast ihnen
zurückgegeben, was dir nicht gehörte.
- Egal, ob ich
es gespendet oder zurückgegeben habe. Tatsache ist, dass ich nicht glücklich
bin und keine Existenzgrundlage habe.
- Was kannst
du, außer legal zu rauben? Kannst du etwas bauen? Kannst du malen, schreiben,
Bäume beschneiden, Zucchini anbauen? Kannst du stricken oder beherrschst du ein
Musikinstrument? Wenn du Akkordeon oder Geige spielen könntest, könntest du mit
uns kommen und auf der Straße auftreten. Dabei verdient man sich sein tägliches
Brot.
- Ich kann
nichts.
- Du könntest
trotzdem mit uns kommen.
- Aber wäre ich
glücklich? Die Gleichung aus Armut und Glück, die du predigst, scheint mir doch
recht sinnlos. Die Armen sind nichts.
- Die
materielle Armut ist keine Tugend, wenn ihr der innere Reichtum, eine Bedeutung
und ein Wert fehlen, die aus deinem Inneren kommen.
- Ein imaginärer
Wert.
- Diese
Wahrheit können nicht alle begreifen. Einige erahnen sie und leben glücklich
mit wenigen Dingen. Dagegen suchen andere, die von den gängigen Werten hypnotisiert
sind, das Glück des Egos. Sie durchlaufen einen Weg, der sie ihrer Meinung nach
zum Guten führt. Aber wenn sie vieles erprobt und großen Reichtum und Ruhm angehäuft
haben, werden sie alt und begreifen, wenn sie noch im Licht ihrer Seele
verbleiben, dass jede Errungenschaft, jede Erfüllung des Ichs nichtig ist und
dass alles endet. Dann werden sie die Augen öffnen und sich an unsere
barmherzige Mutter wenden und sie wird ihnen Seelenruhe schenken.
- Ich werde
mich an deine Mutter wenden, wenn ich alt bin. Jetzt möchte ich meinen Reichtum
zurückgewinnen und mich vergnügen. Lebe wohl, Zigeunerin! – sagte der Mann
spöttisch.
- Jeder braucht
seine Zeit und die Göttin gewährt ihre Gnade im rechten Augenblick, - sagte
Christine. Aber der Mann war bereits weggelaufen und hörte sie nicht mehr.
Christine wird vom Arzt untersucht
Nein, nein, auf
dieser Welt kann man nicht glücklich und unbeschwert sein. Neider glaubten,
dass sich dahinter so etwas wie ein dunkles, von den Vorfahren geerbtes Leiden
verbarg. Sie dachten, dass die Glückseligkeit von Christine eine Krankheit war,
die geheilt werden musste. Die grausamen und blinden Gage hatten Christine von einem Psychiater untersuchen lassen, der
ihre mutmaßliche Abnormität erkennen sollte. Dieser hatte ein Vorurteil gegen
Nomaden und begriff von Anfang an nicht, warum Christine glücklich, gut gelaunt
und zu allen, auch zu ihm, freundlich war, während er sie kaum höher als ein
Tier einschätzte. Allerdings sind Tiere nicht glücklich. Sie leiden nicht nur
wegen der Hiebe ihrer grausamen Besitzer, sie leiden auch wegen ihren eigenen
Empfindungen, den Begierden und Leidenschaften ihres Lebens. Und so begriff der
Arzt nicht, warum Christine nicht ebenso leiden musste. Dennoch hatte er auch
Tiere mitunter als selig und gedankenlos in der Gegenwart verankert beobachtet.
- Arme
Zigeunerin, - sagte er zu ihr, - aus welchem Grund bist du so glückselig?
Christine
antwortete aber nicht und lächelte weiter. War sie vielleicht dumm? Der
Psychiater glaubte, dass die Natur zuweilen sonderbar war und dass man sich
keine Gedanken machen sollte. Er dachte, dass die Freude eine Störung der Seele
war und sagte zu sich selbst: „Diese arme Zigeunerin muss etwas anomal sein,
aber was richtet sie im Endeffekt an? Auch Esel sind so, dem gleichen Gesetz
des Schicksals unterworfen. Einige hört man störrisch und traurig schreien,
während andere dagegen schreien als würden sie singen und man sieht ihnen an,
dass sie glücklich sind. Solche Esel! Jedoch sind Anfälle von Glück nie von
langer Dauer. Früher oder später wird alles wieder normal. Christine soll in
Ruhe gelassen werden, wenn sie glücklich ist. Die Natur muss ihrem Verlauf folgen
können. Das gilt auch für eine junge Frau. Das Leben wird sie dann schon heilen”.
Hier täuschte
er sich jedoch, denn für Christine gab es keine Heilung.
Wo ist deine Mutter?
- Du machst
dich über die Leute lustig. Dein Lächeln ist nicht echt.
Christine antwortete:
- Mein Lächeln
ist der Ausdruck meiner innigen Freude, die ich kenne und ich weiß, woher es
kommt. Ihr dagegen erkennt mich nicht. Ihr seht mich nach euren Vorurteilen,
aber ich kümmere mich nicht darum, weil ich nicht alleine bin. Ich bin mit der
Mutter, die mich geschickt hat.
- Wo ist deine
Mutter? – fragten sie sie.
- Ihr seht mich
nicht, und gleichzeitig kennt und respektiert ihr auch die Mutter nicht, die
mich stützt. Wenn ihr mich sehen würdet, würdet ihr die Mutter ebenfalls sehen.
- Wir sehen
dich ganz gut, elende Bettlerin. Die Mutter, von der du sprichst, sehen wir
allerdings nicht, weil sie nicht existiert. Sie ist das Ergebnis deiner Einbildung.
- Ihr seht nicht, weil ihr euch gegenüber dem
Einen verschließt. Es gelingt euch nicht, den gleichen Blick für Gold und
Steine zu haben. Eure Augen betrachten vielfältige Formen, während die Mutter,
die ihr nicht kennt, das Eine ist, aus dem diese Formen entstehen und zu der
sie zurückkehren. Und aufgrund eurer Unwissenheit erscheint das Eine in
Mannigfaltigkeit. Ich offenbare euch die Mutter und ihr erkennt sie nicht, weil
ihr weder den Frieden, noch die Weisheit und Freude kennt, die von ihr kommen.
Christine sprach
diese Worte, während sie am Eingang einer großen Bank von Euro bettelte. Niemand
rief jedoch die Polizeikräfte, um sie zu verhaften, „weil ihre Stunde noch
nicht gekommen war“. Einige sagten allerdings:
- Wer ist diese
Frau? Sie kleidet sich wie eine Zigeunerin, spricht aber mit der Sicherheit
einer Prinzessin.
Andere meinten:
- Diese Frau
ist zweifelsohne eine Prinzessin.
Wieder andere
sagten dagegen:
- Sieht man
Prinzessinnen im Fernsehen nicht in Königspalästen wohnen? Diese Arme wohnt dagegen
auf der Straße.
Und ein Reicher
sprach daraufhin:
- Lasst euch
nicht von dieser Zigeunerin täuschen. Sie schaut nicht fern und kennt die
Gesetze Euros nicht. Unter Zigeunern gab es noch nie und wird es nie eine
Prinzessin geben.
Der Mann, der es bereut, gut zu sein
Einer der
Passanten, der ihr zuhörte, bat darum, mit ihr zu sprechen.
- Ich sah deine
Freude, - sagte er zu ihr,- und erkannte sie und weil auch ich sie in meinem Herzen
wünschte, wurde ich gut und bemühte mich, die Gebote der Mutter zu erfüllen:
Nicht mehr zu rauben, nicht mehr die Wälder zu zerstören oder die Flüsse zu
verschmutzen, keine Waffen mehr herzustellen und Krieg zu führen, keine Gewalt
mehr gegen die Schwachen einzusetzen. Ich habe auch aufgehört, ganze Tage beim
Einkaufen zu verbringen. Allerdings ist das Ergebnis von alledem, dass alle
mich mit Füßen treten. Seit ich kein Schänder des Werks der Mutter mehr bin,
werde ich selbst geschändet und beleidigt. Du scheinst glücklich zu sein. Aber
obwohl ich deinem Beispiel folge, bin ich es nicht. Und deshalb möchte ich
wieder schlecht werden wie vorher, weil diese Welt nicht für die Guten und
Gerechten, für die Schwachen, Bescheidenen und für die Armen, sondern für die Verdorbenen
und Schlauen, für die Gewalttätigen und Verantwortungslosen, für die Leichtsinnigen
und Stolzen gemacht ist. Die Schlechten sind überall erfolgreich, während die
Guten verhöhnt werden.
- Bekehre dich
nicht zum Übel, mein Sohn, - antwortete Christine, - weil du wie die Mehrheit
der Menschen gut geboren wurdest. Erkenne also deine innige Natur und folge den
Wegen der Mutter.
- Wenn die
Mehrheit der Menschen gut geboren wurde, warum ist dann die Welt so schlecht?
- So wie wenige
Gramm einer giftigen Substanz die klaren Gewässer eines Sees verderben, so werden
viele durch die Bosheit weniger verdorben.
- Wie ist dies
möglich?
- Wegen des
fehlenden Bewusstseins, das unsere leidende Menschheit auszeichnet. Die
Menschen überlegen nicht und neigen mechanisch dazu, mit schlechten Taten auf
schlechte Taten zu antworten. Dadurch schaffen sie ein furchtbares Karma oder
kreieren, wenn man es anders ausdrücken will, einen Teufelskreis, der alle
unglücklich macht. Antworte nicht mit einer Beleidigung auf eine Beleidigung,
sondern begreife, dass derjenige, der dich verletzt, blind und unbewusst ist. Würdest
du einen Blinden beschimpfen, wenn er dich mit Füßen tritt? Weiche du ihm aus,
der du Augen zum Sehen hast, wenn er dich nicht sieht, weil er blind geboren
wurde. Er ist blind und sieht nicht, wo er hingeht. Wenn du ihn jedoch mit Füßen
treten würdest, wäre deine Schuld groß, weil du dich benimmst wie ein Blinder,
obwohl du Augen zum Sehen hast. Lass den Unbewussten und Verantwortungslosen üble
Taten tun, denn sie wissen nicht, was sie tun. Du, der du dagegen erkennst,
Sohn der Muttergöttin zu sein, verzeihe und tue Gutes.
So sprach
Christine, aber das Gesicht des Mannes verdunkelte sich und er ging traurig
weg, weil er viel Groll für diejenigen im Herzen trug, die ihn mit Füßen
getreten und beleidigt hatten.
Die Weissagung von Christine
Es kam der Tag,
an dem Christine und ihre Jünger gemeinsam zu Tische saßen und das geschwisterliche
Abendmahl teilten. Derjenige, der neben ihr saß, fragte sie:
- Meine Meisterin,
wer von uns wird im Reich unserer Mutter an deiner Rechten sitzen?
Christine wurde traurig und antwortete folgendermaßen:
- Du Narr,
welcher Teufel hat dir diese Frage eingegeben? Habe ich euch nicht immer
gesagt: Wer von euch groß sein will, soll allen anderen Sklavendienste leisten?
In Wahrheit aber sage ich euch, dass der Wunsch über den eigenen Geschwistern
zu stehen, durch eine innere Schwäche, durch ein Ich entsteht, das um zu
bestehen, sich den anderen gegenüber als Erster und getrennt von ihnen fühlen
muss. Die Liebe der Mutter ist jedoch selbstlos und wir alle sind eins in ihr. Deshalb
hütet euch also vor denjenigen, die an erster Stelle stehen wollen. Ja, ich
muss euch noch mehr sagen: Nach mir werden viele kommen und sagen, dass sie die
echten und einzigen meiner Anhänger sind, die im Besitz der Wahrheiten sind, die
ich euch enthüllt habe und dass sie sie bewahren und verteilen werden. Ihr aber
tut gut daran, euch vor diesen zu hüten. Und einige von ihnen werden bei
Konzilen zusammentreffen und ihre Wahrheiten abfassen. Einige werden große
Tempel bauen und in prächtigen Heimstätten leben. Andere wiederum werden Abhandlungen
und Katechismen schreiben und werden Versammlungsgruppen und Kirchen bilden und
jede Gruppe wird behaupten, die Wahrheit nach meiner Lehre zu besitzen. Und sie
werden über unzählige Dinge streiten und untereinander um die Macht über die
einfachen Seelen kämpfen. Und so seid achtsam, meine geliebten Armen, und lasst
euch nicht täuschen und glaubt vor allem nicht denen, die so leben, dass sie
eure Armut beleidigen. Glaubt denen nicht, die sagen, dass sie die Wahrheit besitzen,
weil niemand sie besitzt. Vielmehr ist es die Wahrheit, die den Menschen gebietet
und deshalb leben diejenigen, denen die Wahrheit gebietet, in Frieden und
Harmonie. Und wenn sie versuchen sollten, euch zu überzeugen, dann sagt ihnen,
dass sich meine Anhänger untereinander nur durch eine Sache erkennen und nur
„durch eine Sache sind sie erkennbar: Durch die Liebe, die sie sich gegenseitig
geben”. Denn wenn ihr euch nicht gegenseitig liebt, dann können keine tausend
Glaubenslehren und keine tausend Kirchenkräfte eure Seele je retten. Deshalb
soll die Liebe eure einzige und belebende Wahrheit sein. Eine Wahrheit aufgrund
der die Menschen Geschwister sind, eine Wahrheit aufgrund der es weder arm noch
reich gibt und alle essen am gleichen Tisch, den unsere Mutter für alle deckt.
Christine im Gefängnis
Als die
Finanzfachleute sie dann schließlich vor dem Eingang der Tempel von Euro
betteln sahen, riefen sie die Gendarmen, um sie verhaften zu lassen. Diese liefen
unverzüglich herbei, prügelten sie und warfen sie in die dunkelste Zelle im Gefängnis,
nachdem sie ihr Handschellen angelegt hatten. Dem Gefängniswärter wurde eingeschärft, sie sicher zu verwahren. Er beobachtete sie ständig, weil man murmelte, dass Nomaden beim Ausbrechen
sehr kunstfertig waren.
Um Mitternacht
wachte Christine und sang ein sanftes Gebet zur Mutter. Da gab es plötzlich ein
so gewaltiges Erdbeben, dass die Mauern des Gefängnisses schwankten und alle
Türen aufsprangen. Alle Gefangenen flohen, nur Christine blieb, in den Gesang
an die Mutter versunken, an ihrem Platz. Sodann fragte der Gefängniswärter,
warum sie nicht mit allen anderen geflohen war. Sie beachtete ihn aber nicht,
weil sie so glücklich im Gesang vertieft war. Und der Gefängniswärter fragte
sie:
- „Was muss ich tun, um gerettet
zu werden?“
- Glaube an die
Mutter, liebe, respektiere und ehre sie, respektiere und liebe ihre Kinder,
stehle nicht, verschmutze nicht die Umwelt, beute sie nicht aus und recycle. So
wirst du mit deiner Familie gerettet werden.
Dann kam ein
Engel der Mutter und führte Christine hinaus und sagte ihr:
- Geh und
verkündige weiter die Frohe Botschaft vor dem Volk. Bestätige mit Worten,
Haltungen und Taten, dass wir alle Geschwister und Kinder der gleichen Mutter
sind.
Christine begann
wieder zu betteln, aber weil die Gendarmen von Euro sie immer noch suchten und
einsperren wollten, entfloh sie an einen rauen, steinigen und einsamen Ort, der
noch nicht von Bauspekulanten und Reiseveranstaltern erreicht worden war.
Christine versteckt sich in einer Grotte
Im
weltabgeschiedenen Tal verlief der große Fluss.
Christine hielt
an und betrachtete ihn schweigend. Der Fluss glitt unberührt und langsam dahin.
Wer ihn betrachtete, konnte das Geheimnis der Existenz erkennen und fühlen.
Christine verfolgte den Fluss gedanklich bis zu seiner Quelle hoch und reiste
zu seiner Mündung, wo er sich wieder mit dem unendlichen Ozean vereinte. Danach
konzentrierte sie sich auf ihr Gebet und sagte an die Mutter gewandt:
- Ich fühle und
sehe dich, meine Mutter, in meinem Leben, das deines ist, in jedem Geschöpf und
in allen Dingen, in jedem Wesen, das du schaffst und nährst. Doch obwohl ich
dich vollkommen wahrnehme, sehne ich mich weiter nach dir und obwohl ich dich
kenne, versuche ich dich kennenzulernen; „wie die Wurzeln für die Blätter, die
Luft für die Vögel, der Fluss für den Fisch, das Leben für den Lebenden, so
bist du für mich”.
Die Mutter
hörte das Gebet Christines und antwortete:
- Die Menschen
wenden sich nach außen, wo sie sich verlieren, aber du, meine Tochter, ziehst
deinen Blick in dich zurück, um mich zu sehen und hörst meine Stimme in dir.
In der Nähe des
Flusses befand sich eine Grotte, deren Eingang von hohem Schilf versteckt war. Christine trat ein. Sie wurde von einer tiefen
Dunkelheit umhüllt, dem Geheimnis im Herzen der Mutter, der Finsternis, die
alle Farben der Welt umfasst. Christine hielt inne, um sich der Betrachtung und
dem Gefühl hinzugeben. Sie lauschte der Stille und wurde eins mit ihr. In diesem
Zustand unendlicher Einheit mit der Mutter, verbrachte Christine, die die
Außenwelt vollkommen vergessen hatte, drei Tage und drei Nächte.
Unsere
wahrhaftige Natur ist die gleiche Natur der Mutter. Unsere wahrhaftige Natur
ist lichtvoll; sie zeigte sich in Christine in Form eines phosphoreszierenden,
weißen Lichts, das nun in der Grotte durch die Steinwände strahlte und sich
nach außen widerspiegelte. Einige Wanderer sahen sie, waren erstaunt und dachten,
dass der Boden selbst vom ewigen und sanften Licht erleuchtet wurde. Als sie nun
das Geheimnis enthüllen wollten, traten sie in die Grotte ein. Und hier
erblickten sie einen Engel der Mutter, der wie ein Stern glänzte. Und der Engel
sprach die folgenden Worte:
- Ihr seid hier auf der Suche
nach dem Geheimnis, aber nicht allen ist es gegeben, es zu erkennen. Denn viele
werden von der Mutter gerufen, aber nur wenige sind bereit, sie zu empfangen. Wenn
ihr Christine, eure Schwester, sucht, so wisset, dass sie nicht hier ist, weil
sie auferstanden ist. Lauft durch die Straßen der Welt und ihr werdet sie
treffen. Ihr werdet ihr Gesicht im Antlitz jedes Bescheidenen, jedes Armen und
Ausgestoßenen, im Angesicht all derjenigen sehen, die verachtet und verlassen
sind.
DRITTES KAPITEL
DIE MACHTBEFUGNISSE ROMS
Der herrschende Finanzfachmann
An einem grauen
Januarmorgen des Jahres 2049 trat der Euro-Manager und Leiter der Finanzfachkräfte
Pontius, der auch der Herrscher genannt wurde, in den römischen Sitz der
Europäischen Bank ein. Er trug einen grauen Anzug, ein weißes Hemd, schwarze
Schuhe und eine dunkelblaue Krawatte mit weißen Pünktchen.
Mehr als alles
andere auf der Welt liebte der Finanzfachmann den Duft druckfrischen Geldes,
das noch einen langen Weg vor sich hatte: Das Geld musste in die Häuser kommen,
ersehnt und von vielen oft tätschelnd berührt werden. Dann musste es abgegriffen
und beschmiert werden. Pontius trug immer ein Bündel großer Banknoten bei sich
und sniffte sie von Zeit zu Zeit. Ihr Duft, der seine etwas chronische und
unerklärliche Beklommenheit linderte, belebte ihn förmlich.
„Mein Euro, warum
verfolgt mich diese Beklommenheit? Kein Arzt konnte mich davon befreien. Nachts
kann ich nicht schlafen”, flüsterte er sich selbst zu, bevor er die Jacke
aufknöpfte und die rechte Hand in die Innentasche einführte. Er ließ erneut
sein schönes Bündelchen zu Tage treten, betastete es sorgfältig, führte es zur
Nase und saugte dessen Wohlgeruch ein, so dass er wieder heiter wurde.
Pontius setzte
sich hinter einen großen Schreibtisch, auf dem diverse Mappen ordentlich aufgereiht
lagen. Flüchtig betrachtete er sie und insbesondere ein Dokument zog seine
Aufmerksamkeit auf sich. Er begutachtete es voller Sorgfalt, runzelte die
Stirn, drückte den Knopf und Plastika, seine ergebene und attraktive Sekretärin
trat ein. Der Finanzfachmann beobachtete die elegante Bewegung ihres auf
Pfennigabsätzen sanft wogenden Körpers. Sie war eine wirklich wohlgeformte,
blonde, große und schlanke Frau, die wenn nötig zuckersüß, aber gleichzeitig
entschlossen, pünktlich und dienlich bei der Arbeit war.
- Hast du
Nachrichten von der Gefangenen des Nomadenlagers? – fragte er sie mit
fisteliger Stimme.
- Ja, Herrscher,
- antwortete Plastika, - das Oberste Gericht der europäischen Finanzmanger hat
sie bereits verurteilt. Das Urteil muss jedoch gegengezeichnet werden. Sie ist
hier.
- Lass sie
eintreten.
Aus dem Raum
daneben führten zwei Bedienstete eine mittelgroße, brünette und etwa
dreißigjährige Frau herein. Sie trug einen knöchellangen Rock, einen Pullover
mit Rundkragen und eine weite, graue Jacke. Sie verbeugte sich anmutig und sah
Pontius in die Augen. Das Gesicht des Finanzfachmanns erschien angespannt,
seine Stimme klang plump.
- Wie heißt du?
– fragte er sie.
- Christine.
- Bist du
diejenige, die herumläuft und gegen die Reichen predigt und sie beleidigt?
- Lieber
Bruder, höre...
Aber Plastika unterbrach
sie.
- Weißt du, wo du bist und mit wem du gerade
sprichst?
Christine sah
Pontius weiter in die Augen und lächelte, aber Plastika ergriff sie an einem
Arm und schüttelte sie.
- Wie kannst du
Zigeunerin dir erlauben, den Finanzfachmann zu duzen? Und warum siehst du ihm
in die Augen? Möchtest du deine Verurteilung eigenhändig unterschreiben? Wende
dich respektvoll mit dem Titel Herrscher an ihn und senke deinen Kopf, du
Flittchen, - sagte Plastika. Dabei ließ sie die rechte Hand in der Luft
kreisen, die dann kraftvoll auf dem Gesicht von Christine landete. Diese
steckte schweigend ein, lächelte und hielt die andere Wange hin.
- Wie heißt du?
– wiederholte Pontius.
- Christine
Rom.
- Wo bist du
geboren?
- Ich bin in
Calaraz, einem Dorf am Ufer der Donau geboren. Dann bin ich nach Bulla übergesiedelt.
- Dokumente
über dich besagen, dass du am Strand lagernd lebst. Hast du also kein Haus?
- Ich hatte
eines, aber das habe ich den afrikanischen Immigranten gegeben.
- Das erstaunt
mich nicht. Schließlich bist du eine herumziehende Zigeunerin.
Christine antwortete
nicht.
- So treibst du
dich also herum, du Zigeunerin, und predigst gegen den Wohlstand und beleidigst
die Reichen, indem du sagst, dass sie hohl sind, dass sie die Armen berauben.
- Die Menschen,
die mir zuhörten, haben mich missverstanden, Herrscher.
- Nicht die
Schuld anderen zuschieben. Deine Worte wurden aufgezeichnet und reichen für
deine Verurteilung, Zigeunerin. Du hast uns beschimpft. Du kannst gerne die
Armut wählen. Niemand zwingt dich dazu, reich zu werden. Allerdings musst du
deine Zunge zügeln, du kleine Schlange. Schließlich bist du auch hübsch, warum
musst du dich in die Nesseln setzen?
- Nein, Herrscher,
ich beleidige niemanden. Glauben sie mir, das ist gegen meine Natur.
- Dann waren es
deine Jünger oder Apostel, oder was auch immer sie sind.
- Ich habe
keine Apostel.
- Wir wissen,
dass du Anhänger hast.
- Habe ich
nicht, wenn man einmal von einem gewissen Paul absieht, der mir überallhin
folgt. Er selbst war reich, steinreich. Er hat sich an mich gewendet, während
ich bettelte und hat begonnen, von sich und seinen Problemen zu sprechen. Und
ich habe ihm zugehört, einfach nur zugehört und habe in seinem Herzen kein
Ressentiment gegen andere angestiftet.
- Paul... ja,
wir kennen ihn, er ist registriert, aber ich weiß nichts davon, dass er reich
sein soll.
- Er ist es
nicht mehr. Er hat alles den Armen gespendet. Das Geld hat keine Bedeutung mehr
für ihn. Er hat gut daran getan, arm zu werden und hat nie schlecht von den
Reichen gesprochen. Er ist ein guter Mann.
- Was für eine
schöne Erfindung! Ein Reicher, der alles den Armen gibt und einer Zigeunerin
folgt!
- Das ist die
Wahrheit, die ihr überprüfen könnt.
- Kann schon sein, aber was hast du den
Leuten dann gepredigt?
- Ich sagte
ihnen einfach, dass das Leben von Geburt über Wachstum, Alter und Tod eine
einzige Bewegung ist. All diese Dinge ereignen sich zu ihrer Zeit und unterliegen
diesem Gesetz und so werden auch die Reichen geboren und sterben. Ich habe auch
gesagt, dass wir alle, ob reich oder arm, menschliche Wesen mit der gleichen
Würde sind, dass wir alle Geschwister sind und dass uns unser Menschsein mehr
miteinander verbindet, als uns die Reichtümer trennen.
- Du hast also
nur dummes Zeug gepredigt. Und der Kompost? Hast du nicht gesagt, dass das Geld
der Reichen Kompost ist?
- Das war nur
eine Metapher. Ich habe gesagt, dass eine Zeit kommen wird, in der die Menschen
sich untereinander lieben werden. Und dann wird es weder Reiche noch Arme geben
und man wird das Geld zusammen mit vielen toten Dingen verrotten lassen können,
um einen schönen Kompost zu bilden.
- Du bist
durchtrieben. Hast du studiert?
- Nein, man
muss nicht zur Schule gehen, um die Wahrheit zu begreifen.
- Die Wahrheit!
Was weißt du denn schon davon? Was ist die Wahrheit?
- Die Wahrheit
ist, dass dein Herz beklommen ist. Du kontrollierst große Kapitalsummen, bist
aber nicht zufrieden. Dir fehlt etwas.
Der
Finanzfachmann beobachtete das unbeschwerte Gesicht von Christine. Ihre Stimme
traf ihn überwiegend als Klang, wie eine sanfte Vibration, die eine sonderbare Wirkung
auf ihn hatte: Sie entspannte, ja verzauberte ihn fast. In der Zwischenzeit wurde
Plastika unruhig und betrachtete Christine mit feindseligem Blick. Der
Finanzfachmann bemerkte dies und bat sie, das Zimmer zu verlassen.
- Das ist nett
und was fehlt mir deiner Meinung nach? - fragte er also Christine.
- Gold
verwandelt sich in den Händen derer, die sich selbst nicht realisieren und
kennen, zu Blei. Du kennst die Welt des Finanzwesens, hältst aber nicht inne,
um das Herz der Welt, der Menschen, von dir selbst zu betrachten. Du kennst
deine Einsamkeit ebenso wenig wie den Grund für deine Beklommenheit. Du gehst
keine Beziehung mit menschlichen Wesen ein, die für dich nur Zahlen, Statistiken,
eine Gelegenheit zum Geldverdienen sind. Du hast nicht einmal den Mut, einer
armen Frau wie mir in die Augen zu sehen, und damit du deinen Blick nicht
senken musst, verlangst du, dass ich es tue. Du kennst nur die
Machtverhältnisse und kannst nicht lieben und liebst nicht einmal Plastika, die...
dich ebenfalls nicht liebt und die dich verlassen würde, wenn du kein Geld
hättest. Und du wähnst dich in Sicherheit und glaubst, dass sie dich liebt. Du
bist blauäugig. Eine Gummipuppe würde dich mehr lieben. Aber jetzt brauchst du
sie nicht mehr, um deine Beklommenheit zu lindern. Jetzt hört dein Schmerz auf,
es geht dir gut, du bist entspannt, entspanne dich...
Der Herrscher fragte
sich, weshalb er dieser Minderbemittelten erlaubte, so mit ihm zu sprechen, warum
er zuhörte und weshalb ihre harten Worte ihn nicht störten, sondern er jetzt
sogar immer entspannter wurde und sich wohl fühlte.
- Ich rate dir,
Herrscher, - fuhr Christine fort, - einen langen Urlaub zu machen. Begebe dich
in eine unbekannte Stadt, mische dich unter die Menge, miete dir ein kleines
Zimmer am Stadtrand und gehe auf den Volksmärkten einkaufen. Lebe mit den armen
Menschen. Bewege dich ohne deine vor Luxus strotzenden Autos, ohne deine
anderen technologischen Prothesen.
- Warum sollte
ich all das tun? - fragte der Finanzfachmann belustigt.
- Um dein Herz
zu treffen. Du lebst in einer geschlossenen, wattierten Welt. Hier gibt es zu
viele Bildschirme, Sichtblenden, so viele Lügen und Anmaßungen, so viel mentale
Gewohnheiten, die dich vor dir selbst verstecken. Du hast alles, du kannst
nichts mehr zu deinen Reichtümern hinzufügen und wenn noch etwas hinzukommen
könnte, würde dies nichts ändern. Du hast alles, außer dir selbst.
- Ich könnte
mit zu dir kommen und am Strand lagern, - sagte der Finanzfachmann, der in ein
klangvolles, aber gutmütiges Gelächter ausbrach.
- Gestehe, - fuhr
er fort – du bist keine Zigeunerin, du bist eine Philosophin oder eine Psychologin.
Wie konntest du wissen, dass ich unter Angstzuständen leide, dass Plastika meine
Geliebte ist?
- Nichts ist
offensichtlicher als das, lieber Pontius. Die Angst steht dir ins Gesicht
geschrieben und Plastika ist offenbar die Art von Sekretärin, die mit ihrem
Chef ins Bett geht.
- Du hast recht,
- sagte der Finanzfachmann, der sich keineswegs vom familiären Ton gestört
fühlte, mit dem Christine ihn ansprach, - und so hast du also nichts gegen die
Reichen?
- Nein, warum? Diese
Armen!
- Hast du
keinen Aufstand gegen sie geplant?
- Absolut nicht.
- Bist du
bereit, dies vor dem Gericht der Finanzfachgemeinde zu bestätigen?
- Sicherlich.
- Schwöre es.
- Ich schwöre
nicht, weil das nicht nötig ist und ich die Wahrheit sage.
- Stattdessen
müsstest du wirklich schwören. Vielleicht ist dir nicht bewusst, dass ich die
Macht habe, dich zu befreien oder wieder in die Zelle zurückzuschicken.
- Du hättest keine Macht, wenn sie dir nicht für
deinen Dienst gegeben worden wäre. Und wenn du aufhören würdest, Diener von
Euro zu sein und ein Mann werden würdest, würde dir die Macht genommen werden.
- Nun
übertreibe mal nicht, kleine Zigeunerin. Denke lieber daran, dich zu retten. Du
wirst auch angeklagt, nicht zu arbeiten. Was willst du zu deiner Entschuldigung
vorbringen?
- Was könnte
ich da schon sagen?
- Du ziehst
bettelnd herum. Schämst du dich nicht?
- Warum sollte
ich? Buddha war ein Bettler und vielleicht auch der Heilige Franziskus. Meine
Vorfahren zogen umher und führten nützliche Arbeiten aus. Sie reparierten
Gegenstände, Töpfe, Schirme. Jetzt werfen die Gage die Utensilien schon weg, bevor sie kaputt sind. Wir haben
keine andere Wahl als die Bettelei.
- Wir haben dir
doch eine Arbeit angeboten. Warum hast du sie abgelehnt?
- Aus
Gewissensgründen. Ich konnte sie nicht annehmen, sonst hätte ich die Achtung
vor mir selbst verloren.
- Was sagst du
denn da? Unsere Manager hätten dich in einer Automobilfabrik untergebracht…
eine ehrliche, saubere und respektable Anstellung. Was hat dein Gewissen damit
zu tun?
- Warum fragst
du mich das, Herrscher? Genau du, eine gebildete Person. Ich kann keine langweilige,
sich wiederholende, nicht kreative Arbeit ausführen, um unnötige
Luxusgegenstände zu bauen. Außerdem gibt es zu viele Belastungsquellen, zu
viele Autos. Die Autos verschmutzen die Umwelt, die auch bei ihrem Bau belastet
wird. Dabei geht es um Kohlendioxid, nicht? Ich kann nicht zur Verschlimmerung
des Treibhauseffekts beitragen.
- Man weiß
nicht mit Sicherheit, ob der Klimawandel auf die Abgase der Autos und
Industriebetriebe oder auf andere nicht vom Menschen abhängende Faktoren
zurückzuführen ist.
- Man weiß es
und auch wenn man es nicht wüsste, wenn auch nur ein Zweifel bestehen würde,
müsste man dementsprechend handeln. Wenn du den begründeten Zweifel, aber nicht
die Sicherheit hättest, dass sie dir beim Restaurant ein vergiftetes Essen
geben, würdest du es essen?
- Dann dürfte
niemand arbeiten. Alle verschmutzen. Man belastet die Umwelt, um zu leben.
- Nein, Herrscher,
man verschmutzt, um zu leben, wie wir leben, um unsere Seelen in einer Flut von
Verschwendung, Komfort und unnützen Gegenständen zu ertränken.
- Also bist du
auch Umweltschützerin, meine kleine Zigeunerin!
- Ich liebe
unsere Erde und würde nichts gegen sie unternehmen, ich würde nicht auf den Teller
spucken, aus dem ich esse. Die Erde ist geduldig mit uns und unserem Irrsinn.
Sie wird sich aber erheben. Das Klima wird noch unerträglicher werden.
- Unsinn! Du
denkst an den Planeten, aber vertrittst nicht dein eigenes Interesse. Die
Anklage, nicht zu arbeiten, ist schwerwiegend. Du bist kerngesund und man muss
arbeiten, um zu leben. Es ist einfach zu leicht, sich mit Almosen durchzubringen.
- Die Erde ist
großzügig und ich würde arbeiten. Auch das Sammeln der Früchte der Erde ist eine
Aufgabe. Ich würde sie sammeln, ich würde arbeiten, aber...
- Aber?
- Ihr habt alles
abgesperrt, habt die Armen um die gemeinsame Nutzung der Erde beraubt, habt sie
zu Privatbesitz gemacht. Und wenn ich jetzt auf eure Felder gehen würde, die
euch nur deshalb gehören, weil ihr sie abgesperrt habt, dann würdet ihr denken,
dass ich eine Diebin bin.
- Du hast eine
originelle und verdrehte Art zu argumentieren.
- Das glaube
ich nicht. Bis vor wenigen Jahrhunderten gab es Gemeinschaftsböden und –wälder
und freie Weiden. Damals brauchten wir kein Geld und mussten nicht in der
Fabrik arbeiten.
- Wir
können nicht wieder herumziehende Sammler werden, auch weil es nicht genügend
wilde Früchte für alle geben würde.
- Jetzt nicht
mehr. Wir zerstören gerade unseren Planeten.
- Jetzt
übertreibe mal nicht und auf jeden Fall interessieren mich diese
apokalyptischen Reden nicht. Ich biete dir die Möglichkeit, dich zu retten.
Nimm einen Job als Arbeiterin an und ich werde die Schuldspruchsurkunde nicht
unterzeichnen. Was dann die anderen dir vorgeworfenen Anklagen angeht, werde
ich dem Gericht der Finanzmanager sagen, dass du verrückt bist. Ich werde dich
für einen kurzen Zeitraum in einer Heilanstalt unterbringen lassen. Mal sehen,
ich werde dich in Fregene einsperren; das ist ein schöner Ort, ich mache dort
oft Urlaub.
Der Finanzfachmann
schaltete den Computer an und schickte sich an, den Bericht zu schreiben, der
dem Höchsten Gericht der Finanzfachleute zu senden war. Christine blieb
schweigend stehen.
- Nun, was
beschließt du? Wirst du arbeiten? Wirst du zu einem normalen Menschen? Denk an
die vielen Dinge, die dir fehlen und die du mit dem Geld deines Gehalts kaufen
könntest.
- Ich kann
nicht gegen mein Gewissen gehen, arbeiten, um die Erde zu verschmutzen, gegen
meine Mutter agieren. Nein.
- Du bist stur.
Kapierst du nicht, dass ich versuche, dir zu helfen? Aber wenn du nicht in der
Fabrik arbeiten willst, dann gäbe es ein paar andere Möglichkeiten. Sie graben
einen Tunnel durch die Berge. Ich kann dich als Handlangerin einsetzen lassen.
Das ist eine Arbeit, die nicht verschmutzt. Ich hoffe also, dass du sie annimmst.
Was sagst du dazu?
- „Könnte ich
ein Messer nehmen und es in den Busen meiner Mutter stechen? Wenn ich das tun
würde, würde sie mich nicht mehr an ihrer Brust aufnehmen, wenn ich sterbe. Möchtest
du, dass ich Steine umgrabe und aushöhle? Könnte ich vielleicht in ihrem
Fleisch bis zu den Knochen graben? Dann könnte ich nicht mehr in ihren Körper zurückkehren,
um zu neuem Leben geboren zu werden“.
- Wenn dir dies
als eine zu schwere Arbeit erscheint, werde ich einen Job als Holzfäller in den
Wäldern für dich finden.
- Möchtest du,
dass ich die Bäume fälle, um Brennholz daraus zu machen und es zu verkaufen, um
mich zu bereichern, wie das die Gage
tun? Könnte ich denn die Haare meiner Mutter schneiden?
- Du bist
wirklich schwierig, meine Liebe. Es ist offensichtlich, dass du
Entschuldigungen suchst, um nicht zu arbeiten. Ich biete dir jedoch eine letzte
Möglichkeit, eine Tätigkeit in der Natur, die du nicht ablehnen kannst. Es gibt
eine Stelle als Hüterin der Herden.
- Handelt es
sich um Schlachtvieh?
- Sicher. Es
sind Kühe, die im richtigen Augenblick zum Schlachthof kommen.
- Ich kann mich
nicht zum Mittäter bei der Ermordung von Tieren machen. Außerdem erzeugt der
Viehbestand weltweit 18 Prozent der Treibhausgase, zu denen noch die für den
Transport kommen und er nimmt sechsundzwanzig Prozent des fruchtbaren Bodens
ein. Ein Drittel der Anbauflächen wird für die Produktion von Getreide für
Tiere, anstatt für Menschen genützt. Die Rinder verschlingen ganze Ökosysteme.
Tropenwälder werden abgefällt, um Raum für die Weiden zu schaffen. Wir essen
Fleisch und Milliarden von Menschen leiden unter Hunger.
- Willst du
damit sagen, dass du auch diesen Job ablehnst?
- Immer wenn du
Fleisch isst, zerstörst du die Welt.
- Unsinn! Du
bist zu radikal, meine Liebe.
- Ich bin mir
meiner Handlungen bewusst.
- Kurzum,
akzeptierst du die Arbeit, ja oder nein?
- Ich
akzeptiere nicht, die Tätigkeiten auszuführen, die du mir anbietest, - antwortete
Christine mit Nachdruck.
Angesichts der
entschiedenen Weigerung Christines verdunkelte sich das Gesicht des Finanzfachmanns.
Er fühlte einen Knoten im Hals, in seiner Brust breitete sich ein trauriges
Gefühl aus, die alte Beklemmung war zurückgekehrt. Als er die Augen vom Computer
anhob, um Christine anzusehen, sah er sie nicht. An ihrer Stelle erblickte er
einen hellen, phosphoreszierenden, fast leuchtenden Nebel, der sich nach und
nach ausbreitete, bis er den Raum füllte und sättigte. Pontius verlor den Boden
unter den Füßen, seine Arme hingen hilflos an den Seiten des Stuhls hinunter. Dennoch
erholte er sich nach wenigen Sekunden. Der Nebel war verschwunden und an dessen
Stelle sah er eine arme, junge Frau, die ihn intensiv und liebevoll mit zwei
leuchtenden Augen anblickte.
- Warum siehst
du mich so an? – fragte er sie und fühlte das Wohlbefinden in sich zurückkehren.
- Du bist
gerade erst ein Mädchen und verstehst die Regeln der Welt nicht. Deine
verschrobenen Ideen über die Erde und deine Mutter interessieren mich nicht.
Wir leben in einer Demokratie und jeder ist frei, seine bevorzugten Ideen zu
haben, solange das Verhalten normal bleibt. Vielleicht interessiert mich nicht
einmal dein Verhalten. Tue was du willst. Allerdings darfst du nicht predigen
oder versuchen, die anderen davon zu überzeugen, sich nicht normgerecht zu
verhalten.
- Das habe ich
nie getan und wenn ich es tun würde, wäre es nutzlos.
- Du lügst. Es
ist allbekannt, dass du die Leute aufforderst, nicht zu arbeiten.
- Das habe ich
nie getan.
- Du lügst
schamlos. Kennst du nicht zufälligerweise eine gewisse Judith? Und hast du
nicht versucht, sie davon zu überzeugen, ihre Tätigkeit aufzugeben?
- Ja, ich habe
sie getroffen. Sie hielt mich an, während ich bettelte und fragte mich, was ich
von der Arbeit hielt. Sie schien sehr ehrlich und war daran interessiert, meine
Antwort zu erfahren.
- Und was hast
du ihr gesagt? Hast du nicht versucht, sie davon zu überzeugen, ihr Leben zu ändern,
ihren Job aufzugeben?
- Ich habe
gesagt, dass jede Tätigkeit, die zu einem bestimmten Zweck erfüllt wird, als
Arbeit betrachtet werden kann. Ich habe gesagt, dass viele Tätigkeiten unnütz,
schädlich und langweilig sind, nicht zufrieden machen, nicht dazu beitragen,
die menschlichen Leistungen umzusetzen und sie nur wegen des Geldes ausgeführt
werden. Aber es wird die Zeit kommen, in der die Arbeit nicht wegen Geld,
sondern um seiner selbst willen, dafür ausgeführt werden wird, was sie hier und
jetzt bedeutet und wert ist. Es werden Bäume gepflanzt und Wüsten belebt
werden. Für Arme werden umweltfreundliche Häuser gebaut werden. Kranke, afrikanische
Kinder werden geheilt und Gemüse- und Blumengärten werden gepflegt werden. Es
werden Kunstgegenstände geschaffen werden, man wird Musik spielen und die
Waffen zerstören.
- Und was hast
du ihr dann also erzählt?
- Nichts
weiter. Ich hörte auf zu sprechen, als ich den spöttischen Blick von Judith
wahrnahm. Er überraschte mich, ich bemerkte, dass sie mich nicht verstanden
hatte, ich hätte mich besser erklären wollen, aber sie blickte um sich, machte
ein Zeichen mit den Händen und eure Gendarmen ergriffen mich, schlossen mich in
einen Kastenwagen ein und brachten mich nach Rom. Ich weiß nicht einmal warum.
Pontius dachte
daran, Christine wegzuschicken und sie wieder an die Gendarmen von Euro zu
übergeben. Er hatte alles versucht, um sie zu retten, aber sie hatte sich nicht
gebeugt. Dennoch machte es ihn in seinem Innersten traurig, sie nicht befreien
zu können. Er beobachtete sie wieder stillschweigend und erblickte erneut einen
glänzenden Lichtschein, der sie umgab. Wieder verlor er den Boden unter den Füßen,
gab sich aber einen Ruck, tätschelte das auf der Herzseite in der Innentasche
seiner Jacke aufbewahrte Euro-Bündel und wurde wieder er selbst.
- Du bist eine
verrückte Visionärin, - sagte er, - es gab noch nie und wird nie eine Zeit
geben, in der der Mensch das tut, was ihm gefällt. Es gibt Aufgaben,
Verbindlichkeiten, Planungen, es gibt das Bruttoinlandsprodukt, das ansteigen
muss, das immer ansteigen muss! Und dir Zigeunerin steht es nicht zu, das
Gegenteil zu behaupten. Wer bist du? Wie wagst du es, gegen die Moral, gegen
die allgemeinen und wahren Paradigmen zu sprechen und zu handeln?
Dies sagte er fast schreiend, fasste sich dann
aber wieder und fragte mit gelassenerer Stimme:
- Aber wer bist
du wirklich? Woran glaubst du? Glaubst du an Gott?
- Von welchem
Gott sprichst du?
- Gott.
- Du kennst
Gott nicht. Euro ist dein Gott.
- Du Närrin, ich habe dich nur gefragt, ob du
an Gott glaubst.
- Ich glaube an die Göttin, unsere Mutter.
- Dann bete zu deiner Mutter. Dass sie dich retten
kommt.
- Du selbst
kannst mich retten. Lass mich frei. Ich habe nichts Schlechtes getan.
- Du glaubst,
dass ein Finanzfachmann von Euro eine befreien kann, die wie du spricht und
handelt? Glaubst du, dass ich wie du enden soll?
- So würdest du
das Ende eines echten Mannes nehmen.
- Hinweg mit
dir, Zigeunerin! – schrie der Finanzfachmann.
Das Arbeitszimmer des Papstes
Am Himmel Roms
schlängelte sich in der Zwischenzeit ein roter Drache, der sieben Köpfe und
zehn Hörner hatte. Von seinem Schwanz hingen tausend Fäden, die mit unzähligen
großen Geldscheinen verbunden waren. Daneben schwebte eine blau- und
rosafarbene Kugel, die der Drache mit kleinen Schlägen seines Schwanzes drehte.
Und wann immer er sie berührte, ergoss sich ein Schwall von Banknoten.
„Welch
sonderbarer Traum”, dachte Justus bei seinem Erwachen. Er stand auf, trat an
das Fenster, betrachtete den leeren Petersplatz unter einem heiteren Himmel. So
stand er eine Weile und ließ sich vom leichten und lauen Schirokko streicheln. Dann
schloss er die Fenster wieder und setzte sich an den Schreibtisch. Eine purpurfarbene
Kappe umhüllte seinen edlen Kopf, verbarg das dichte Haar jedoch nicht
vollständig. Seine Füße steckten in bequemen Lederpantoffeln und sein Körper
war in einen Mantel gehüllt, der mit Silber- und Goldfäden bestickt war.
Man hörte ein
zurückhaltendes Klopfen an der Türe. Es war die getreue Marta, die ein
Silbertablett mit dem Frühstück brachte. Dann erschien sein Sekretär Volpi.
- Welche
weiteren Papiere bringen sie mir, mein Sekretär? - fragte Justus.
- Eure
Heiligkeit, es gibt da noch die diffizile Frage des Lateranpalasts. Die Kurie
rät eine Fortschreibung des Vertrags an. Vielleicht könnte man Änderungen
anbringen.
- Es schien
mir, dass das Geschäft schon abgeschlossen war. Gibt es neue Hinderungsgründe?
- Nein, Eure
Heiligkeit, aber es besteht hier eine gewisse Ratlosigkeit und nicht nur die
Kurie, sondern alle Kardinäle sind perplex. Der Lateranpalast war von jeher ein
besonders wichtiger Teil der Kirchengüter.
- Das Angebot
von Euro scheint ziemlich vernünftig. Gibt es bessere?
- Nein, niemand
würde es wagen, ihm Konkurrenz zu machen.
- Okay, das
scheint mir ein gutes Geschäft. Die Zahl, die Euro anbietet, ist sicher höher
als die, die wir bei einer Versteigerung erzielen könnten und wir können schon
froh sein, wenn wir nicht unter Preis verkaufen müssen.
- Sie haben Recht,
Eure Heiligkeit. Das Angebot wäre akzeptabel, vor allem jetzt, im Augenblick
unserer großen Finanzkrise und dennoch werden wir so immer ärmer. Das ist eine
langsame, aber fortschreitende Zerrüttung.
Der Sekretär
sprach den letzten Satz langsam und mit einem schlecht verhüllten Gefühl von Traurigkeit
aus, während Justus die Augenbrauen hochzog.
- Volpi, ich
hoffe, dass sie nicht trübsinnig werden. Außerdem sollte man dann nicht von Zerrüttung,
sondern von Neugeburt sprechen.
- Sicher, die
Kirche wird ständig, jeden Tag, neu geboren. Inzwischen nimmt unser Einfluss
jedoch weiter ab. Und jetzt sind wir gezwungen, die Armen durch den Verkauf
unserer Immobilien zu unterstützen. Ist es aber eine gute Sache, sich von unseren
Gütern zu befreien, auch den Lateranpalast abzutreten, ihn gerade an Euro, die
heidnische Staatsgewalt abzutreten?
- Wir haben
keine andere Wahl als zu verkaufen. Übrigens haben weder sie, Volpi, noch die
Kurie wirkungsvolle Alternativen.
- Es gäbe da
eine Alternative…
- Welche wäre
das?
- Nun, sehen
sie, Euro wäre mit einer Gruppe von Managern und Finanzfachleuten dazu bereit, sich
mit erheblichen Beiträgen an einer Stützungsoperation zu beteiligen, die den
Unternehmungen von Kirche und Kurie Atem verleihen würden und…
- Es genügt.
Ich verstehe. Mir reichen die Spenden des Volkes, der Gläubigen, die sicherlich
uneigennützig sind. Jegliches Geldangebot von Finanziers, jeder Schutz von
Reichen und Mächtigen würde uns verpflichten. Entscheiden wir uns dafür, arm,
aber frei zu sein.
- Die Freiheit
steht über allem, das stimmt im Prinzip. Es ist jedoch auch wahr, dass wir die
Welt so zur Kenntnis nehmen müssen, wie sie ist. Wir müssen realistisch sein
und uns an die Zeiten anpassen. Wir können kein Führungsverhalten fördern, das
sich eben auch für die Gläubigen als unpopulär erweist. Das wäre eine Verdrehung.
- Sie haben
recht, Volpi, sie haben recht mit ihrer Aussage, dass die Welt so ist, wie sie
ist: Sie ist heidnisch geworden. Selbst unsere bescheidensten Brüder wünschen
sich nur, den Idealen von Euro zu folgen. Für sie zählt nur Wohlstand,
Leistungsfähigkeit, Gewinn und jetzt sind auch einige Geistliche zu Managern
geworden. Sie würden sich gerne an die Zeiten anpassen, die Banken beherrschen.
Wir können uns dagegen nicht derartig
erniedrigen, dass wir unsere seelsorgerischen Tätigkeiten mit Bilanzen
vermischen und das Gesetz der Liebe mit dem des Profits verwechseln. Es tut
nicht not, uns für Euro und seinen Bruder BIP zum Diener zu machen. Wir müssen
dagegen unser Engagement für die Freiheit erfüllen, den Wunsch, dass die
Menschheit frei ist, frei vom grassierenden Konsumdenken, das die wahre Sklaverei
der Seele ist. Die Kirche darf nicht in Macht und Reichtum schwelgen und vom
Papst darf nicht verlangt werden, ein guter Finanzfachmann zu sein. Wir müssen
zu unserer ursprünglichen Armut zurückkehren. Ich ordne also an, dass nicht nur
unsere Paläste verkauft werden. Vielmehr ordne ich an, dass auch all unser
Gold, unsere Edelsteine zu Geld gemacht werden und der Erlös den armen Brüdern
gegeben wird, die in Baracken leben. Auch unsere silbernen Bischofsstäbe sollen
versteigert werden. Mit Freuden werden wir Holzstäbe, wie die der ersten Zeiten
verwenden.
Als Volpi diese
letzten Worte des Papstes hörte, fühlte er sich schwach und schwieg sekundenlang.
Dann gab er sich einen Ruck und antwortete mit Nachdruck:
- Wenn wir
unsere verbleibende Wirtschaftsmacht weggeben, werden wir den Armen nicht mehr
helfen können und auch die Kraft der Predigten wird schwinden. Die Zeiten haben
sich geändert, wir können keine Vergangenheit aufleben lassen, die es nicht
mehr gibt. Heiliger Vater, wir treiben die Kirche in ihren wirtschaftlichen Ruin,
in die absolute Armut!
- Ja, und
vielleicht ist die absolute Armut in einer Gesellschaft, die auf reinen
Wachstums-, Produktivitäts- und Leistungskriterien organisiert ist, die einzig
mögliche Bedingung. Der Heilige Franziskus und unsere Nothelfer sind unser Beispiel
und ich hoffe, dass sie, Volpi, sich dagegen nicht zum Glauben des Profits
bekehrt haben.
Jeder der
beiden fiel erschöpft auf seinen Stuhl. Volpi zog ein Taschentuch aus seinem
Gewand, mit dem er sich den Schweiß abtrocknete, während Justus nachdenklich
wirkte. Jetzt bereute er den nervösen und harten Ton seiner letzten Worte.
Dann fuhr
Justus, nachdem er seine übliche Ruhe zurückgewonnen hatte, in leutseligem Ton
fort:
- Es ist
unnötig, weiter zu diskutieren. Wir sind uns beide sehr darüber bewusst, dass
unsere Finanzen trotz Bemühungen und allen guten Willens in einer kritischen
Lage sind, seit der acht Tausendstel-Betrag der Einkommensteuer abgeschafft wurde
und seit die Regierung gefordert hat, dass auch wir Steuern auf unsere Immobilien
bezahlen und unsere Schulen nicht mehr subventioniert werden. Es ist allerdings
noch trauriger, dass sich unsere spirituelle Kraft verringert hat. Sehen wir
uns um, Volpi: Wir selbst haben Jesus noch viele Male ans Kreuz geschlagen, indem
wir den Kompromiss vor die Radikalität seiner Lehre gestellt haben. Unsere eigenen
Leute, die sich der Materie, dem Geld und der Macht der Finanzfachleute verschrieben
haben, haben ihn gekreuzigt. Ihre Macht quält mich. Jetzt kann man nichts tun
und sagen, ohne sich vorher mit ihren Büros beraten zu haben. Sie haben eine
ungeheuere Macht und niemand kontrolliert sie. Wem müssen sie Rechenschaft ablegen?
- Euro.
- Ja, Euro, nur
Euro kann sie kontrollieren. Dies entspricht der Aussage, dass nur die Macht
des Geldes die Macht des Geldes kontrollieren kann.
Justus seufzte,
schenkte den Kaffee in eine Tasse aus sehr feinem Porzellan ein und begann ihn
zu trinken. Zwischen einem Schluck und dem nächsten roch er am aromatischen
Getränk.
- Marta macht
einen wirklich guten Kaffee. Ich muss sie belohnen. Und jetzt bin ich etwas
müde, lieber Volpi, ich würde gerne andere Dinge tun, als ständig Dokumente zu
lesen und zu unterschreiben. Ich hoffe, dass es momentan nichts Weiteres gibt.
- Eure
Heiligkeit, ich verstehe sie. Allerdings gäbe es ein Dokument, über das die
Finanzregierung gerne ihre Meinung erfahren würde. Hier ist es.
- Meine Meinung
zu einem Dokument von Euro?
- Ja, schon.
Euro braucht die Kirche, auch wenn das eine unbedeutende Sache ist.
- Worum handelt es sich?
- Euro wünscht,
dass der neue Kult, der sich gerade in Rom ausbreitet, als ketzerisch erklärt
wird.
- Was ist das
für eine Geschichte? Wen muss man in unserem multikulturellen Rom mit all seinen
verschiedenen Völkern noch als Ketzer betrachten, wo sich esoterische Kulte
ununterbrochen vervielfältigen?
- Eure
Heiligkeit, es handelt sich um eine besondere Sekte, die selbst Euro fürchtet.
- Euro hat
Befürchtungen? Sonderbar, - rief Justus aus, der inzwischen seine gute Laune
wiedergefunden hatte, - und was predigt diese Sekte? Wem folgt sie?
- Sie folgen
Christine, einer Nomadin.
- Einer Nomadin?
Woher kommt sie?
- Von einem
Roma-Lager an einem entfernten Strand Siziliens.
- Interessant, sprechen
sie weiter.
- Es ist ein
Strand, der von den Behörden umzäunt wurde und einige Roma sind darin eingeschlossen…
diejenigen, die nicht arbeiten wollen, die auf ihrer Bettelei beharren.
- Unsere armen
Roma-Brüder sind seit jeher verfolgt worden. Sagen sie mir aber noch etwas über
Christine.
- Ja, ihr
primitives Nomadenleben wurde von den Anhängern Euros unmöglich gemacht. Sie
haben sie verfolgt und dann eingesperrt.
- Wo ist sie
jetzt?
- Genau hier in
Rom, im Gefängnis und eine kleine Gruppe ihrer Jünger hat ein Lager am Stadtrand
aufgeschlagen. Dort leben sie wie in einer Art Klostergemeinschaft zusammen, wo
sie sonderbare Riten praktizieren.
- Und was
fürchtet Euro von ihnen?
- Das sind
Personen, die von den sozialen Normen abweichen… Personen, die Solidarität predigen
und in Armut, ohne Auto, Fernseher, Computer, Geschirrspüler, Mikrowellenherd,
Klimaanlage, kleine Digitalspielzeuge und sogar ohne Tablet und IPod leben.
- Wie ist das
möglich?
- Diese Frage
stellen wir uns alle und auch Euro wird sie sich gestellt haben: Wie kann es
möglich sein, auf der Welt, genauer gesagt eben hier in Rom in seinem reichen
Zentrum zu leben, ohne modernen Komfort zu wünschen.
- Wer weiß, vielleicht ist es möglich. Vielleicht
handelt es sich um arme, primitive und harmlose Heiden. Ich sehe allerdings
immer noch nicht, was Euro von mir verlangt.
- Ihr Beitrag
ist sehr wichtig, eure Heiligkeit. Es handelt sich nämlich um eine heikle
Frage. Auch wenn das Fernsehen keine Bilder von ihr zeigt, so ist Christine dennoch
keine Unbekannte. Sie ist eine Frau, die gewisse Kräfte besitzt, so sagt man
und viele sympathisieren mit ihr. Außerdem kann man sie nicht ohne anerkanntes
und geteiltes Motiv verurteilen: Man müsste sehen, wie die Lehre Christines
tatsächlich offensichtlich mit der Glaubenslehre der Kirche in Kontrast steht.
Wenn dem so wäre, müsste man das auch sagen, vielleicht in der nächsten
Enzyklika darauf hinweisen oder, was noch besser wäre, es im Fernsehen sagen.
- Ah, das
verlangt Euro? Und wozu würde das dienen?
- Für Euro ist
es wichtig, dass die Lehre Christines auch von der Kirche verurteilt wird.
- Ich verstehe
und dennoch habe ich den Eindruck, dass Christine nicht viel mit dieser Grundsatzfrage
zu tun hat.
- Was wollen
sie damit sagen?
- Es scheint
mir naheliegend, dass Euro nur ein Zeichen für die setzen will, die eine Sicht
der Realität schaffen wollen, die sich von der derzeitigen unterscheidet.
Lieber Volpi, sie verstehen sehr gut, dass es eine Sache ist, arm zu sein und
dennoch den Wohlstand zu wünschen und eine andere Sache, die Armut zum
Lebensideal zu erheben und sich von den Konsumgütern emotional unabhängig zu zeigen.
Und das scheinen mir die Anhänger Christines zu tun, oder?
- Ja, sie sind
utopisch.
Justus ergriff
das Dokument, das Christine betraf. In der Zwischenzeit hörte man ein leichtes
Klopfen an der Türe und Marta erschien mit einem Kuvert in der Hand wieder. Sie
gab es Justus und ging weg.
- Ich kann die
Lehre Christines nicht als ketzerisch erklären, - sagte Justus mit ruhiger Stimme.
Dann wendete er seine Aufmerksamkeit dem Briefumschlag zu, den Marta ihm
übergeben hatte. Er öffnete ihn, war aber überrascht, keinerlei Nachricht darin
zu finden. Er fand nur eine Fotografie, die eine Frau mit olivfarbenem Teint
darstellte, die vollkommen in leuchtend purpurfarbenen Satin gehüllt war. Sie
hatte dunkle, sanfte und zugleich durchdringende Augen, deren Tiefe durch ihre
dichten Augenbrauen noch unterstrichen wurde. Jenes Foto übte sofort eine
starke Anziehungskraft auf Justus aus und er betrachtete es lange. „Sieht aus
wie das Bild der Madonna”, entschlüpfte ihm der Gedanke. Justus bemerkte
sodann, wie sich die Atmosphäre um ihn herum jetzt geändert hatte. Neue, unerwartete
Gefühle hüllten ihn ein. Er fühlte sich wie gedankenfrei und gleichzeitig
leicht und unbeschwert. Als er die Augen schloss, nahm er eine große Stille
wahr, die sich im Arbeitszimmer verbreitete, in Mauern, Möbel und Gegenstände
eindrang und viel Raum in seinem Geist fand. Der Sekretär wartete
stillschweigend. Es vergingen wenige Sekunden, die zeitlos erschienen.
Justus nahm ein
Glöckchen in die Hand und ließ es erklingen. Marta erschien wieder.
- Wer hat es
dir gegeben? – fragte er, während er das Foto der brünetten Frau in der Luft
schwenkte.
- Paul.
- Wer ist das?
Was bedeutet das alles?
- Er ist mein
Bruder.
- Dein Bruder? Du
hast mir nie von ihm erzählt, - sagte Justus, während sein Gesichtsausdruck neugierig
und sanft wurde, - du hast einen Bruder und er hat dich gebeten, mir dieses
Foto zu geben?
- Ja, er liebt
die Frau, die darauf abgebildet ist, die jetzt in sehr großer Gefahr ist. Sie
braucht Hilfe. Nur der Papst kann sie retten.
- Dein Bruder
hätte das schreiben können. Kann er nicht schreiben?
- Er kann
schreiben, aber er ist ein sonderbarer Typ und hat seine gute Stellung in
London aufgegeben, um mit den Nomaden zu leben. Allerdings spricht das Bild von
Christine für sich selbst, - sagte Marta.
- Ah, dann
handelt es sich also um sie!
Nun war die
Fotografie von Christine gut auf dem Schreibtisch sichtbar. Justus sah sie
aufmerksam an.
- Es scheint,
als ob diese Frau eine sonderbare Aufregung in den Köpfen der Menschen auslösen
würde. Als ob die Finanzfachleute nicht ausreichen würden, nun kümmert sich
auch der Bruder von Marta um sie. Es wäre interessant zu wissen, wer sie ist,
was die Leute von ihr denken. Was weißt du, gute Marta?
- Wenig. Das
Wenige, was Paul mir gesagt hat.
- Was hat er
dir gesagt?
- Was kann er
sagen? Für ihn ist sie perfekt, edelmütig und wunderschön. Er denkt über sie
nach und träumt.
- Und sie
erwidert seine Gefühle?
- Eure
Heiligkeit, Christine ist eine junge Nomadin. All dies ist eine Sache für
Träumer. Glauben sie mir, ich denke, dass selbst Euro vor den Geistern seines
Verstandes Angst hat. In Wirklichkeit ist Christine harmlos.
- Sie
vielleicht, aber ihre Anhänger…?
- Anhänger? Das
ist nur eine Gruppe junger Visionäre, Leute, die sich nicht in das wirkliche Leben
einfügen können und die sich in eine Phantasiewelt aus Bäumen, Bergen,
Sternenhimmeln, Vögelchen und Vergnügungen flüchten, zu denen man ohne
Geldbeutel Zugang hat.
- Marta, vielleicht
könntest du die richtige Person sein, um Informationen einzuholen. Ja,
informiere dich, sammle genaue und konkrete Nachrichten über diese Leute. Aber
handle sehr diskret.
Paul erbittet eine Audienz beim Papst
Paul hatte
Marta das Foto von Christine geschickt und als er nun in Rom war, gelang es ihm
nicht, den Vatikan zu betreten, um sie wiederzusehen und auch den Papst zu
treffen. Er dachte, dass sie ihn wegen seines verwahrlosten Aussehens oder
wegen seines Erscheinungsbildes eines Vagabunden nicht aufnehmen würden. Was
ist ein Bild? – fragte er sich. – Ist es eine wirklich wesentliche und reale
Sache oder eine Maske, die du dir schaffst oder die andere dir geben? Abends
nimmst du sie ab und setzt sie wieder auf, wenn du morgens unterwegs bist. Einige
vergessen sie allerdings, legen sich hin, ohne sie abzunehmen und erwachen am
nächsten Morgen mit der Maske, die noch auf dem Gesicht sitzt. Sie waschen ihr
Gesicht, waschen aber nur die Maske und durch das ständige Waschen, Glätten und
erneute Betrachten im Spiegel, vergessen sie ihr wirkliches Gesicht und glauben
schließlich, die Maske zu sein, die sie tragen. Aber Justus durfte nicht an
diese Äußerlichkeiten glauben. Wenn er eine Maske hatte, so musste er sie sich
abends abnehmen, bevor er schlafen ging und wenn er in den Spiegel blickte,
musste er sein eigenes Gesicht sehen. In der Tat war er nicht ein Mann wie alle
anderen, wie diejenigen, die glauben, nur aufgrund eines zeremoniellen
Kleidungsstücks jemand zu sein. Lakaien mögen sich durch die bestickte Uniform
renommieren können, in der ihr Körper dem Wagen des Herrn folgt, so wie sie
sich eventuell durch die Kraft renommieren können, die sie führt. Justus jedoch
hatte keinem Herrn außer dem Herrgott zu folgen. Und dieser erlaubte ihm nicht,
stolz zu sein. Tatsächlich sagte er ihm, wenn er der Erste sein wollte, musste
er den anderen dienen, ihnen sogar die Füße waschen. Und das hatte der gute
Herrgott selbst getan, wie man in den Evangelien lesen kann.
Während Paul so
dachte, ereiferte er sich. Er hielt unter dem Säulengang des Petersplatzes an
und blickte in Richtung von Justus Arbeitszimmer. Warum hatte die Schweizergarde
ihn, den armen Sünder Paul, nicht wie einen Papst empfangen? In seinem
Innersten glaubte er, dass Justus ihn willkommen geheißen hätte, wenn er nur
von seiner Präsenz dort unter dem Säulengang gegenüber der Schweizergarde
gewusst hätte.
Er dachte, dass
er für eine Audienz Marta hätte anrufen müssen, eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter
hätte hinterlassen müssen: Marta, ich bin in Rom, ich bin auf einem Kahn über
das Mittelmeer gekommen, bevor ich den Tiber hochfuhr und jetzt bin ich hier
und wo schlafe ich? Es ist Nacht, alle scheinen ein Bett gefunden zu haben. Die
Katzen, die Hunde und die Füchse haben ihren Bau, aber ich habe heute Abend
nicht einmal eine kleine Matratze. Ich bin hier unter dem Säulengang. Lass das
große Tor öffnen.
Am folgenden
Morgen fanden ihn zwei Schweizergardisten unter dem Fenster des Papst-Arbeitszimmers.
- Das muss ein
Landstreicher sein.
- Oder ein
Subversiver.
Sie gaben ihm einen heftigen Stoß und Paul schreckte hoch.
- Was machst du
hier? – fragten sie ihn.
- Ich würde
gerne frühstücken.
- Wer bist du?
- Ein
menschliches Wesen, - sagte Paul irritiert und schickte sich an, aufzustehen
und wegzugehen. Aber die Gardisten hielten ihn zurück.
- Wer bist du? –
fragte einer der Wachmänner erneut.
- Und wer bist
du? Weisst du, wer du bist? – antwortete er.
- Ich bin Hans,
Schweizergardist im Dienst des Papstes.
- Ich habe dich
nicht nach deinem Namen oder deinem Beruf gefragt. Ich habe dich gefragt, wer
du bist.
- Dieser Mann
stellt sich dumm. Da können wir nur die Legionäre von Euro rufen. Denen wird
schon einfallen, wie sie an seinen Namen kommen, - sagte der zweite Gardist.
- Ihr
verschwendet Zeit. Gardisten, ich bin ein Freund von Justus, der euch noch
heute ins Tessin zurückschicken wird.
- Er ist ein
Subversiver.
- Aber nein!
Siehst du nicht, dass das ein armer alter Dummkopf ist? Der gleiche Verrückte,
der gestern darum gebeten hat, mit dem Papst zu sprechen.
- Trotzdem ist
es besser, die Legionäre von Euro zu benachrichtigen.
Kurz danach
erschienen zwei muskulöse Legionäre, die Paul ergriffen, ihn in den
Schwitzkasten nahmen und wegzerrten. Sie befuhren das Zentrum von Rom in einem
gepanzerten Fahrzeug, dann drängten sie ihn durch den Eingang eines großen
Gebäudes eines unsäglichen Handelszentrums, in dem sich Ströme von
Gebrauchsgütern ergossen. Es erschien ihr Vorgesetzter, ein grau bekleideter
Mann, der trockene und entschlossene Befehle erteilte.
- Er gehört
uns, lasst ihn nicht los, haltet ihn, aber stoßt ihn nicht, er wird sich selbst
ziehen.
Der
verängstigte Paul, der sanft wie ein Schäflein war, wäre ihnen auch gefolgt,
ohne von der nackten Gewalt gezwungen zu werden.
Nach dem
Durchlaufen unzähliger Säle durch eine dichte Menge, die zwischen den
randvollen Ladentischen mit Gebrauchsgütern pilgerten, kamen sie zum
Ausgangspunkt einer beeindruckenden Freitreppe, die zu den Manageretagen
führte. Sie liefen nach oben und betraten einen leeren Raum ohne Fenster. Paul wurde
schließlich aus dem Griff der Legionäre befreit. Er bat darum zu trinken und es
wurde ihm eine Tasse mit einem säuerlichen Getränk gebracht. Die zwei Legionäre
zeigten sich jetzt entspannt. Sie hatten ihre Arbeit gut verrichtet. Paul schlürfte
das Getränk und begann sich zu beruhigen. Er beobachtete den Chef, einen
eleganten Manager des Finanzwesens, der sich jetzt an ihn wendete.
- Beruf?
- Menschliches
Wesen.
- Schon gut.
Aber was tust du in deinem Leben?
- Aus
psychologischer, biologischer oder sozialer Sicht?
- Versuch
nicht, uns hinters Licht zu führen, denn wir wissen sehr gut, wer du bist.
- Warum fragt
ihr mich dann danach?
- Du bist wegen
Landstreicherei und Kontakten im Zusammenhang mit der Sekte Christines angeklagt.
Hast du etwas zu deiner Verteidigung vorzubringen?
- Ich bin
unschuldig.
- Das sagen alle.
Ist dir nicht bewusst, dass diese Anklagen schwerwiegend, ja sogar sehr schwerwiegend
sind? Es ist besser, wenn du mit der Justiz zusammenarbeitest.
- Was habe ich
mit der Justiz von Euro zu teilen?
- Die Fragen
stellen wir. Du und die Anhänger Christines habt dem Fortschritt und der
Produktion den Krieg erklärt.
- Ich brauche eure Produktion nicht, ich
brauche nicht viel.
- Genau darum
geht es. Was besitzt du?
- Nichts.
- Hast du keine
Elektrohaushaltsgeräte?
- Nein.
- Wieviel
Benzin verbrauchst du an einem Tag?
- Ich gehe zu
Fuß, um Wasser am Brunnen zu schöpfen.
- Strom?
- Keinen.
- Heizung und
Klimaanlage?
- Habe ich
nicht.
- Die Jacuzzi?
- Habe ich
nicht.
- Welchen Computer
verwendest du?
- Keinen.
- Also bist du
nicht einmal mit Internet verbunden?
- Nein.
- Weisst du,
dass du dafür verurteilt werden kannst?
- Es gibt viele
Leute wie mich! Immerhin achtzig Prozent der Menschheit. Ihr könnt nicht alle
Armen verurteilen.
- Du bist kein
wirklich Armer! Sicher bist du verrückt und musst eingesperrt werden.
Der
Finanzmanager beobachtete Paul aufmerksam. Er wechselte seine Fragen mit einem
verzerrten Lächeln ab und seufzte während er auf seine Uhr, einen prachtvollen,
mit Eigenleben getakteten Mechanismus blickte. Der Schimmer seiner Augen war
von einer sonderbaren Macht, einem Bewusstsein erfüllt, die Paul nicht
erfasste. Das Videotelefon klingelte. Die Stimme des Finanziers wurde sanft, verzogen
und kindlich, während sich sein Blick auf das Innenleben des kleinen farbigen
Bildschirms konzentrierte, wo eine mitteilsame Blondine erschien. Der Manager ließ
sich von der verzerrten und metallenen Stimme, die Anweisungen erteilte, wiegen
und liebkosen, ja wie in den Armen einer Amme einlullen. Dann ging das Licht
des Telefons aus und seine Augen blieben im Nichts, fern der grauen, dort anwesenden
Realität hängen.
Paul betrachtete
ihn seinerseits. Er stellte ihn sich außerhalb der Gemarkung vor, die durch
seine kostspieligen Daseinsprothesen abgesteckt war. Er sah ihn ohne sein
Mobiltelefon, ohne Designerkleidung, ohne sein großes Auto und die Dinge, an denen
er hing, ohne die Rolle, die er spielte und ohne Kreditkarten. Und da erschien
er ihm in einem anderen Licht. Vor seinen Augen offenbarte sich ein schwacher
Mann, eine verwirrte Seele. Er dachte, dass er ihm vor seinem Zusammentreffen
mit Christine ähnlich war und hatte Mitleid mit ihm.
- Du bist
verrückt. Wünschst du dir nicht ein besseres, ein anständiges und normales
Leben? Möchtest du zu verstehen geben, dass du wunschlos glücklich bist? – begann
der Manager ihn erneut zu fragen.
- Ich flüchte
nicht vor den Wünschen, sondern vor ihrer Mittelmäßigkeit, - antwortete Paul.
- Und was
wünschst du dir?
- Es geht darum
zu verstehen, was man wirklich möchte, nach Höherem zu streben und sich nicht
in den Gängen eures Emporiums zu verlieren.
- Wenn sich
alle wie du verhalten würden, würden Wirtschaft und Beschäftigung sowie BIP zusammenbrechen.
- Wenige denken
so wie ich und warum macht ihr euch also Sorgen? Es gibt viele Leute, die
allzeit bereit sind, eure Produkte zu erwerben, auch wenn sie sie nicht
benötigen.
- Aber wer bist
du, was bist du ohne einen Geländewagen, ohne Elektronik, ohne Kreditkarte,
ohne alles?
- Ich bin. Die
Realität besteht nicht im Haben, sondern im Sein.
- Schöne Worte.
Sind das die sonderbaren Ideen der Anhänger Christines?
- Nicht dass
ich wüsste, - antwortete Paul.
- Du weisst es
sehr gut. Indes seid ihr am Ende. Christine wurde verhaftet, sie kann nicht
mehr herumlaufen und Armut predigen. Sie wird verurteilt werden und auch du
wirst wie sie, wie all ihre Anhänger enden. Wohin wolltest du?
- Ich weiß
nicht, ich folge meinem Instinkt. Ich suche Christine und hoffe, dass sie
befreit wird.
- Was erwartest
du dir von ihr? Was kann sie dir schon geben?
- Die wahre
Realität wird nicht durch Konsumgüter aufgezeigt.
- Kennst du
vielleicht die Realität? Du bist nur ein armer Landstreicher. Vergiss Christine
und kehre zu deiner Arbeit zurück.
Der Manager blickte
Paul verächtlich an und ging mit den Schutzmännern im Gefolge weg.
Paul blieb
alleine in jenem engen Zimmer eingeschlossen zurück. Er verlor nicht den Mut
und dachte, dass er nicht wirklich alleine sei. Anderswo gab es Männer wie ihn,
die in ihrer Armut allerdings leidenschaftslose Beobachter der Welt waren. Sie
waren wenige und mussten schweigen, denn bisher wurde zu viel gesprochen,
während die Dinge immer unverändert oder schlechter geworden waren. Eine
fürchterliche Bereitschaft oder Notwendigkeit verwandelte die Erde gerade zu einem
Lager giftiger Industrieabfälle und die Meere zu schwarzen Erdöltümpeln. Die
Thunfische des Mittelmeeres waren bleischwer und der Kabeljau der Nordsee war
radioaktiv geworden. Der Schnee fiel im August, die Flüsse traten über die
Ufer, die Eisflächen schmolzen und die Städte versanken im Meer. Allein die
Anhänger von Euro erlebten eine Blütezeit. Sie hatten sich in alle Institutionen,
öffentlichen Büros, in die Regierungen und Gemeinden eingeschlichen und
agierten ungestört an der Verbreitung ihres Glaubens. Gleichzeitig flüchteten
sich die Weisen in die Wüsten und Randgebiete, während zahlreiche nicht zu Euro
gehörende Einwanderer sich vor den Toren des Reichs drängten, die Grenzen
überschritten, in Konzentrationslagern eingeschlossen oder zur Sklaverei
gezwungen wurden. Die Vertreter Euros liebten ihren Nächsten nicht, raubten die
Armen aus und fürchteten sie gleichzeitig. Und Christine war der zu bekämpfende
Feind. Ihre einfache Präsenz an irgendeinem Ort konnte revolutionär und umstürzlerisch
sein. Sie verbreitete eine unsagbare Freude um sich herum. Und ihr Glück war
ansteckend, so dass jeder mit aufrichtigem Herzen einfach davon beeindruckt
sein musste. So erklärte sich nicht nur die Anziehungskraft, die sie auf ihre Gefolgsleute
ausübte, sondern auch der wilde Hass der Anhänger Euros, deren Interessen sich
angesichts dieser Verzücktheit nicht mehr halten konnten. Die Vertreter Euros
wussten sehr gut, dass ihre Macht auf dem Versprechen eines vergänglichen
Glücks, auf der Werbung, gründete. Christines verzücktes Verharren in der Gegenwart
versetzte sie in Unruhe. Ihr sonderbares Glück, dieses unmittelbare, in der
Gegenwart verankerte Glück, das auf nichts, auf keinem mondänen Bild, keinem
Besitz und keiner Macht basierte, würde ihren Institutions- und Polizeiapparat
ebenfalls wie eine Sandburg zusammengebrechen lassen. Dies war absolut nicht annehmbar,
wenn es nicht absurd gewesen wäre. Die Anhänger Euros hatten Angst vor dem
sanften Lächeln einer armen und glücklichen Frau. War dies nicht widersinnig? Eine
unerklärliche Sache? Die Macht von Euro wankte vor dem zufriedenen Lächeln der
Armut.
Christine sprach
nicht, erschien nicht im Fernsehen. Und wäre sie dort aufgetreten, so wäre ihre
Kraft geringer oder gar nichtig gewesen. Sie hätte sich in den Sog der Welt der
Massenmedien eingefügt, wo eine scheinbare Freiheit von Wort, Ideen und
Meinungen herrschte. Vor allem die Ideen und Worte der Werbung, die die
Möglichkeit glücklicher Welten aufzeigten, sprudelten überall wie Perlen im
Mineralwasser. Jede Idee konnte frei verbreitet, sodann verarbeitet und zu
einem Fernsehbild, einer erfundenen Geschichte, einer Soap-Opera, zu einer Ware
umgeformt werden. Die Macht Euros war konkret, durchschlagend, manipulierte die
Menschen, betonierte und verschmutzte die Welt, zerstörte die antiken Kulturen,
vereinheitlichte das Bewusstsein und verdarb den Geist. Die Anhänger Christines
suchten jedoch einen Weg zur Erlösung und folgten anderen Werten. Sie kämpften
nicht direkt gegen Euro. Ihnen war bewusst geworden, dass seine Macht stark und
im Herzen der Menschen gut verwurzelt war. Auch wenn er niedergerissen worden
wäre, so hätten die Gewinner den Platz der Besiegten eingenommen und Euro wäre
wieder erstanden. Die Anhänger von Christine hatten also beschlossen, ihn zu
ignorieren. Sie lebten wie Geschwister, tauschten Gaben aus, hatten aufgehört,
sich in einer auf Wettbewerb ausgerichteten Welt zu stressen und zu kämpfen und
hatten sich der unbeschwerten Intensität des Lebens gewidmet. Das Schweigen Christines
sprach die Wahrheit. Wenn dich Christine betrachtete, dann fühltest du sie im
Herzen. Ihr Lächeln eroberte dich, vertrieb die Worte, die sich vorher
selbständig in deinem Geist Gehör verschafften. Es wurde dir bewusst, dass der
Raum deines eigenen Lebens nicht von Worten begrenzt, sondern erweitert und unbeschwert
war. Du konntest verstehen, dass du nicht die vom Verstand gewünschten Dinge,
sondern die vom Herz ersehnten brauchtest. Du wünschtest nicht die Dinge, die
Macht von Euro. Vielmehr wolltest du Liebe, auch wenn du nicht wusstest, wie du
sie verwirklichen, wie du dich einnehmen und einhüllen lassen solltest.
So überlegte Paul
gerade vor sich hin, während er im Büro des Managers eingeschlossen war, hinter
einem schweren Tisch saß und auf die weitere Entwicklung der Ereignisse
wartete. Schießlich hörte man Schritte im Gang. Der grau gekleidete Mann
erschien wieder.
- Du kannst
gehen. Wir wissen nicht, was wir mit einem wie dir anfangen sollen. Unsere
Hoffnung ist es allerdings, dass du dich eines Besseren besinnst. Kehre zu
deiner Arbeit zurück, die hervorragend war… das wissen wir. Verdiene Geld und
gebe es wieder aus, halte die Wirtschaft am Laufen und trage zum unendlichen
Wachstum unseres Gottes BIP bei. Alles andere ist Wahnsinn.
Dann bat er Paul,
ihm zu folgen. Sie durchquerten erneut die Säle des Handelszentrums und Paul
fand sich frei auf dem Gehsteig einer überfüllten Straße der Stadt wieder.
Er tat einige
Schritte in der Nähe des Emporiums und kehrte dann dorthin zurück. Die Lichter
waren grell und es gab unendlich viele Gegenstände zu kaufen. Man fand alles,
jegliches Ding, das der menschliche Geist nur wünschen konnte. Paul begab sich
in die Kleidungsabteilung. Mit seinem erbettelten Geld erwarb er ein neues Paar
Schuhe und ein Priestergewand, das er anzog.
Langsamen
Schrittes ging er erneut in Richtung Vatikan und verweilte dabei mitunter bei
der Betrachtung seines in den Schaufenstern der Geschäfte widergespiegelten
Bildes.
„Wer bin ich? Vorher
glaubte ich es zu wissen. Ich war ein Manager. Jetzt kann ich mich jedoch nicht
mehr definieren. Aber ich bin, ich bin einfach, während die anderen mich nach
dem beurteilen, wie ich mich präsentiere und was ich trage. Und vielleicht
lassen sie mich in dieser Bekleidung als Pfarrer im Vatikan eintreten,” dachte
er.
Er stellte
sich erneut der Schweizergarde vor.
- Ich werde vom
Papst zu einer Audienz erwartet. Hier ist die Einladung, - sagte er und zog aus
der Innentasche des neuen Gewandes das Etikett hervor: „Chemisch reinigen.
Reine Schurwolle aus Cashmere”.
- Hier entlang,
Pater Cashmere, der Audienzsaal ist auf dieser Seite, - und der
Schweizergardist verneigte sich und ließ ihn passieren.
Im
Vatikanpalast bemerkte Paul die flüchtigen, aber ausdrucksvollen Blicke in
Richtung seines schwarzen Gewandes, das ihm den Anschein eines antiquierten
Landpfarrers gab.
Er durchlief
einen langen Gang, bog nach rechts ab und stieg hoheitliche Freitreppen hinauf,
die mit dicken, roten Teppichen versehen waren. Er durchquerte einen antiken
Eingang und befand sich in einem enormen, leeren Saal, dessen Wände mit
Freskenbildern sakraler Geschichten bedeckt waren. Am Ende des Saals stand ein
geschnitzter Holzstuhl, neben dem sich eine Tür befand, die Paul durchlief. Er
trat in ein Zimmer ein und sah sich weiteren Treppen gegenüber. Er ging hinauf
und erreichte einen Dachgarten mit üppig wachsenden Pflanzen. Hier erblickte er
einen alten Liegestuhl, auf den er sich bettete. Die Sonne ging hinter einer
Zwergpalme unter.
Der Traum von Justus
Als es Abend
wurde und er, nach seinem Gespräch mit Volpi, allein zurückblieb, hatte Justus
entspannt auf einem Sessel des Arbeitszimmers zu meditieren begonnen. Er fühlte
sich in jenem gut eingerichteten, geräumigen, aber nicht zu großen, schnörkellosen,
wenn auch nicht sterilem Raum wohl. Er blickte um sich und betrachtete die dekorierten
Wände, die Bilder und antiken Regale voller Bücher, die ausgeschaltete, von der
Decke hängende Lampe und die zarte Flamme einer Kerze. Alles erschien ihm
vertraut. Nun wirkte die schwierige Beziehung zu Euro und seinen Finanzfachleuten
nicht mehr so besorgniserregend. Im Übrigen hatte er sich nie von Menschen
beeinflussen oder einschüchtern lassen, die für ihn nur Werkzeuge größerer,
undurchschaubarer und mysteriöser Kräfte waren. Sicherlich war die Situation
schwierig. Die Welt war heidnisch geworden. Euro versuchte die Kirche für seine
Zwecke zu benutzen. Die Kirche beugte sich jedoch nicht, ja sie war sogar wieder
missionarisch unter den Ungläubigen tätig. Das Papsttum hatte noch seine
Bedeutung, war eine Mission, die vor dem Ende der Zeit zu erfüllen war.
Die Gedanken
von Justus kehrten beharrlich zu Christine zurück. Er wusste wirklich wenig von
ihr. War sie tatsächlich eine Heidin? Und wie erklärte sich der Verdruss, den
sie der Macht bereitete? Die Macht der Finanzfachleute, die wirklich heidnisch
und von materiellen Dingen eingenommen waren, die fern der ewigen göttlichen
Wahrheit agierten, konnte nicht von einem einfachen esoterischen Kult behelligt
werden. Es musste sich um etwas ganz anderes handeln. Und wie erklärte sich
dann diese Unbeschwertheit, die er jetzt fühlte, während er erneut das Bild
betrachtete, das ihm Paul geschickt hatte?
Er blickte um
sich. Im Halbschatten, der vom schwachen Licht einer Kerze beleuchtet wurde,
warf ihm ein großer Spiegel ein dunkles Bild zurück. Er aber fühlte sich leicht
und unbeschwert, ging in das Schlafzimmer und legte sich nieder. Durch das
Fenster drang ein Mondstrahl ins Zimmer und beleuchtete sein Gesicht. Justus
war jetzt eingeschlafen und…
Marmorblöcke
bildeten eine Freitreppe, die sich durch einen dichten Wald einen Berg hoch
schlängelte. Justus schritt langsam dahin, setzte sorgsam seine Schritte, beobachtete
die Blätter und Zweige, die majestätischen Baumstämme, die von einem leichten
Wind liebkost wurden. Er drehte sich um, um das Panorama zu betrachten. Auf
einer Seite erstreckte sich der Wald soweit das Auge reichte, während in der
Gegenrichtung einsame, schneebedeckte Gipfel und ein weitläufiger Himmel
sichtbar waren, dessen Wolken golden und rosa gefärbt waren. Justus lauschte
dem Rauschen der Bäume, der Stimme der Bäche, der Stille des endlosen Raums. Als
er den Gipfel des Berges erreicht hatte, erblickte er eine kleine Lichtung. Er
überquerte sie und sah, dass sie in einem Abgrund endete. An dessen Rand stand
ein Thron, auf dem Euro vor einem großen LCD-Bildschirm saß.
- Euro, was
machst du hier am Rande des Abgrunds? Ist dein Standort nicht Frankfurt?
- Ich habe dich
erwartet.
- Du stehst auf
der Kippe und könntest von einem Moment zum nächsten fallen.
Euro antwortete
nicht, lachte aber einige Augenblicke lang und sein schrilles Gelächter, das
aus einer unheilvollen Tiefe zu entspringen schien, ängstigte den Wald, der
plötzlich verstummte. Dieses Schweigen der Natur war angespannt und von einer
unerträglichen Schwere erfüllt. Dichte Wolken, die von einem eisigen Wind
herangetragen wurden, senkten sich düster zwischen den Bäumen herab. Nach
langen Sekunden setzte dann zunächst nur von Zeit zu Zeit schüchtern hier und
dort und danach im ganzen Wald der Gesang der Vögel erneut ein und man hörte
auch die Stimmen der wilden Tiere wieder.
- Justus, betrachte
diesen Bildschirm hier und lasse dich nicht von der Natur ablenken. Schau dir
Rom an, siehe deren Bewohner, die in ihren luxuriösen Häusern leben. Sieh dir
die Fabriken an, in denen tausend Dinge hergestellt werden und die Handelszentren
voller Güter. Siehst du? Zuerst war es eine Wüste, eine Wüste mit Bäumen,
Tieren, Bergen, mit wilder Natur. Wir haben das allerdings mit unserer Arbeit
umgeformt. Wir haben die Berge durchlöchert und Eisen, Diamanten und Gold herausgezogen.
Du solltest nicht ohne all diese Dinge leben. Wir haben die Flüsse aufgehalten,
die Täler überschwemmt, die Tiere eingesperrt, wir haben sie umgebracht und zerbissen.
Wir haben hundertjährige Bäume ausgemerzt und haben sie zermalmt. Wir haben
Landstriche und Strände zementiert, große Vororte vor den Städten errichtet.
Wir haben Waffen produziert und an die Armen verkauft. Wir haben Waren von
einem Ende der Welt zum nächsten transportiert. Wir haben Arbeit,
Beschäftigung, Wohlstand und Reichtum für die Leute geschaffen. Das haben wir
mit unserer Macht getan.
Justus blickte
auf den Bildschirm und sah Rom, den Ruhm Roms voller unzähliger Gegenstände aus
Gold und Silber. Er sah Teppiche, Sklaven, Autos, Videotelefone,
Mikrowellenherde, Computer, Klimaanlagen, Elekrohaushaltsgeräte, Tablets und
iPods.
- Justus, auch
du kannst glücklich sein und all diese Dinge besitzen. Ich werde sie dir geben,
wenn du Christine aus deinem Herzen verjagst, wenn du vor mir niederfällst und
mich vergötterst.
Als Euro diese
letzten Worte aussprach, erschien er verwirrt und seine Augen entflammten sich,
ja sie sprühten sogar Feuer. Er bebte am ganzen Leib und fieberte einer Antwort
entgegen. Schwarze Sturmwolken zogen aus der Tiefe des Tals herauf.
- Alsdann,
Justus, denk darüber nach. Du bist Papst, aber das bedeutet jetzt nicht mehr so
viel. Du bist nur eine Galionsfigur und deine Macht hat sich im Laufe der
Jahrhunderte aufgerieben. Du musst wie am Anfang neu beginnen, wie damals als
du ein christlicher Bischof im römischen Kaiserreich warst. In der
Vergangenheit hast du Gutes geleistet. Dein Verhalten war tadellos. Es gefiel
mir, dich um die Macht kämpfen und das Blut von Unschuldigen und Ketzern
vergießen zu sehen. Allerdings hat sich die Geschichte nicht in die richtige
Richtung entwickelt. Und wer bist du jetzt? Was besitzt du? Du bist verarmt.
Verneige dich, werfe dich vor mir nieder, vergöttere mich und ich werde dich
sehr großzügig entlohnen, ich werde dich erblühen lassen und deine Macht wird
erneut aufkeimen. Die Könige werden dir wieder gehorchen und ich werde immer an
deiner Seite sein. Verneige dich, Justus.
Justus schwieg
entgeistert. Würde Euro sein Versprechen einhalten, wenn... aber sich vor ihm
verneigen? Demütigen? Warum? Für die Macht des Geldes... auf seine Freiheit
verzichten, Euro zufriedenstellen, ihn erneut in seinem unendlichen Podestat
bestätigen, ihn anerkennen und folglich unter der lobpreisenden Menge als
Triumphator nach Rom zurückkehren, Papst sein, ein echter Papst und Herr,
verehrt, gefürchtet, fast angebetet werden und die Gläubigen in Richtung des immanenten,
materiellen Paradieses führen.
Man hörte einen markerschütternden Aufschrei:
Ein einsamer Fuchs schrie wie ein gequältes Kind und danach gab es eine kurze,
schmerzerfüllte Stille.
- Nein! – rief
Justus mit einer Stimme aus, die sich aus einem tiefen Inneren zu befreien
schien, darin bebte und widerhallte, um dann in der Lichtung zu verklingen.
- Nein, - wiederholte
er gelassen, - deine Angebote interessieren mich nicht. Ich werde meinen
Herrgott verehren. Verlasse mich, weiche von mir, Euro, du denkst nicht nach
dem Gebot Gottes, sondern nach dem des Profits.
Euro erblasste.
Er fiel in seinem Thron zusammen und seine Augen füllten sich mit Blut, Hass
und Verzweiflung. Man hörte das Getöse eines Donners.
Justus gelang
es gerade noch rechtzeitig, zurückzuspringen, als sich plötzlich zu Euros Füßen
ein Erdloch auftat. Dieser versank noch auf seinem Thron sitzend darin und
wurde von einer schwarzen Wolke verschlungen, die von roten Funken durchbrochen
wurde.
- Welch eine
Erleichterung! - sagte Justus. – Armer Teufel, das war dein Ende.
Sodann erwachte
er stark beeindruckt aus seinem Traum und hatte Schwierigkeiten wieder einzuschlafen.
Er dachte, dass ihm eine Runde an der frischen Luft zwischen den Pflanzen des
Dachgartens gut tun würde und erhob sich.
Justus trifft Paul
Justus begann
im Dachgarten des Palastes zu spazieren. Er war vollkommen von Stille umgeben,
nahm Paul wahr, der unter einer Zwergpalme sitzend ruhte und dachte, dass dies
der Gärtner sein müsste.
- Haben sie
alle Pflanzen gegossen? – fragte er ihn.
Paul erwachte
durch diese nachdrückliche, ja fast gebieterische Frage und erinnerte sich
nicht, wo er war.
- Um die Wahrheit zu sagen, hatte ich keine
Zeit dazu. Aber wie spät ist es? Wer hat das Licht angemacht? – antwortete er.
- Es ist eine
Mondnacht.
- Ja, der Mond
ist hell.
- Der römische
Mond.
- Er kommt
überall hin, er fährt zur See, durchquert die Wolken, fliegt über die Hügel und
bleibt dann am Himmel von Rom stehen.
- Er reist auch
durch die Zeit.
- Wenige
betrachten ihn. Ich sehe mir lieber den Mond an. Wissen sie, ich habe keinen
Fernseher, - sagte Paul.
- Ach, sie auch
nicht!
- Ich auch
nicht? Was möchten sie damit sagen?
- Ich möchte
damit sagen, dass einige Menschen unserer Zeit nicht fernsehen.
- Im Mond kann
man alles sehen, alle menschlichen Programme.
- Dazu braucht
man allerdings Fantasie. Schlafen sie heute Nacht nicht im Zimmer?
- Ehrlich
gesagt wissen sie nicht, dass ich angekommen bin. Da waren diese
Schweizergardisten, die mich dem Papst vorstellen hätten sollen. Ich habe sie
darum gebeten, aber sie haben mir nicht geglaubt.
- Was haben sie
nicht geglaubt?
- Dass auch ich
das Recht habe, mit ihm zu sprechen.
- Und wer sind
sie?
- Also nein,
jetzt reicht es! Justus, stell mir nicht auch du die gleiche Frage. Ich bin.
Muss ich auch für dich irgendjemand oder irgendetwas sein? Muss ich ein
wohldefiniertes Bild sein, um anerkannt zu werden? Ich bin ein Mensch, das
sollte dir genügen! – rief Paul also mit Nachdruck aus. Dann blieb er ruhig vor
dem Papst, der ihn stehend betrachtete, auf dem Liegestuhl sitzen.
- Nun gut,
einen Namen wirst du schon haben, - sagte
Justus gelassen zu ihm.
- Paul.
- Ah, dann bist
du das!
- Wer ich?
- Du bist ein
Zig... ein Obdachloser, der Bruder von Marta.
- Marta? Marta kenne
ich. Auch sie betrachtet den Mond.
- Ja schon.
Inzwischen sagst du mir aber, woher du kommst?
- Aus London
und ich werde mein Nomadenleben bald wieder aufnehmen.
- Wie sonderbar.
Nun sind viele als Landstreicher unterwegs. Andererseits ist das Leben in der
Stadt unerträglich geworden. Du bist also einer von ihnen.
- Von ihnen?
- Hast nicht
gerade du mir das Foto von Christine geschickt?
- Ja.
- Ich bin
neugierig, etwas mehr über sie zu erfahren. Erzähle mir von ihr.
Justus setzte
sich neben Paul und war bereit zuzuhören. In der Zwischenzeit hatte sich im Dachgarten
ein leichter Wind zwischen den Blättern der Zwergpalmen erhoben. Paul hüllte
sich indes in ein zurückhaltendes Schweigen.
- Niemand kennt
Christine.
- Nein? Du
wirst bestimmt etwas Kontakt zu ihr gehabt haben.
- Ja, ich habe
sie getroffen und werde sie nie wieder vergessen können. Sie lächelte mir zu
und ich wurde von einem Gefühl der Wärme inmitten der Brust überwältigt, meine
Gedanken beruhigten sich, ich fühlte mich glücklich. Ich begriff, dass sie
immer neben und in mir gelebt hatte. Es hatte immer eine Christine in meinem
Herzen gegeben.
Während Paul
dies sagte, wurde er von Rührung ergriffen und konnte nicht weitersprechen.
Justus schwieg. Der Mond stand hoch am Himmel.
- Ja, Paul, - sagte
schließlich Justus mit väterlicher Stimme. – Ich verstehe dich. Aber sage mir
doch lieber, welches Verhältnis ihr Anhänger von Christine mit der Macht von Euro
habt?
- Keines. Nur
die Vertreter Euros erbosen sich gegen uns. Sie klagen uns an, dass wir keinen
festen Wohnsitz haben und nicht arbeiten.
- Und du
arbeitest nicht?
- Ja, besser
gesagt, ich arbeitete. Ich arbeitete für das Geld und wollte mich so bereichern
und habe das auch getan. Dann habe ich allerdings alles zum Teufel geschickt.
Jetzt tue ich nur das, was mich erfreut und niemand bezahlt mich. Ich glaube,
dass ich deswegen verhaftet und registriert wurde.
- Euro hat
Angst vor Gespenstern. Und sage mir, wo befindet sich diese deine Christine nun?
- Sie ist hier
in Rom.
- Warum? Was
tut sie hier?
- Die Anhänger
Euros halten sie gefangen. Sie wollen ihr den Prozess machen. Du musst eingreifen,
Justus, du musst sie beschützen. Ohne dich ist sie verloren.
- Verloren...
Christine wäre verloren und warum sollte ich sie beschützen und Euro
herausfordern? Du kennst seine Macht nicht. Er ist entschlossen, einflussreich
und ist zu allem bereit, um seine Pläne zu verwirklichen, um jede seiner
kleinen Marotten zufriedenzustellen. Und Christine ist sicher nur eine Marotte
für ihn. Er hat wichtigere Dinge zu tun. Du solltest dich dagegen nicht in
seine Angelegenheiten einmischen. Lasse Euro alleine gegen seine Gespenster
kämpfen. Ich begreife nicht, wie diese Frau es schafft, die Leidenschaft der
Menschen anzuheizen, eure Seele zu besitzen und euch zu unterwerfen.
- Du sprichst
so, weil du sie nie gesehen hast.
- Welche
Bedeutung kann ein Treffen mit ihr haben? Ich frage mich, ob sie in deiner Lage
als… ja als Landstreicher nicht nur ein Trost ist. Vielleicht würdest du sie
vergessen, wenn du eine Bleibe und Zuneigung hättest.
- Das könnte
ich nicht.
- Du ziehst
herum, folgst Christine, einem zu verehrenden Bild, einer Idealfigur. In ihr
suchst du das, was in dir, in deiner Tiefe wohnt. Denn vielleicht suchst du nur
dich selbst.
- Du könntest
sogar Recht haben, Justus. Dennoch braucht Christine deine Hilfe.
- Gott wird ihr
helfen. Wenn Gott sich in dieser Angelegenheit meiner Person bedienen will, so
wird er es tun. Ich verspreche dir allerdings nichts. Suche du dagegen, statt
deine Zeit auf den Straßen der Welt zu verlieren, das Wahre und Ewige, suche
die unendliche, transzendente Wirklichkeit, die jedoch mitten unter uns, in uns
ist und… höre, Marta hat mir von dir erzählt. Du bist ein gebildeter Mann, hat
sie mir gesagt. Das ist schön, aber du musst dennoch leben und arbeiten.
- Arbeiten... um
was zu tun? Um unnötige Güter, Gifte und Bomben herzustellen? Das interessiert
mich nicht. Viele Arbeiten sind ein Sklavendienst. Andere sind Spiele für
unreife Jungs. Sie sind langweilig und entfremdend. Man sollte nicht mehr
arbeiten, als man zum Leben braucht, um die echten, wesentlichen Bedürfnisse
zufriedenzustellen.
- Die Arbeit
ist in jedem Fall nützlich.
- Einige
Arbeiten sind es.
- Du könntest
eine nützliche Arbeit verrichten.
- Auch Betteln
ist eine Arbeit und ich bin frei.
- Aber du lebst
auf Kosten anderer. Was die Freiheit angeht, so kann es jedoch sein, dass du
nur flüchten, von Ort zu Ort ziehen und dein unmögliches Ideal von Armut
predigen willst.
- Ja, wie das
bereits dein Herr getan hatte.
Justus
antwortete nicht, erinnerte sich an sein jüngstes Gespräch mit Volpi und seine
eigenen Worte zugunsten der Armut. Dann erfüllten ihn plötzlich andere
Gedanken. Der erste morgendliche Sonnenstrahl fiel auf sein vom frühen
Aufstehen müdes Gesicht. Warum konnte er nicht wieder einschlafen und hatte die
Notwendigkeit gefühlt, in den Garten zu gehen? Und warum wurde er dann von
sonderbaren Träumen geweckt, wenn er sich nach einem langen Arbeitstag durch
einen sanften Schlaf erholte? Er wendete sich erneut an Paul:
- Stelle dich
bei meinem Sekretär vor. Wir benötigen einen Archivar. Wir werden dir eine
monatliche Präbende geben und du wirst zur Ruhe kommen.
Sie
verabschiedeten sich.
Die Konversion
Justus kehrte
in seine Gemächer zurück, betrat das Arbeitszimmer und betrachtete das auf dem
Schreibtisch aufgehäufte Papier. Dann setzte er sich und sah sich um, wie er
das in besinnlichen Augenblicken zu tun pflegte. Das Zimmer schien durch eine
neue Präsenz belebt zu werden. Wie ein berauschender Duft lagen eine Sanftheit
und ein endloser Frieden in der Luft, die sich vollkommen grenzenlos über die
Wände des Arbeitszimmers hinaus ausdehnten. Justus fragte sich, woher dies wohl
käme. Dann versenkte er sich in sich hinein, schien sich jedoch selbst fremd
und mysteriös. Er hatte ein neues Gefühl, eine sanfte Seinsspannung, die er
vielleicht nur wiederfand. Sodann nahm er Kaffeeduft wahr, was die Ankunft Martas
ankündigte. Und tatsächlich war ein schwaches, fast schüchternes Klopfen an der
Türe hörbar.
Es kam eine
brünette Frau herein, die leichten Schrittes vortrat und das Frühstückstablett
auf den Schreibtisch stellte. Danach wendete sie sich zu Justus und lächelte.
Justus riss die
Augen weit auf und betrachtete sie erstaunt. Dann hatte er das Gefühl, die
Besinnung zu verlieren und konnte nur noch einen Namen flüstern: Christine...?!
Justus war ein
guter Papst gewesen und hatte eine neue Energie in die seit Jahrhunderten bestehende
vatikanische Institution eingebracht. Es war ihm gelungen, ein hervorragendes
Gleichgewicht zwischen dem tiefgründigen Wert seiner Mission und den
politischen und choreografischen Funktionen zu schaffen, die sein Amt von ihm
verlangte. Außerdem hatte er es geschafft, der Christianisierung neue Vehemenz
zu verleihen, indem er nicht mehr das starke und dogmatische Gesicht der Kirche
hervorhob, sondern die Liebesbotschaft Jesu in den Mittelpunkt seiner Predigten
stellte. Wenn er nun sogar eine hohe Position in der Papstgeschichte erreicht
hatte, weil er auch die Möglichkeit hatte, weitere ausgefallene Visionen seines
Pontifikats zu verwirklichen, so blieb ihm eine Art Unzufriedenheit. Er fragte
sich, warum diese in seiner Seele verspürte Leere ständig wiederkehrte. Darüber
hinaus fragte er sich auch, ob eine gewisse Rastlosigkeit, die sich in seinem
von sonderbaren Träumen gestörten Schlaf zeigte, nicht nur vom Zwiespalt mit
Euro, sondern auch mit der Kurie herrührte. Und er dachte, dass die Quelle seines
oft in ihm aufkeimenden Unbehagens sicherlich dennoch nicht durch andere
zustande kam. Vielmehr waren vielleicht die unharmonischen menschlichen Beziehungen
nur der Ausdruck einer viel größeren Dissonanz im Herzen des Mannes, in seiner
Existenz und Identität. Obwohl ihm die päpstliche Macht, die im Vergleich zu
der eines großen Managers im Vorstand einer Multinationalen von Euro wirklich
bescheiden war, sicherlich einen starken und befriedigenden Identitätssinn
verleihen musste, so berauschte sich Justus nicht an ihr. Sein Bewusstsein um
die menschliche Vergänglichkeit bildete für ihn das Gegengewicht zu jeglicher
Überschwänglichkeit des Ichs. Selbst die Größten mussten sich doch immer wieder
erden. Justus saß auf dem Stuhl Petri, betrachtete den großartigen Palast und
wusste dennoch, dass die gewaltigsten menschlichen Bauten auf dem Boden ruhten.
Auch das Leben bedeutender Männer musste unten auf der Erde verankert sein, die
sie hervorbrachte und nährte und die sie sich zurückholte. Welchen Sinn hatte
jede Identität und jede Macht in Anbetracht der Sicherheit, dass jeder
menschliche Weg endete? Und welchen Sinn konnte das vergängliche Menschenleben
ohne Glauben haben? Justus lächelte mitunter über die hartnäckige Bindung, die
die Vertreter Euros an Macht und Reichtum, an ihr Ego zeigten. Dessen Kraft war
für ihn nichts anderes als eine Verschleierung einer nicht eingestandenen Beklemmung
angesichts der Vergänglichkeit aller Dinge, angesichts des unausweichlichen,
zukünftigen Endes ihrer Herrlichkeit, ihres Namens und Bildes. Sie beherrschten
gleichsam Natur und Menschen und, obwohl sie glaubenslos waren, strebten sie
durch Herrschaft und große Eroberungen nach Ewigkeit. Ihre Suche war jedoch
vergeblich. Sie war nur eine große Illusion. Ebenso war die Verehrung Euros
nichts anderes als ein leerer Ersatz für den wahren Glauben.
Auf diese Weise
verfolgte Justus ständig viele verschiedene Gespräche in sich. Es kam ihm auch
in den Sinn, in die Vergangenheit zurückzukehren. Er fragte sich, ob seine
derzeitige Unzufriedenheit und die sonderbaren Träume eine entfernte Ursache
haben könnten. Er erinnerte sich an die Etappen seines Lebens, die Erfolge, die
großen Kämpfe und Siege, die ersten Liebesleiden, die unwiderrufliche
Entscheidung für das Zölibat und den geistlichen Weg. Außerdem rief er sich
dann vielleicht noch mehr die Jahre seiner Kindheit ins Gedächtnis. Er dachte
an seine Eltern, seine Mutter, kehrte zu dem Gefühl, ja sogar Duft des Lebens
zurück, die sie ihm übertragen hatte, sie, die ihn in ihrer Lust empfangen
hatte... Und war seine Herkunft mit dem Verlangen verbunden, das das Leben nach
sich selbst hat? War sie ein Zufall oder ging sie aus etwas anderem hervor und
woraus? Aus Gott? Für ihn war es leicht, zu leicht von Gott zu sprechen. Seine
umfassenden Theologiestudien befähigten ihn in höchstem Maße theoretische
Lösungen auf alle existenziellen Fragen zu finden. Allerdings war es nicht das,
was er eigentlich wollte. „Gott” war jetzt – und dies schien ihm einigermaßen
schwerwiegend – nur zu einem Wort, einem Konzept geworden, das von Theologie,
Geschichte, Macht sowie von einigen seiner Vorgänger missbraucht wurde. Sicherlich
hatte er den Glauben nicht verloren. Vielmehr wollte er Gott jetzt in sich
selbst, außerhalb jeglichen Namens und jeder Doktrin wiederfinden. Er erinnerte
sich auswendig an die Worte des Heiligen Maximus Confessor: „Mit der heiligen
Beteiligung an den reinen und belebenden Mysterien empfängt der Mensch
Vertrautheit und Gleichheit mit Gott. Dadurch wird er aus dem Menschen, der er
war, zu Gott“. Dies schienen ihm aber große Worte, die den orientalischen
Mystizismen zu nahe lagen. Justus blickte jedoch in sich und hier suchte er in
seinem Gefühl, das sicher und grundlegend, in Einheit mit Gott sein musste. Es
war, als suchte er nach der Verwirklichung des göttlichen Ursprungs, einer
weitreichenderen Dimension der Grenzen seines persönlichen Lebens.
Über all das
dachte er in den Augenblicken der Schwäche und vor allem in den Tagen vor dem Zusammentreffen
mit Christines Blick nach.
Als er sie nun
so plötzlich vor sich sah und nicht wusste, wie sie in seine Gemächer
eingetreten war, wurde er von einer augenblicklichen, aber tiefgehenden
Eingebung getroffen. Gott hätte ihm durch sie ein tiefes, sanftes und heiteres
Gefühl von Sicherheit und Frieden, von unerschütterlicher, innerer Kraft und
von endlosem Vertrauen in das Leben geschenkt.
Christine sprach
nicht, sie lächelte mit unsagbarer Sanftmut.
Justus wendete
ihr seine Augen zu, blickte sie einen Moment lang an und senkte dann sein Gesicht
wie geblendet ab. Er hatte das Gefühl, dass er nun in diesem Blickwechsel all
seine Fragen vergessen hatte. Er konzentrierte sich einige Sekunden lang auf sich
selbst und blickte dann erneut in ihre Augen: Dort sah er ein Licht, das ihm förmlich
wie eine Wiedergeburt und sonderbarerweise gleichzeitig wie ein Ende vorkam.
Und das war also sein Ende, das Ende seines alten Ichs und er hatte jetzt das
Gefühl zu sterben. Das Ende... sterben... er musste sterben, bevor er
wiedergeboren wurde. Es verging eine Sekunde, ein endloser Augenblick, in dem
seine Seele auf der Oberfläche eines stürmischen Meeres zu sein schien. Und die
Wellen erhoben sich gegen den Himmel und der Wind der Beklemmung johlte.
Schwarze Wolken verdunkelten die Sonne und das Boot von Justus wurde führungslos
hin und her geworfen. Ja, es konnte sogar Schiffbruch erleiden. Dann schienen
auch die Wellen zu verschwinden, auch wenn sich die See noch nicht beruhigt
hatte und die Situation extrem war: In ihm gab es keinen Seinsraum, keinen
Ansatzpunkt zum Anklammern, keinen Zufluchtsort sowie keinen Ort mehr, vor dem
man flieht und wohin man wieder zurückkehrt. Es gab nicht einmal einen
Schiffbruch, denn vielleicht wäre der noch so schreckliche Schiffbruch dem
Fehlen von Sein, dem Ersticken der Seele vorzuziehen gewesen. So schien ihn
Gott nicht nur aus seinen Gnaden zu nehmen. Vielmehr löschte er ihn jetzt von
jeglichem Ort und dies war seine Stimme, seine Leere, seine fürchterliche Art
sich zu offenbaren. Justus fühlte Gott unerträglich in seinem Herzen und in all
seinen Gliedern. Es war zu viel, aber er konnte ihm keinen Widerstand leisten;
es war unmöglich, ihm zu entfliehen. „Nicht mein Wille, sondern dein Wille geschehe”
war sein letzter Gedanke und er ließ sich auf den Sessel fallen.
Diese Hingabe ist es, die das Wunder hervorbringt
und die in zarte und erfrischende, mystische Tränen mündet. Christine nähert
sich ihm und streicht sanft über sein dichtes Haar. Justus sieht weiter wortlos
in ihre Augen. Jene Augen... strahlende Sterne in einem unsäglichen Raum mit
einer Tiefe, in der sich das Leben offenbart. Dann blickt er aus dem Fenster
und betrachtet den blauen Himmel jenseits der Säulen des Petersplatzes. Die
gegenwärtige Zeit dehnt sich aus und wird im Angesicht Christines, dem Spiegel
unendlicher Klarheit, zu neuem Leben.
Die Abdankung des Papstes
Paul, der
nichts von der Anwesenheit Christines im Vatikan wusste, hatte in der
Zwischenzeit beschlossen, seine Reise fortzusetzen. Bevor er Rom verließ, fragte
er sich jedoch, wie sein Leben verlaufen wäre, wenn er geblieben wäre. Die von
Justus angebotene, ruhige Arbeit eines Archivars wäre für einen Mann seines
Alters geeignet gewesen. Sie hätten ihm eine kleine Wohnung, Mensa-Gutscheine
und ein Gehalt gegeben. Er hätte das unbequeme Leben eines wandernden Bettlers
aufgegeben. Er hätte immer im gleichen Bett und nicht mehr unter den Brücken
oder in einem Boot am Strand geschlafen. Er wäre früh morgens aufgestanden,
hätte sich gewaschen, angekleidet, rasiert, hätte gefrühstückt und wäre in das
Archiv gegangen, um verstaubtes Papier zu ordnen. Möglicherweise hätte er
vielleicht neue Dinge entdeckt, hätte interessante Dokumente gelesen und sich
mit den anderen Angestellten angefreundet. Und wie man weiß, läuft das Leben
so: Man wird geboren, wächst heran, verlässt den Geburtsort und bindet sich an
eine neue Lebenslage. Gewohnheiten werden ausgehandelt und beibehalten, man
wird sesshaft und vergisst das Gebot Jesus: Lebt in Vergänglichkeit. Paul hatte
den üblichen Lebensweg allerdings bereits durchlaufen und fühlte sich jetzt nach
monatelangem Nomadentum in seinem Innersten zu streunerhaft, um auf die Idee
einzugehen, in einem Büro eingeschlossen zu arbeiten. Er hätte sich wieder in
eine Welt voller sicherer Gewohnheiten eingesperrt und hätte sich erneut von
sich selbst und von dem Gefühl entfernt, das ihn mit Christine verband. Dies
waren seine Gedanken, auch wenn er noch nicht wusste, dass er, selbst wenn er
gewollt hätte, nie irgendeinen Arbeitsplatz im Vatikan bekommen hätte.
Die Nachricht
von der Abdankung des Papstes erfuhr Paul aus der Zeitung und sie beeindruckte
ihn sehr. Er konnte es nicht fassen, es war einfach unmöglich. Paul fragte
sich, welchen Grund es dafür geben konnte: Die unmögliche Beziehung mit Euro,
mit den multinationalen Konzernen und mit einer inzwischen fast vollkommen an
den Rand gedrängten Kirche? Oder ging es um etwas anderes, vielleicht ein
gewisses Ermüdungsgefühl, das Justus nicht erlaubt hatte, seinen neuen
Verantwortlichkeiten gerecht zu werden? Tatsächlich gab es jetzt die schweren
Verpflichtungen für das Heilige Jahr 2050. Justus hatte sich höchstens wegen
eines sehr schwerwiegenden Grundes zurückgezogen. Welcher mochte das sein? Die
Zeitungen sparten nicht mit den unterschiedlichsten und sonderbarsten
Interpretationen. Sie sprachen auch von einer mentalen Krise, einer
geheimnisvollen Krankheit, die Justus Zurechnungsfähigkeit untergraben habe. Nach
gewissen Kommentatoren war Justus von einer religiösen und existentiellen
Leidenschaft ergriffen worden, die sich schlecht mit der historischen und institutionellen
Funktion des Papsttums vereinte. Außerdem bestand kein Zweifel daran, dass er
nach seiner Genesung die Führung der Kirche erneut übernehmen würde. Die Presse
berichtete allerdings auch über die Gründe, die Justus selbst als den wahren Grund
für seine Abdankung bestätigte und kommentierte diese. Er wäre vor der Wahl
gestanden, weiter eine Hierarchie von Seelenhirten anzuführen oder sich selbst
und seiner Berufung als Diener Gottes treu zu bleiben. Anstatt weiterhin eine
inzwischen geschichtlich eingeschränkte Rolle innezuhaben, hatte es Justus
vorgezogen, zur Quelle und zur Rechtfertigung seiner Berufung, zu den
historischen und demütigen Glaubensursprüngen
zurückzukehren. Zu dieser nicht einfachen Entscheidung kam dann noch der
Verzicht auf die restlichen Privilegien der päpstlichen Macht sowie die
Ablehnung einer anachronistischen, wenn auch noch formal angesehenen Rolle.
Darüber hinaus war die Abdankung für ihn in der Realität einer heidnischen
Welt, in der das Christentum, wenn es noch lebendig bleiben wollte, zum
Predigen, zum Lebensbeispiel und den Aposteln zurückkehren musste, die einzig
mögliche Vorgehensweise. So ließ er jegliche schwere Bürde, das Gewicht einer tausendjährigen
zeitlich unbegrenzten Institution, jede Bindung mit der Macht hinter sich.
Das Aufsehen
nach der Abdankung von Justus war groß. In aller Welt sprach man von diesem Ereignis
und Justus wunderte sich über seine plötzlich erreichte Beliebtheit. Zunächst
musste er feststellen, dass er sein altes Bild nicht wie ein Kleidungsstück
nach Belieben an- und ausziehen konnte, auch wenn es nicht mehr dem entsprach,
was er in sich fühlte. Er wurde weiter als Pontifex betrachtet, auch wenn er
abgedankt hatte, auch wenn er sich jetzt unter die einfachen Leute mischte und
mit dem Bus fuhr. Im Gegenteil, wenn er einstieg, wurde die Atmosphäre
ehrerbietig. Die Menschen forderten ihn auf, sich zu setzen. Von irgendwo tauchte
jemand auf, der ihm ein Kissen gab, andere legten ihm einen kleinen Teppich
unter die Füße. Der Autobus wurde zu einer Art ‘Papabus’, der während der Fahrt
die jubelnde Menge durchtrennte. Allerdings betraf die Beliebtheit von Justus nicht
nur ihn alleine. Auch wenn er nicht der erste abdankende Papst der Geschichte
war, auch wenn das Wahlgesetz der Kirche vorsah, dass der Papstsitz aufgrund
eines triftigen Verzichts des Amtsinhabers und nicht nur aufgrund seines Todes
als vakant betrachtet werden konnte, so öffnete seine Abdankung dennoch eine
Unmenge von Fragen, Zweifeln und Kontroversen, die nicht mehr ausschließlich
theologischer, sondern auch politischer Natur wurden und, was besonders wichtig
war, den Mann auf der Straße zu interessieren, ja manchmal zu erhitzen
begannen. Zunächst zeigten sich die stärksten Reaktionen und das größte
Aufsehen natürlich innerhalb der Kirchenhierarchie und des Christentums. Die
katholischen Prälaten waren verwirrt und fassungslos. Danach wurden allerdings
auch die Protestanten unruhig. Justus behauptete tatsächlich, dass das Dogma
von der Unfehlbarkeit des Papstes falle. Er sagte, dass das Papsttum keine
Macht-, sondern eine Dienststruktur sei, so dass also einer der Hauptgründe für
ihre Trennung von den Katholiken schwand. Was hätte dieser radikale Erneuerer indessen
noch alles gesagt und getan? Die Protestanten waren auf der Hut. Wenn sie nach
außen hin immer mit der Machtbefugnis des Papstes uneinig waren, so fühlten sie
vielleicht in ihrem Innersten und heimlich bei ihrer eigenen Unterteilung in
viele Sekten die Notwendigkeit, eines hoch gestellten und einenden Oberhaupts. Und
nun, wo Justus nicht mehr Papst war und kein Gehorsam von ihnen verlangt wurde,
nun konnten sie in Betracht ziehen, ihn zu ehren und vielleicht sogar ihm zu
folgen. Allerdings teilte das Argument der päpstlichen Fehlbarkeit vor allem
die Katholiken. Konnte man eben diese Erklärung von Justus zugunsten der Fehlbarkeit
des Papstes für unfehlbar halten? Oder war auch diese Erklärung fehlbar? Diese
Frage war nicht nur logischer Natur, sondern betraf die Ursprünge des Papsttums
und überrollte somit anfangs vollkommen die Person des Heiligen Petrus, dessen
Gebeine sich, wie manche behaupteten, im Grab umdrehten. Tatsächlich wiesen
einige Wissenschaftler auf die fehlende Eignung von Petrus als der Person hin,
die zum ersten Papst gemacht worden war. Sie behaupteten, dass ein uralter
Mangel, d. h. eben diese historische und theoretische Rechtfertigung der
unmöglichen Machtbefugnis von Petrus, einer biblisch widersprüchlichen
Machtbefugnis, jetzt nach vielen Jahrhunderten auf explosive Weise zu Tage trat.
Durch die innere Qual von Justus höhlte er, neben dem Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit,
auch die geringen Reste des Prunks und der zeitlichen Macht der Kirche aus.
Von der Frage
um die Unfehlbarkeit des Papstes ging man dann auf die seiner Macht über. Was
war indes letztendlich die Macht von Petrus? Jetzt hatte niemand mehr
irgendwelche Bedenken, sich diese Frage zu stellen, die bei Podiumsdiskussionen
debattiert wurde. War dies eine richterliche, volle, universale und
unmittelbare Macht? Nach den Worten der Wissenschaftler konnte diese Hypothese
nicht akzeptiert werden, weil die geschichtlichen Daten dies nicht bestätigten.
Tatsächlich war Jakob das richterliche Oberhaupt der Urkirche. Bestand dann
dagegen die Machtbefugnis von Petrus nur darin, die Schafe auf die Weide zu
treiben? Einige Domherren sagten, dass Petrus in Wirklichkeit nie die Kirche
getragen hatte. Vielmehr hatte er ihr mit der einfachen Aufgabe gedient, den
Glauben seiner Brüder zu bestätigen. Petrus schien eher wie ein missionierender
Apostel als ein rechtsprechender Papst aus seinem Grab zu treten.
Auch wenn
Justus eindeutig den Thron von Petrus aufgegeben hatte, hatte er im Übrigen nie
offen gesagt, dass er auch auf seine Berufung als Hirt verzichten wollte.
Schließlich bekräftigten diejenigen, die ihm treu blieben, dass seine Abdankung
die Kirche belebte und diese endlich auf ihre ursprüngliche Zahl zurück brachte.
Vor allem Euro
war von Justus Abdankung beunruhigt. Die Vertreter Euros fürchteten, dass sich
ein neues Szenario ergeben könnte, mit anderen Worten, dass ein ausgefallenes
Urchristentum sich zu einer Bewegung gegen sie verwandeln könnte. Die größte
Befürchtung lag darin, dass sich diese Bewegung mit der von Christine, mit der
stillschweigenden und verzückten Predigt einer visionären Priesterin der Großen
Mutter vereint hätte. Und dies hätte die bestehenden sozialen Werte gefährlich
verlagert, so dass diese auf eine irreale, fiktive Ebene, in eine Dimension
geschoben werden würden, die wenig oder gar nichts mit dem Wirtschaftswachstum
zu tun hatte. Wie im Fernsehen gezeigt wurde, reiste Justus jetzt auf dem Eselsrücken
in Richtung eines heiligen Ortes. Was würde er aber dann nach seinem geistigen
Rückzug tun? Würde er stumm und abseits stehen? Oder würde er sich mit Sandalen
und einer ärmlichen Kutte auf Wanderschaft begeben und dabei weiß Gott welche
neue und anachronistische Frohe Botschaft predigen? Euro hatte keine Ruhe,
konnte die Fenster der Massenmedien jedoch nicht schließen, die dem Gesetz der
höchsten Einschaltquote folgend, alle Erklärungen und Handlungen eines immer
beliebteren Justus im Detail aufzeigten. Und Euro musste beunruhigt anerkennen,
dass jetzt ein armer, zurückgetretener Papst ohne politische Macht und theokratische
Ansprüche auch dank der Unterstützung der Massenmedien einen neuen und
bedeutenden moralischen Einfluss und eine symbolische Fähigkeit erwarb, die
neue Bewegungen und neue Moden mit sich brachten. Und so schien sich die sehr
alte Prophezeiung des Heiligen Paulus zu bewahrheiten, nach der man wirklich
stark ist, wenn man Schwäche zeigt.
Einige dachten,
dass die neuen Ereignisse ein Zeichen dafür seien, dass sich die Welt als
Ganzes zu zersetzen begann. Sicher wurden langsam ganz bestimmt hier und dort
Risse, einige Trennungen, klare Widersprüche auch zwischen den reichsten Klassen
und nicht nur zwischen den gebildeten und erleuchteten Personen erkennbar. Es
setzte sich die Vermutung durch, dass die Europäische Gemeinschaft an Bedeutung
verlieren und sich auflösen könnte. Sonderbarerweise breitete sich also eine
gewisse Unruhe unter der machthabenden Elite aus. Eben diese oder Bereiche
dieser Elite, die alles besaßen und die jedes Streben nach Macht und Konsum
befriedigt hatten, wendeten sich jetzt der Esoterik, den proto-orientalischen
Kulten, all dem zu, was neu war. Diese Elite hatte die Geste des Papstes
bewundert und hätte ihn vielleicht unterstützt, wenn er die Absicht gehabt
hätte, eine neue religiöse oder politische Bewegung zu gründen. Kurzum schien
sich die Abdankung von Justus als ein unerwarteter Katalysator für bereits
vorhandene Unruhen zu erweisen und schien der Anfang für den Umsturz jener
materiellen Werte zu sein, die bis kurz vorher nicht den geringsten Zweifel auf
sich zogen. Genau diese Leidenschaft für Euro, die den einzelnen in eine
Konsumgesellschaft einschweißte, begann zumindest anscheinend, nicht mehr für
alle die bisherige Faszination auszuüben. Und dies schien für die orthodoxen
Verehrer von BIP wirklich schwerwiegend. Hier handelte es sich um eine Tendenz,
die sich jetzt nur leicht andeutete. Allerdings hätte sie große Bedeutung
erlange können, wenn sie nicht rechtzeitig gestoppt worden wäre. Der einfache,
von Justus durch seinen Verzicht auf Macht und Geld eingeführte Lebensstil,
hatte tatsächlich vielleicht die schwächsten Gemüter beeindruckt und so fingen
nun viele an, einen ins Gegenteil gekehrten Snobismus zu zeigen, ja fast zur
Schau zu stellen. Sie rühmten sich, keine Designer-kleidung zu tragen, kein
Auto mehr zu besitzen, mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren, auf
Überflüssiges und gewisse Technologien zu verzichten, also ein einfaches und
auf das Wesentliche begrenztes Leben zu führen. Wenn es allerdings zunächst nur
vorrangig die Reichen waren, die sich erlauben konnten, Arme zu spielen, fragte
man sich, ob sich diese Mode nicht nach und nach in der Mittelklasse verbreitet
hätte. Welch ein Unglück, wenn auch diese begonnen hätte, ihre Bedürfnisse auf
ein unerlässliches Minimum zu reduzieren und somit die verschrobene Idee Justus
zu akzeptieren, die so oft von den Massenmedien zitiert wurde, nach der das
Wesen des Glücks immateriell ist. Ehrlich gesagt konnte diese Idee jedoch paradoxerweise
nur in einer bereits reichen Gesellschaft um sich greifen, weil die wirklich
Armen bekanntermaßen nie daran geglaubt hätten.
Zum ersten Mal
in seiner langen Erfahrung als große Gottheit und Manager der globalen Welt
musste sich Euro jetzt damit abfinden, dass die Beliebtheit eines seiner
Gegenspieler zum Großteil von Faktoren abhing, über die er keine Kontrolle
hatte. Es war also nicht weiter verwunderlich, wenn aufgrund dieser
frustrierenden Einschränkung, seine Herrschaftsgier verstimmt und fast zu einer
Zwangsneurose geworden war. Euro verlor die Ruhe, die das Wissen um die Macht
begleitet und war folglich nicht mehr in der Lage, seine Stimmung und den
bewundernswerten Abstand dessen aufrecht zu erhalten, der aus seiner hohen
Position den Verlauf der Ereignisse beobachten und steuern kann.
Jetzt atmete
man auf den Straßen Roms ein Klima des Misstrauens. Und nachdem Paul von der
Abdankung Justus gehört hatte, hatte er in der Zwischenzeit die Idee, zum
Vatikan zurückzukehren. Er wunderte sich, den Petersplatz von unzähligen
Polizisten abgesperrt zu sehen. Die Zahl der anwesenden Polizeikräfte war beträchtlich.
All diejenigen, die unter dem Verdacht standen, ein einfaches Leben zu führen,
das sich somit gegen Konsum und Wirtschaftswachstum richtete, wurde als kriminell,
d. h. als Feinde der Entwicklung und folglich von BIP und Euro eingestuft. Die
Sondereinheit der Antiterror-Polizei begann gegen die Ketzer vorzugehen und
innerhalb von wenigen Tagen zeigte dieser Organismus, der sich der Erfahrung
der modernsten Marktforschungen bediente, seine Leistungsfähigkeit durch
diverse Festnahmen und die Inhaftierung derjenigen, die nicht genügend
konsumierten, obwohl sie Geld hatten.
Paul sieht Justus wieder
Für Paul wurde
diese Atmosphäre bald lästig und so
machte er sich wieder auf den Weg. Er hatte vor, zu Christine zurückzukehren, die
sich jetzt, nach ihrer Flucht aus dem Gefängnis und nach ihrer kurzen Aufnahme
bei Marta im Vatikan, an einem entfernten und geheimen Ort Siziliens aufhielt. Die
Gestalt von Justus fesselte Paul jedoch weiterhin. Nun, da dieser praktisch und
nicht mehr nur theoretisch auf der Seite der Armen stand, wäre ein Gespräch mit
ihm interessant gewesen. Außerdem fragte sich Paul, ob Justus noch an einen
patriarchalischen Vatergott glaubte oder ob er nach seinem schicksalsschweren
Treffen mit Christine begonnen hatte, ein gewisses Interesse für die
Muttergöttin zu hegen. Und wer war Jesus wirklich für ihn? War er Sohn des
Vaters oder der Mutter oder von beiden? Und folgte ihm Justus weiterhin? Würde
er eine neue Theologie begründen? Paul stellte sich diese Fragen mit Nachdruck.
Die unwegsame
und gebirgige Gegend, in die sich Justus zurückgezogen hatte, war bekannt und
so machte sich Paul auf, um ihn aufzusuchen.
Pauls Weg
verlief am Rande eines großen, grünen Berges. Die Besteigung war schwer. Es gab
keine Straßen, die man begehen konnte und auch keinerlei Spur eines Pfades. Aus
der Ferne war Paul der Berg mächtig erschienen. Bei fortschreitendem Anstieg
entschwand er dann jedoch allmählich dem Blick. Anstelle des Berges erschien
der Wald wie ein grüner Drache, der diesen verschlang. Paul wanderte,
schwitzte, kletterte und fragte sich, wie es Justus gelungen war, den Gipfel zu
erreichen, wo sich die antiken Grotten der Eremiten befanden. Dann kam ihm das
Glück zur Hilfe und er entdeckte Steine zwischen den Bäumen, die von Moos bedeckt
und häufig von Wurzeln verschoben waren. Diese Steine waren so nacheinander
angeordnet, dass sie über den Berg eine gewundene Treppe bildeten. Nun musste
er ihr nur folgen und einfach weiter hochsteigen. Dennoch war die Strecke unwegsam
und Paul kam nur langsam und vorsichtig voran. Gleichzeitig betrachtete er
dabei die Bäume, Blätter, Zweige und majestätischen Stämme.
Als er
schließlich den Gipfel erreicht hatte, drehte er sich um und sah sich die
Wolken an, die am endlosen Himmel dahinglitten. Die große Waldfläche verlief so
weit das Auge reichte und bis zu den Seiten weiterer, entfernter und einsamer
Gipfel. Zum Raunen des Waldes und der Stimme der Bäche gesellte sich die Stille
des endlosen Raums.
Am Berggipfel
befand sich eine Lichtung, die von majestätischen Eichen abgegrenzt wurde und
an einer ihrer Seiten war im Schutz der Felsen eine Steinkonstruktion sichtbar.
Dies war tatsächlich der Vorraum eines antiken Labyrinths von Grotten, die den
Berg durchzogen und die ihrerseits von heißen Strömungen erreicht wurden, die
aus den Tiefen der Erde kamen. In den vergangenen Jahrhunderten hatten diese
Grotten den Eremiten als idealer Rückzugsort vor der Welt gedient.
Paul klopfte
an einer Tür, die geöffnet wurde.
- Paul, bist du
das!?
- Justus! - rief
Paul gerührt.
- Ich freue
mich, dich zu sehen.
Paul hatte sich
sein erneutes Treffen mit Justus mehrmals vorgestellt. Er hatte vorausgesehen,
dass es in einem schlichten Umfeld stattfinden würde. Dennoch wunderte er sich,
ihn dort, wie abseits von der Bühne, als Mönch gekleidet vorzufinden. Dies
machte einen wirklich sonderbaren Eindruck.
Paul umarmte
den Eremiten. Als er in den Raum und zum
Platz nehmen eingeladen wurde, begann er sich umzusehen. Das Zimmer war fast
leer. Es gab eine Lagerstatt und wenige Möbel, einen rudimentären Holzofen und
einige einfache Gebrauchsgegenstände. Ein offenes Fenster blickte auf einen
kleinen Garten, der von mit Bögen unterbrochenen Mauern umgeben war und wie ein
primitiver Kreuzgang wirkte.
Nun löschte ein
gebanntes Schweigen jedes Wort. Und jedes mögliche Gespräch hätte das Gefühl
verborgen, das langsam aufkam: Es handelte sich um eine ansteckende Stille, die
den Raum und die Dinge wie eine dichte und süße Substanz tränkte und den Geist
Pauls berührte, seine Gedanken stimulierte und durchdrang.
Abgesehen von
seiner alten Gewohnheit, Kaffee zu trinken, hatte Justus auf alles verzichtet.
Die treue Marta, die darauf bestanden hatte, ihm bis hier herauf zu folgen, war
gerade dabei, Hölzchen sorgfältig unter einer Platte zu verteilen. Nachdem sie
sie angezündet hatte, nährte sie die Flamme durch den Hauch, der durch die
Bewegung eines Fächers entstand. Danach stellte Marta die Espressokanne auf das
Feuer und setzte sich, fast als wollte sie ausruhen und nachdenken. Nun saßen
alle drei still und schweigend da. Die Geräusche des Waldes waren deutlich
hörbar und um sie herum war keinerlei Zeichen der Zivilisation erkennbar. Es
gab kein Rom, kein Fernsehen, keine Werbung, keine theologischen Diskussionen,
keinerlei Zeichen von Euro mehr. Es gab nur Frieden. Und dann verwandelte sich
das erste Rumoren der Espressokanne zum zischenden Entladen des Drucks, während
sich gleichzeitig der Kaffeeduft in der Luft verbreitete. Marta füllte die
Tässchen. Sie, Paul und Justus rochen am Getränk und schlürften es. Ihre
Gesichter erschienen unbeschwert.
Nach dem
Kaffeeritual wendete sich Justus an Paul:
- Wunderst du
dich, mich hier zu sehen?
- Ja, wirklich.
- Nun siehst du
mich, wie ich es immer gewünscht hatte.
- Fühlst du
dich hier oben nicht alleine?
- Nein. Ich
habe viele neue Freunde, mit denen ich mich unterhalte, die mir Gesellschaft
leisten und mich erfreuen. Bleiben wir aber nicht in diesem Zimmer sitzen. Es
ist ein wunderschöner Tag. Komm! Gehen wir hinaus und sprechen wir mit den
Spatzen.
Paul folgte ihm
ins Freie.
Als sie tief im
Wald angekommen waren, hielten sie an, um dem Gesang der Vögel zu lauschen. Und
dann begann Justus mit ihnen zu sprechen.
Liebe Spatzen, - sagte er, - ihr seid
neugierig und aufmerksam und in euch finde ich das Gehör, das mir die
verhärteten Ohren der technologischen Menschen nicht schenken würden, weil sie
derartig in ihre Leidenschaften verstrickt sind. Ich wende mich an euch wie an
meine Brüder und so beachtet meine Worte in eurer Anmut und erinnert euch an
sie, denn vielleicht wollen die Menschen sie eines Tages hören und so sprecht
ihr dann zu ihnen.
Liebe Vögel, ihr
wisst, was ihr braucht und habt keine unnötigen Wünsche. Ihr habt keine Macht,
aber niemand unterdrückt eure Seele. Ihr seid keine Verschwender und rettet die
Erde. Ihr braucht keine Techniker und Experten, ebenso wie der, der seinen
Garten anbaut, seine Seide webt und die Bäume anpflanzt, deren Früchte er erntet.
Ihr seid froh, weil ihr die Vergangenheit hinter euch gelassen habt und so der
Gegenwart würdig werdet. Und ihr seid die Ersten, die begriffen habt, dass das
sorgen- und schmerzfreie Leben in sich und für sich Freude ist. Verbreitet die
Freude unter den Menschen. Lasst ihnen euren Gesang und die Stimme der Natur in
der Stille hören, damit sie schweigend die Bedeutung der Worte entdecken, durch
Innenschau die anderen erkennen und ohne Zerstreuung ihren Ursprung finden.
Am Ende der
Predigt an die Vögel fragte Paul Justus, warum er nicht nach Rom zurückkehrte,
um den Menschen zu helfen, ihre Probleme zu lösen. Justus antwortete, dass das
nicht notwendig wäre. Die Welt war von Gott geschaffen worden und es war dessen
Aufgabe, sich um sie zu kümmern. Und vor allem jetzt, wo es so viel Verwirrung
gab, konnte nur Gott sie retten.
- Justus, es
ist wahr, was du sagst. Aber warum gibst du dem Herrn nicht die Möglichkeit,
dich als sein Werkzeug zu verwenden? - drängte Paul.
- Es steht mir
nicht zu, dem Herrn Möglichkeiten zu geben. Vielmehr ist er die einzige
Möglichkeit, die uns bleibt.
- Das musst du
aber für die anderen predigen.
- Ich habe
gesprochen und sie haben mir nicht zugehört. Wenn ihre Herzen jedoch bereit
sein werden, werden sie meine Worte nicht brauchen. Sie werden sich an die Spatzen wenden und
diese werden sprechen.
- Aber eure
Heiligkeit, wann, wann werden die Herzen der Menschen zuhörbereit sein?
- Vorher muss
es zur Apokalypse kommen.
- Was soll das
heißen?
- Auch die
großen östlichen Nationen haben die westlichen Konsummodelle angenommen. Sie werden
Erde und Luft noch mehr verschmutzen, die Flüsse mit ungeheuren Deichen
blockieren und die Wälder zerstören. Die Erde wird sterben, der Mond wird über
einem unfruchtbaren Meer aufgehen, die Berge werden verbrannt sein, ein Engel
wird seinen Kelch in die Flüsse und Wasserquellen gießen, die bitter werden. Die
Könige der Erde werden sich noch mehr am Wein der Unzucht berauschen. Und die
Menschen werden von glühender Hitze versengt werden. Es wird zentnerschwere
Eisbrocken vom Himmel auf die Menschen hageln. Es wird Kriege, Diebstähle,
Gewalt, Unsicherheit, Depression, Hungersnöte und Überschwemmungen geben. Euro
wird gegen die Armen kämpfen und viele unschuldige Menschen werden leiden.
- Aber all das
passiert bereits jetzt!
- Ja, aber die
Menschen können oder wollen die Ursachen für ihre Übel nicht sehen und Abhilfe
schaffen. Sie werden ihrer Straße blind bis zum Ende weiter folgen.
- Wie wird das
Ende sein?
- Es wird
Leiden bringen.
- Und dann
werden die Menschen die Augen öffnen und sehen?
- Vielleicht.
Oder sie werden sterben, bevor sie begreifen.
- Das ist
furchtbar. Was können wir tun? Sag du es, Justus.
- Nur Gott kann
uns retten.
- Aber eure
Heiligkeit, tut auch ihr etwas.
- Paul, höre
mir zu! Vor langer Zeit konnten die Augen der einfachsten Personen die Natur
der Dinge direkt sehen. Dann kamen die Mächtigen und begannen die Welt nach
ihren Interessen zu steuern und organisieren. Und danach kamen die Gelehrten,
die Wissenschaftler, Techniker und Experten und haben die Realität auf ihre
Weise erklärt. Schließlich kamen die Finanzmanager, die alles erdenklich Mögliche
zusammenraffen und alles zu einer Tauschware herabsetzen. So sind nun die Einfachen
verwirrt und sehen sich zerstreuende Programme im Fernsehen an. Denkst du, dass
weitere Predigten sie jemals retten könnten?
- Es besteht
immer eine Hoffnung, nicht? Predige zu den Menschen und empfehle ihnen, keine
fossilen Kraftstoffe zu verbrennen, keine Waren von einem Ende der Welt zum
anderen zu transportieren und dabei die Luft zu verschmutzen, in ihrer eigenen
Wohngegend zu produzieren und zu konsumieren. Bitte die Politiker, die
Schadstoffemissionen schwer mit Steuern zu belegen, sie zu beseitigen und die
Sonnenenergie zu fördern. Diejenigen, die Bäume pflanzen, verdienen Nachsicht.
Wer ohne ein Auto auskommt und die öffentlichen Verkehrsmittel benutzt, soll heiliggesprochen
werden. Exkommuniziere diejenigen, die Wälder zerstören, Kriege führen, Waffen
herstellen und verkaufen. Exkommuniziere die Mitglieder der Mafia, die
Selbstherrlichen und Gewalttätigen, die Diebe und Geschäftemacher. Predige,
predige gegen die Ungerechtigkeiten, gegen den Konformismus, gegen das schlafende
Gewissen. Predige, Justus.
- Paul, du bist
blauäugig. Die Leute ändern sich nicht, weil du ihnen Predigten hältst und außerdem
... sind schon viele zum Predigen gekommen. Sie haben Programme für neue
Revolutionen geschrieben. Dennoch sind die Ketten der Menschen nicht gerissen,
sondern haben sich nur vermehrt. Es kamen die Gerechten und in ihrem Namen
wurde der Schwache überwältigt und der Unschuldige gequält.
- Dies befreit
dich nicht von deiner Verantwortung, Justus. Deine Glückseligkeit ändert nichts
in der Welt. Sie muss ein Ausgangs- und kein Ankunftspunkt sein und darf dich
nicht gegenüber den Problemen der anderen, gegenüber ihren Gefühlen und Leiden
gleichgültig machen. Du verbleibst auf diesem Berg, als ob die Welt nicht existiert.
- Lasse zu, dass sich ihr Schicksal erfüllt.
Wir aber suchen das Reich des Herrn.
- Und was tust
du für dieses Reich?
- „Die
Herrschaft Gottes kommt ohne Vorzeichen und keiner wird sagen: Hier ist sie
oder dort ist sie. Denn schon jetzt, mitten unter uns, richtet Gott seine
Herrschaft auf“. Blicke in dich hinein.
- Leicht gesagt,
aber wie verwirklicht man das?
- Versenke dich
in die Tiefe, lasse deine störenden Gedanken hinter dir zurück und suche das
Reich. Und nimm dir hierzu Zeit und eile nicht. Zwinge dich nicht, die Welt zu
ändern, sondern betrachte, sei Zeuge, beobachte und erkenne dich selbst und beginne
bei dir selbst. Alles, was du außen siehst, kannst du in dir wiederfinden. Sei
ein Zeuge dessen. Betrachte den Krieg, der nicht nur außen, sondern auch in
deinem Herzen stattfindet. Helfe dir selbst, bevor du etwas für die anderen
tust. Finde Frieden in deiner inneren Welt und bringe also Frieden, wohin du
auch immer gehst. Ändere die Richtung. Wenn du dich änderst, ändert sich die Welt.
Wende den Blick von den vergänglichen Dingen ab und du wirst das Reich sehen.
Das Reich ist in dir. Es ist dein Naturzustand, der sanfte Lebensfluss.
- Also, warum
sagst du diese schönen Dinge, die du mir hier auf diesem Berg erzählst, nicht
allen?
- Auch wenn ich
klar sprechen würde, würden sie mir nicht zuhören. Sie schlafen auf dem Kamm eines
Vulkans; wenn ich sie aber rufen würde, wenn ich versuchen würde, sie
aufzuwecken, würden sie mich nicht hören oder sie würden sich gegen mich
wenden.
- Aber im Namen
Gottes, sprich trotzdem! Du bist Papst!
- Im Namen
Gottes haben sie Todesurteile gefällt. Ich spreche in meinem Namen und wer Gott
will, soll ihn sich suchen und wenn Gott dich sucht, wird er dich finden. Aus
der Tat eines verwirrten Geistes entsteht größere Verwirrung. Erkennen wir
dagegen unsere Grenzen und wiederholen wir ständig: Nicht mehr ich, sondern du,
oh Herr. Und lassen wir zu, dass der Herr das aus uns macht, was ihm gefällt.
Und dass Er sich direkt um die Welt kümmert und dass Er mit seiner eigenen
Stimme spricht. Nur Gott kann uns retten.
Paul war von
den apokalyptischen Worten Justus beeindruckt. Er verließ ihn und begann zu
überlegen, während er im Schatten von hundertjährigen Eichen dahin lief. Die
für ihn interessantesten und echtesten Personen, die er auf seinen Reisen getroffen
hatte, hatten sich von der Welt abgeschieden, um ein einfaches, wenn nicht
einsiedlerisches Leben wie Justus zu führen. Dieser sah und kannte die menschliche
Leidensbedingung jenseits vom Ruhm und Glanz Euros nur zu gut. Er hätte gesprochen,
wenn ihm jemand zugehört hätte. Justus wollte also nicht nach Rom zurückkehren
und predigen, Worte von sich geben. Wieviele Predigten werden gehalten! Aber
wer hört sie sich an? Jeder versteht sie nach seiner Geisteshaltung. So
verstanden beziehungsweise missverstanden sie die Worte Jesus, des Meisters von
Justus. Und Justus hatte verstanden und deshalb hüllte er sich in Schweigen.
Jetzt sprach also sein Schweigen.
Paul zog etwas
in der Natur umher, kehrte dann am Abend zur Einsiedelei zurück, sah Justus und
Marta wieder, die bei einer großen Eiche ins Gebet vertieft waren und schloss
sich ihnen an.
Es herrschte
eine große Stille und sie fühlten einen tiefen Frieden, wie sanften Regen auf
sich herabkommen. Und während die Stille wuchs, tauchte ihr Ich in einen
unendlichen Himmel ein, wurde davon verschlungen und schwand dahin. Es verblieben
nur die großen, schweigenden Sterne, Zuschauer eines kleinen, fernen Planeten.
- Durch das
Gebet können wir uns wieder an unseren göttlichen Ursprung erinnern. Hier in
dieser ungezwungenen Nacht entsinnen wir uns auch des Mondes und der Sterne,
die anderswo von geheimnisvollen, künstlichen Lichtern verdunkelt werden, - sagte
Justus, und dann, an Paul gewandt:
- Wo wirst du
jetzt hingehen?
- Ich weiß
nicht, ob ich mich erneut auf die Suche nach Christine machen oder hier bei dir
bleiben soll, - antwortete Paul.
- Christine ist
eine wunderbare Frau, ein Engel Gottes, eine echte Christin. Finde sie wieder
und liebe sie, fühle ihre Freude in dir wirken. Vergiss aber Jesus nicht,
unseren wahren Herrn und Meister. Lieber Paul, - sprach Justus weiter. – Du
denkst und hast gut verstanden, dass die Wahrheit nicht von Euro oder der im
Fernsehen verbreiteten
Selbstgefälligkeit kommt. Vielmehr hat Gott sie dir ins Herz geschrieben
und du erkennst sie in der Stille. Ziehe dich dennoch nicht von der Welt zurück,
lebe unter den Menschen, verlasse die Berge der Einsiedler, mache dich auf den
Weg, gehe, beobachte, schaue, mache Bekanntschaften und folge dabei immer der
Eingabe deines Herzens. Vergesse die Gnade Gottes und die Freude der Stille
auch dann nicht, wenn du unter den fundamentalistischen Verehrern von Euro und
BIP sein wirst. Trage den göttlichen Schatz ganz fest in deinem Herzen, weil
Gott in dir wohnt. Und nun gehe, kehre in die Welt von Euro zurück, lebe darin,
aber beteilige dich nicht an seinen bösen Werken. Sei ein schweigender Zeuge
der in Jesus offenbarten Liebe Gottes.
Am folgenden Morgen verabschiedeten sie sich
mit einer Umarmung und Paul setzte seinen einsamen Weg fort. Er durchwanderte
den Pfad nunmehr talwärts und wünschte sich sehr, Christine wiederzusehen und
mit ihr den Weg des Obdachlosen weiterzugehen. Er ging in sich und versuchte
nachzudenken. Er glaubte, wählen zu können. Vielleicht konnte er glauben oder
sich vormachen, frei zu sein, seinem Instinkt, seiner Seele oder den Ratschlägen
der Weisen zu folgen. Welche weiteren Möglichkeiten blieben ihm? Er war mit
seinen Gedanken alleine und begriff dennoch, dass er das nicht vollständig war.
Wir glauben, frei zu denken, auch wenn unsere Gedanken schon tausend Mal
gedacht und wiederholt wurden. Und nun sind wir es, die sie erneut formulieren
und dabei glauben, sie zum ersten Mal zu schaffen. Paul war jedoch davon
überzeugt, originelle Gedanken zu haben. Er war ein Obdachloser, ein Anhänger
von Christine und nachdem er nun Justus gehört hatte, konnte er sich auch und vollkommen
zu Recht als ein Jünger eines Meisters betrachten, dessen Wert er vorher nicht
kannte: Jesus. Jesus war ebenfalls wirklich arm
und obdachlos gewesen. Außerdem hatte er wie Justus als Eremit in der
Wüste gelebt. Wie Christine war er verfolgt, wie die Armen verhöhnt und beschimpft
worden.
Sicherlich war Christine
unbeschwert, immer freudig, während Paul Jesus mit jener, seiner sonderbaren
Beziehung zu seinem Vater, der ihn schließlich ans Kreuz geschlagen verließ,
für etwas gequälter hielt. Jesus hatte einen jähzornigen und gekränkten Vater,
der besänftigt werden musste, der ein Menschenopfer, den Tod einer seiner Kreaturen,
seines eigenen Sohnes forderte, dessen letztes Heilsgebet er nicht erhörte. Wenn
Jesus sich dagegen an die Muttergöttin gewandt hätte, hätte diese ihn gerettet.
Oder war Jesus
vielleicht unbeschwert wie Christine? Paul wusste es nicht. Wer kennt schon die
Wahrheit? Vielleicht nur derjenige, der in der Stille lebt. In der Stille gibt
es jedoch keine Namen, keine Worte; es gibt keine Götter, keine Lehren. Es gibt
nur eine unvergleichliche, unsagbare, gewaltige Stille, die Stimme Gottes.
So dachte er
und lief weiter durch den Wald. Er überlegte, dass die meisten Menschen
verrückt waren, dass die Verrücktheit zum Maßstab geworden war. Er wusste, dass
Jesus im Grunde genommen und - abgesehen von gewissen schönen Predigten -
übergangen wurde oder für utopisch, für einen Idealisten, eine schöne und
fantastische Seele gehalten wurde. Weil die wahre, reale Welt letzten Endes die
von Euro und BIP war: Weil viele daran glaubten, dass Euro letztendlich die
Oberhand über alle schönen Seelen gewinnen würde.
Rückkehr in den Süden und das Schicksal von
BIP
Nachdem Paul
die Einsiedelei von Justus verlassen hatte, benötigte er viel Zeit, um nach Bulla
zwischen den Opuntien in das Dorf seiner Nomadengeschwister zurückzukehren. Und
als er so vollkommen alleine zu Fuß von Berg zu Tal, an Stränden und
Landstrichen vorbei wanderte, an verlassenen Orten schlief und sich von Obst
und Kräutern ernährte, wurde ihm gar nicht bewusst, dass sich die Welt in der
Zwischenzeit radikal änderte und dass die neuen sozialen Umwälzungen
schließlich unvorhersehbarerweise und gegen jede pessimistische Erwartung in
einer Situation von allgemeinem Wohlbefinden und Frieden gipfelten.
Er kam nachts
an, als der Mond auf sanfte Hügel strahlte und wurde vom Bellen streunender
Hunde empfangen. Mit dem gefundenen Stroh baute er sich eine Lagerstatt im
Schatten eines wilden Feigenbaums. Er lauschte der herzergreifenden Musik einer
Zigeunergeige, bis nur noch die Stille seiner Seele in der Luft lag. Dann fand
er eine verlassene Hütte. Er trat ein, schloss die Türe wieder und befand sich
zwischen vier klapperigen und kahlen Wänden. Vor nur wenigen Jahren, als er in
London lebte, hätte er sich seine derzeitige Situation nie vorstellen können,
dachte er.
Paul hatte in London
gelebt und sich dort abgemüht, war inmitten anderer, ebenfalls ermüdeter
Menschen, die ebenso wie Windhunde hinter Hasen herliefen, ständig in Eile. Allerdings
handelte es sich um Stoffhasen, die genauso fiktiv waren, wie die Versprechen
der Werbefachleute. Sie liefen den ganzen Tag und versammelten sich dann voller
Verehrung erschöpft vor gewissen, rechteckigen Schirmen, die verschiedene
Bilder ausstrahlten, durch die sie Denkweise, Wahlkriterien, Verhaltensweisen
und die Vergötterung von BIP erlernten.
London
war nun jedoch inzwischen weit weg und Paul erinnerte sich nur an eine Stadt,
die von den Klausnern der City, von den dienstfertigen Finanzfachleuten regiert
wurde, die sich in den telematischen Verkauf von Aktien und Derivaten ohne
realen Wert vertieft und unter Papier, Druckern, Statistiken, Prognosen,
Berichten, Computern und Mobiltelefonen begraben, in ihre Büros einschlossen,
durch die sie mit anderen telematischen Menschen in virtuellem Kontakt blieben.
Und
dennoch wusste Paul noch nicht, dass die City von London nach dem Tod von BIP
und dem Zusammenbruch von Euro ein Museum von leeren Büros geworden war. Wie im
Übrigen auch das alte Finanzzentrum Frankfurt, wie New York, Tokio, usw.
Aber
wie war BIP, ein anscheinend so vor Gesundheit und Ressourcen strotzender Gott
gestorben?
Paul erfuhr die Nachricht von seinen Nomadenfreunden und suchte in
seiner Neugierde Bestätigung sowie weitere Meldungen in den Zeitungen. Fast
alle Artikel gaben die Schuld den Chinesen, das heißt ihrer Gewohnheit, Reis
mit den schicksalsschweren, hölzernen Einweg-Stäbchen zu essen. In einem Land
mit eineinhalb Milliarden Einwohnern, die alle Tage jeweils vier Holzstäbchen
verwendeten und wegwarfen, wurden ganze Wälder in einem untragbaren Rhythmus
gefällt. Und weil China jedes Jahr fünfundvierzig Milliarden Paar
Holzessstäbchen produzierte, von denen sechs Milliarden für die Lieferung an
chinesische Restaurants in aller Welt exportiert wurden, nährte ein Chinese,
wenn er ein Paar wegwarf, jedes Mal ohne es zu wissen, ein Gemetzel an Pappeln,
Birken und Bambussen. Alljährlich wurden zwei Millionen Kubikmeter Holz
zerstört.[1] Schon
bald waren die chinesischen Wälder erschöpft und die Industrie der Chopsticks aus Holz brach zusammen. Indessen
trugen weitere fanatische und fundamentalistische Verehrer von BIP stark zum
endgültigen Ableben der Wälder bei. Und die Wälder verschwanden aufgrund einer
ebenso unvorhergesehenen wie einfachen Tatsache: Es wurden mehr Bäume gefällt
als in der Zwischenzeit nachwachsen konnten. Folglich fiel eine grundlegende
Ressource für BIP vollkommen aus. Allerdings wurde das Klima auf einem Planeten
ohne Wälder sehr eigenwillig. Es kam zu einer Trockenheit, zu den Kriegen wegen
des Wassers. Industriezweige, die viel Wasser verwendeten und verschwendeten,
meldeten Konkurs an. Dies war ein weiterer Todesstoß für BIP. Der grundlegende
Fehler der fundamentalistischen Verehrer von BIP bestand darin, an das endlose
Wirtschaftswachstum zu glauben. Das Wachstum musste jedoch ein Ende haben und
endete wie ein Krebsgeschwür mit dem Tod des Gottes, auf dessen Körper es
wuchs: Des Gottes BIP.
Der Tod von BIP
hatte die universale Auswirkung, die die Älteren unter uns nur zu gut kennen:
Die Ereignisse überstürzten sich, der galoppierenden Arbeitslosigkeit folgten
Unruhen, Revolutionen, Hungersnöte, das Chaos. Nach dieser entsetzlichen und
globalen Krise, die nur einige vereinzelte und visionäre Autoren vorhergesehen
hatten, änderte sich jedoch auf sonderbare und unerklärliche Weise der
Geschichtsverlauf und die Menschen nahmen wieder Vernunft an. Heute, im Jahr 2062,
wissen die jüngeren Generationen nicht, dass der derzeitige soziale Frieden,
die Weisheit der zeitgenössischen Völker, ihr einfaches und herzerfrischendes
Leben, die jetzt universalen und geteilten Werte von Ehrlichkeit, Solidarität
und Gastfreundschaft, von Liebe und Weisheit, Errungenschaften sind, die die
Menschheit teuer bezahlt hat.
In
den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts wusste und glaubte niemand oder
glaubten nur wenige, dass das Schiff sinken würde. Alle waren damit beschäftigt,
Einkäufe zu tätigen und fernzusehen. Das Bruttoinlandsprodukt war angestiegen,
BIP war rot geworden und gleichzeitig war ein Unbehagen im menschlichen Geist,
eine Verzweiflung des Herzens zutage getreten und selbst die reichen Menschen
waren nicht glücklich. Jahrtausendelang hatten die Menschen gekämpft, hatten
den Lauf ihres sinnlosen Schicksals aufgenommen, sie hatten sich geschubst, mit
Füßen getreten, hatten Tiefschläge verteilt und behandelten sich mit gegenseitiger
Gleichgültigkeit. Als sich die Menschen nach ihrem Sturz von einem mysteriösen
Stern oder von einem wandernden, dunklen Meteoriten auf die Erde, in ihrem
Leben wiederfanden, das Gesetzen folgte, die ihre Auffassung nicht verstand, hatten
sie sich tausend Illusionen, Zerstreuungen, Lügen und Ideologien geschaffen,
ohne sich - mit seltenen Ausnahmen - selbst zu erkennen. Sie hatten immer den
Weg der Eroberung, des Zusammenraffens, des Erwerbs von Gegenständen,
Privilegien und Positionen gesucht und hatten dann letztendlich in Wirklichkeit
nichts Reales und Menschliches behalten und bewahren können, das nicht, wie
sie, Teil eines ständigen Wettlaufs war, der zu einem traurigen Abschluss kommen
sollte. Tatsächlich waren sie mit ihren wahnsinnigen Torheiten auf ein furchtbares
apokalyptisches Schicksal zugeeilt.
Schließlich
schien die menschliche Torheit jedoch bereits zurzeit als Paul nach Bulla
zurückkehrte, vollkommen beendet. Er blickte um sich und bemerkte ohne den
geringsten Zweifel, dass sich die Welt geändert hatte. Aber wie? Was war geschehen?
Warum und wie hatten die Menschen ihre echte und tiefste Menschlichkeit zurückgewonnen?
Wieso und warum waren sie zu menschlichen Wesen geworden? Was war in ihrem
Geist vorgefallen? Hatten sie gezwungenermaßen unsagbare Leiden durchwandern
müssen, um letztendlich ihre Menschlichkeit zu verwirklichen? Es schien also,
dass das erreichte wahre und tiefe menschliche Wohlbefinden wie der Gipfel eines
Berges war, der über Schmerz und Leid bestiegen wurde. Und während des
Aufstiegs gab es viele Menschen, die eine echte, unverzichtbare Qual, aber auch
künstliche Unpässlichkeiten erlitten hatten, die von wer weiß welchem Dämon
verursacht worden waren. Warum? Warum war die Menschheitsgeschichte so entsetzlich
gewesen? Warum die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, warum die
Kriege, die Völkermorde und alle anderen Grausamkeiten? Warum waren die
Menschen der Vergangenheit nicht wie jetzt glücklich, Musik zu machen, die
Wüsten zu bewässern, zu malen, die Gemüsegärten zu bestellen, miteinander zu
sprechen und wie Geschwister zusammenzuleben?
Pauls
Nomadenfreunde erzählten ihm, was während seiner Abwesenheit in der Stadt Bulla
passiert war, bevor der heutige Frieden und das derzeitige Wohlbefinden
eintraten. Sie sagten ihm, dass es auch in Bulla, im Anschluss an den Zusammenbruch
der Weltaktienmärkte und das allgemeine Scheitern der Großbanken, Unternehmen
und multinationalen Konzerne, zu einer starken und allgemeinen Abwertung des
Ansehens von Euro gekommen war. Die Leute waren dann derartig verarmt, dass sie
nicht einmal mehr ein Auto kaufen und halten konnten. Die Geschäfte und
Supermärkte wurden von Menschenmassen geplündert. Die klassischen Ökonomen,
sprich die fundamentalistischen Priester von BIP, versteckten sich verschämt in
den Höhlen.
Nach
Überwindung der großen Krise hatten sich die Dinge dann allerdings auch und
vielleicht vor allem infolge der umsichtigen Politik der neuen Verwalter zum
Guten gewendet. Da die Autos aufgrund des Zusammenbruchs des internationalen
Handels und des Benzinmangels nicht mehr verwendet wurden, waren die
befahrbaren Straßen nicht mehr notwendig und wurden abgetragen. In den großen,
frei gemachten Räumen wurden Karuben- und Feigenbäume, Palmen, Mispeln und andere
Obst- und Zierbäume gepflanzt und wuchsen heran. Die grauenvollen Gebäude, die
das Ergebnis der vergangenen Bauspekulation Euros waren, wurden niedergerissen
und an ihrer Stelle wurden hübsche ökologische Häuser mit Garten gebaut. Kurzum, man muss nach Bulla kommen, um sich
dieser großen Neuordnung bewusst zu werden. Die Stadt wurde so schön, dass sie
von der UNESCO zum Erbe der Menschheit erklärt wurde. Die ersten Touristen
begannen anzureisen. Als die Fremden dann von den Gärten, der Schönheit des
Orts, der von Autoauspuffgasen freien Luft und der Lebensfreude der stillen
Bewohner Bullas verzaubert waren, kamen sie scharenweise an. Unter ihnen befanden
sich auch viele Chinesen, die lernen mussten, den Reis mit Metallbesteck zu
essen. Es erschienen auch einige Amerikaner, die lernten, ohne gigantische Fahrzeuge,
Häuser und Wolkenkratzer, ohne gigantische Autobahnen, Pizzas und Hamburger
auszukommen. Sie waren erstaunt, als sie feststellten, dass sie in einer Stadt
nach Maß für den Menschen zufrieden, ja sogar zufriedener und unbeschwerter als
vorher leben konnten. Sie lernten auch die Eselchen zu reiten. Zunächst wunderten
sie sich, als sie begriffen, dass es sich nicht um geklonte Tiere, sondern wie
sie, von ihren Müttern geborene Lebewesen handelte. Dann begannen sie sie zu
lieben und ihre Liebe wurde erwidert. Einige fingen an, sie anzuhimmeln, wie
sie vorher ihre gigantischen Fahrzeuge angehimmelt hatten.
Paul war
offensichtlich keineswegs von der Todesnachricht von BIP erschüttert. Vielmehr
freute er sich über die neue Atmosphäre, die in der Stadt und im Nomadendorf
vorherrschte, das nun gut im neuen sozialen Umfeld integriert war. Nachdem das
Schlimmste passiert war und die Leute dennoch, wenn auch in Einfachheit und
größerer Unbeschwertheit weiterlebten, hatte nun tatsächlich niemand mehr Angst
vor der Andersartigkeit. Kurzum, nach allen Katastrophen, die die Welt in der
Vergangenheit getroffen hatte, bestand diese weiterhin und die Menschen waren
unbeschwert und wieder vernünftig geworden.
Unbestrittenerweise
war die Welt in ihrer vordergründigen Existenz, der Natur, den Menschen und der
Luft, die sie atmete, greifbar. Auch die Musik der Zigeunergeigen lag in der
Luft und Paul vergass alles und auch sich selbst, wenn er ihr bei einer
Einladung der Zigeuner lauschte und sich mit ihnen dem Tanz hingab.
Jetzt
tanzten und sangen auch die Bewohner Bullas. Nachdem sie aufgehört hatten,
fernzusehen (schießlich hatten alle von der Werbung gestützten Fernsehkanäle
Bankrott gemacht), verbrachten die Bewohner Bullas ihre Zeit auf kreative
Weise, indem sie Musik machten und tanzten.
Interessanterweise
war der Walzer bei allen sozialen Schichten wieder in Mode gekommen und alle
tanzten, vergaßen, vergaßen sich selbst und befreiten sich vom Gewicht ihres
eigenen Ichs.
Auch
Paul hatte die Vergangenheit vergessen. Und in der Tat ist es hin und wieder
oder oft aus geistiger und körperlicher Hygiene notwendig, die Bänder mit der
Vergangenheit zu durchschneiden und ein neues Kapitel unter Führung der Göttin
zu beginnen. Im Dorf seiner Nomadengeschwister von Maregrosso ging es ihm
schließlich gut.
Wie
verführerisch, leicht, glasklar und mitreißend war doch die Zigeunermusik. Paul
hörte sie gerne und kehrte dann, wenn Töne und Tänze ein Ende hatten, in seine
Hütte zurück. Seine Existenz und die der Welt fühlte er stark.
Die Welt war greifbar. Mit all
ihren Faszinationen einschließlich Musik, Kunst, dem heiteren Himmel und den
Regenbögen, den leidenschaftlichen Liebenden und in den Gärten spielenden Kindern
war sie real und prägnant. Nur einige ältere frühere Waffenbauer und einige
ehemalige, jetzt verarmte Finanzfachleute trauerten der Welt nach, die es nicht
mehr gab.
Paul verließ seine Hütte und begann zwischen den Opuntien im Sand umherzuschlendern.
Er zog den Eimer aus dem Brunnen und kippte das Wasser in die Gießkanne. Die Kakteen
brauchten etwas Feuchtigkeit. Dichte, am Himmel stehende Wolken bargen den Raum,
bis er schließlich zu einem intimen Ambiente wurde und gaben ein weiches Licht
wider. Ein unerklärliches und fast süchtig machendes Wohlbefinden begann sich
in Pauls Körper zu verbreiten. Er fühlte es zunächst zwischen den Rippen, in
der Brust, dann nach und nach in Bauch, Armen und Beinen sowie entlang der
Wirbelsäule. Und während seine Freude wuchs, zerfielen seine restlichen
Gedanken wie die stachelige Schale einer Kaktusfeige, die in der Sonne rissig
wird und so ihr schmackhaftes Fruchtfleisch zeigt und mit sanfter und prägnanter
Abwesenheit strahlt. Und ohne Gedanken konnte Paul nichts mehr, nicht einmal
sein Ich erfassen und festhalten. Er war glücklich, wunderte sich selbst über
das Geheimnis seiner Verwandlung und dass er so unbeschwert geworden war. Und
sein Glück hatte keinen begreiflichen Grund, so wie die Tragödien der Menschen
und ihre großen Leiden seit der Entstehung der Welt für ihn unverständlich
gewesen waren.
Ein
Spatz, der auf dem Zweig eines wilden Feigenbaumes saß, schien ihn zu
beobachten. Ein trockener und leichter Wind traf ihn.
Jetzt
entdeckte Paul wieder Leben in sich und es musste eben dieses Leben und nichts
anderes sein, das ihm Freude schenkte.
Paul sah
Christine wieder, die sich zum Brunnen begab. Sie umarmten sich und tauschten
überglückliche Blicke aus. Weitere Nomadinnen kamen herbei und blieben beim
Brunnen angekommen stehen, um fröhlich zu plaudern. Dann wandelten sie langsam
und anmutig ihre Schritte messend mit Krügen voller Wasser auf ihrem Haupt. Ihre
Körper in farbigen Kleidern bewegten sich wogend, dass es eine Freude war, sie
zu betrachten.
Paul verstand
das Glücksgefühl der Nomadinnen um Christine, die jetzt, nachdem sie den Krug
auf den Boden gestellt hatte, ruhig dastand und das unendliche Blau des Meeres ansah.
Auch Paul betrachtete das Meer in intensiver mystischer Gemeinschaft mit seiner
Angebeteten. Dann hörte man ein Glöckchen, das die Nomaden zum gemeinsamen
Mahl, zur geschwisterlichen Agape zusammenrief.
Paul bewegte
sich und auch Christine ging, gefolgt von ihren Katzen, in Richtung Küche.
Danach kamen Sofia und Kevala, Plastika und ein nicht mehr unter Beklemmungen
leidender Pontius. Es kamen Justus und Marta, Mario und auch Volpi, der
Sekretär, sowie viele andere und dann war auch ich dort, der diese Erzählung
nach seinen Möglichkeiten geschrieben hat. Dea, unsere Mutter, war ebenfalls anwesend.
Ihr, die immer
und ewig präsent ist, der sanften und vergebenden, barmherzigen und tröstenden
Mutter, sei Ehre und Ruhm.
Ende
Schlusswort des Autors
Der
Leser wird bemerkt haben, dass im Roman Gedanken von verschiedenen und wohl bekannten
Autoren vertreten sind, (die zum Teil in Anführungsstrichen stehen). Durch ihre
Aufnahme im Text beabsichtigte ich sie auf persönliche sowie romanhafte Art und
Weise neu zu interpretieren.
Allerdings
wollte ich dabei, insbesondere, wenn sie zu einer für andere unantastbaren
Tradition gehören, keineswegs Gültigkeit und Maßgeblichkeit der Quellen herabsetzen,
für die ich eine hohe Achtung hege.
Im
Übrigen muss gesagt werden, dass die Gedanken anderer ihren Beiklang ändern und
einen unterschiedlichen Wert oder Sinn annehmen, wenn sie in einen andersartigen
Kontext eingefügt werden.
Wenn
wir es uns gut überlegen, so gibt es außerdem wirklich wenige, vielleicht sogar
sehr wenige, uns eigene und ursprüngliche Gedanken, die nicht bereits gedacht
oder formuliert worden wären. Wir könnten vielleicht sagen, dass wir bereits in
den Gedanken der anderen geboren werden und dass wir sie folglich mehr oder weniger
bewusst annehmen.
Aphorismen und Gedanken verschiedener, im Text zitierter
oder paraphrasierter Autoren
Denn euer
Herz wird immer dort sein, wo ihr eure Schätze habt.
Matthäus 6/21
Seht euch die Vögel an! Sie säen
nicht, sie ernten nicht, sie sammeln keine Vorräte – aber euer Vater im Himmel
sorgt für sie. Und ihr seid ihm doch viel mehr wert als Vögel! Wer von euch
kann durch Sorgen sein Leben auch nur um einen Tag verlängern? Und warum macht
ihr euch Sorgen um das, was ihr anziehen sollt? Seht, wie die Blumen auf den
Feldern wachsen! Sie arbeiten nicht und machen sich keine Kleider, doch ich
sage euch: Nicht einmal Salomo bei all seinem Reichtum war so prächtig
gekleidet wie irgendeine von ihnen.
Matthäus 6/26-29
Freuen dürft
ihr euch, wenn sie euch beschimpfen und verfolgen und verleumden, weil ihr zu
mir gehört. Freut euch und jubelt, denn bei Gott erwartet euch reicher Lohn. Matthäus 5/11-12
»Die Füchse
haben ihren Bau und die Vögel ihr Nest; aber der Menschensohn hat keinen Platz,
wo er sich hinlegen und ausruhen kann. «
Matthäus 8/20
Zuletzt führte der Teufel Jesus
auf einen sehr hohen Berg, zeigte ihm alle Reiche der Welt in ihrer Größe und
Pracht und sagte: »Dies alles will ich dir geben, wenn du dich vor mir
niederwirfst und mich anbetest. « Da sagte Jesus: »Weg mit dir, Satan! In den
Heiligen Schriften heißt es: 'Vor dem Herrn, deinem Gott, wirf dich nieder, ihn
sollst du anbeten und niemand sonst.'«
Matthäus 4/8-10
»Eines fehlt
dir: Geh, verkauf alles, was du hast, und gib das Geld den Armen, so wirst du
bei Gott einen unverlierbaren Besitz haben.
Markus 10/21
»Ihr dürft nicht nach Vorzeichen
ausschauen und an allen möglichen Orten nach ihr suchen! Denn schon jetzt,
mitten unter euch, richtet Gott seine Herrschaft auf! «
Lukas 17/20-21
Du hättest
keine Macht über mich, wenn Gott es nicht zugelassen hätte. Johannes
19/11
Ihr urteilt und verurteilt nach menschlichen Maßstäben;
ich verurteile niemand. Wenn ich aber ein Urteil fälle, dann
ist es auf die Wahrheit gegründet und gültig; denn ich stehe damit nicht allein
da. Es ist mein Urteil und das meines Vaters, der mich gesandt hat.
Johannes 8/15-16
Am Anfang war das Wort. Das Wort
war bei Gott,
und in allem war es Gott gleich. Von Anfang an war es bei Gott. Alles wurde durch das Wort geschaffen;
und ohne das Wort ist nichts entstanden. In ihm war das Leben, und dieses Leben war das Licht für die Menschen. Das Licht strahlt in der Dunkelheit,
aber die Dunkelheit hat sich ihm verschlossen.
und in allem war es Gott gleich. Von Anfang an war es bei Gott. Alles wurde durch das Wort geschaffen;
und ohne das Wort ist nichts entstanden. In ihm war das Leben, und dieses Leben war das Licht für die Menschen. Das Licht strahlt in der Dunkelheit,
aber die Dunkelheit hat sich ihm verschlossen.
Johannes 1/1-18
Wenn ihr Geld habt, verleiht es nicht mit
Zinsen, sondern gebt es denen, von denen ihr es nicht wiederbekommen werdet.
Die
gnostischen Evangelien, Adelphi, Mi: 1995, S. 18
Mit der heiligen Beteiligung an den reinen und belebenden
Mysterien empfängt der Mensch Vertrautheit und Gleichheit mit Gott. Dadurch
wird er aus dem Menschen, der er war, zu Gott.
Heiliger Maximus Confessor
Wünsche sind Irrsinn. Beseitige sie und trete
ins Bewusstsein ein: Sofort wirst du dich jenseits der Zeit befinden. Wünsche
erschaffen die Zeit. Wenn du sie beseitigst, befindest du dich jenseits der
Zeit.
Osho, Yoga für Körper, Verstand, Geist,
Mondadori, Mi: 2005, S. 163
Wenn du die reichsten Menschen der Erde
betrachtest, wirst du nur Bettler sehen. Und manchmal geschieht es, einen
echten Bettler zu treffen und einen Kaiser zu sehen, der unter einem Baum
sitzt, der nichts hat, der nichts besitzt.
Osho, Der Gesang der Meditation, Mondadori,
Mi: 1999, S. 37
Als sie Betanien am nächsten
Morgen wieder verließen, bekam Jesus Hunger. Da sah er in einiger Entfernung
einen Feigenbaum, der schon Blätter trug. Er ging hin, um zu sehen, ob nicht
Früchte an ihm wären. Aber er fand nichts als Blätter, denn es war nicht die
Jahreszeit für Feigen. Da sagte Jesus zu dem Feigenbaum: »Von dir soll nie mehr
jemand Feigen essen! « Und sofort verdorrte der Baum. Markus, 11/12-14 und Matthäus
21/18
»Doch dann geschah es: Auf dem
Weg nach Damaskus, kurz vor der Stadt, umstrahlte mich plötzlich gegen Mittag
ein blendend helles Licht vom Himmel. Ich stürzte zu Boden und hörte eine
Stimme zu mir sagen: 'Saul, Saul, warum verfolgst du mich?'
Apostelgeschichte, 22/6-7
Der Erste, der nach dem Umzäunen eines Stück
Bodens auf den Gedanken kam, „dies ist mein“ zu sagen, und ziemlich dumme
Menschen fand, die ihm glaubten, war der eigentliche Begründer der Zivilgesellschaft.
Wie viele Verbrechen, wie viele Kriege, wie viele Morde, wie viel Not und
Fehler wären der Menschheit erspart geblieben, wenn sie die Pflöcke ausgerissen
oder den Graben aufgefüllt hätte und den Mitmenschen zugerufen hätte: „Hütet
euch davor, diesem Betrüger Gehör zu schenken! Wenn ihr vergesst, dass die
Früchte allen und die Erde niemandem gehören, seid ihr verloren!
J. J. Rousseau
Könnte
ich ein Messer nehmen und es in den Busen meiner Mutter stechen? Wenn ich das
tun würde, würde sie mich nicht mehr an ihrer Brust aufnehmen, wenn ich sterbe.
Möchtest du, dass ich Steine umgrabe und aushöhle? Könnte ich vielleicht in
ihrem Fleisch bis zu den Knochen graben? Dann könnte ich nicht mehr in ihren
Körper zurückkehren, um zu neuem Leben geboren zu werden. Wollt ihr, dass ich Gras und Heu mähe, um diese mit Gewinn zu
verkaufen, wie das die Weißen tun? Könnte ich etwa die Haare meiner Mutter
schneiden?
Smohalla, Häuptling der Wanapun, S. 89 in M.
Eliade, Das Heilige und das Profane, Boringhieri, Turin 1973
Wie der Flügel für den Vogel, das Wasser für
den Fisch, das Leben für den Lebendigen, so bist du für mich. Doch sage mir,
mein Vielgeliebter, wer bist du? Wer bist du in Wirklichkeit?
Chàndogya Upanishad
Das Tao tut nie etwas,
jedoch sind durch das Tao alle Dinge getan.
jedoch sind durch das Tao alle Dinge getan.
Wenn mächtige Männer und Frauen
sich das Tao einverleiben würden,
wäre die ganze Welt verwandelt
von selbst weg, in ihrem natürlichen Rhythmus.
Der Inhalt der Menschen wäre
mit ihren einfachen, täglichen Leben,
in Harmonie, und frei von Begierde leben.
sich das Tao einverleiben würden,
wäre die ganze Welt verwandelt
von selbst weg, in ihrem natürlichen Rhythmus.
Der Inhalt der Menschen wäre
mit ihren einfachen, täglichen Leben,
in Harmonie, und frei von Begierde leben.
Wenn es keine Begierde gibt,
sind alle Dinge in Frieden.
sind alle Dinge in Frieden.
Laotse, Dao De Jing, (37)
Oberflächliche Wünsche zu verfolgen, hier und dorthin zu laufen, dies und
das zu wollen... es gibt viele Wege zum Wahnsinn.
Gib das Äußerliche auf. Kultiviere
die Innerlichkeit. Laotse, Dao De Jing, (12)
Wenn reiche Spekulanten gedeihen
während die Landwirte ihr Land verlieren;
wenn Regierungsbeamte Geld für Waffen statt Medizin ausgeben;
wenn die Oberklasse extravagant und unverantwortlich ist
während die Armen keine Aussichten haben.
All das ist Raub und Chaos.
Es ist nicht im Einklang mit dem Tao.
während die Landwirte ihr Land verlieren;
wenn Regierungsbeamte Geld für Waffen statt Medizin ausgeben;
wenn die Oberklasse extravagant und unverantwortlich ist
während die Armen keine Aussichten haben.
All das ist Raub und Chaos.
Es ist nicht im Einklang mit dem Tao.
Laotse, Dao De Jing (53)
Der Weise agiert ohne Anstrengung, er lehrt mit seinem gelassenen Beispiel.
Laotse, Dao De Jing
Die echten Worte sind nie ausgefeilt. Die ausgefeilten Worte sind nicht echt.
Die
Wissenden sind nicht voller Worte. Diejenigen, die voller Worte sind, wissen
nichts.
Laotse, Dao De Jing
Ihr sagt: 'Wir sind reich und
bestens versorgt; uns fehlt nichts.' Aber ihr wisst nicht, wie unglücklich und
bejammernswert ihr seid, elend, blind und nackt. Ich rate euch: Kauft von mir
Gold, das im Feuer gereinigt wurde; dann werdet ihr reich! Kauft euch weiße
Kleider, damit ihr nicht nackt dasteht und euch schämen müsst! Kauft euch Salbe
für eure Augen, damit ihr sehen könnt!
Offenbarung 3, 17-18
Der vierte Engel goss seine Schale auf die Sonne. Da wurde der Sonne
erlaubt, die Menschen mit glühenden Feuerstrahlen zu quälen. Und die Menschen
wurden von glühender Hitze versengt. Sie verfluchten den Namen Gottes, der
Verfügungsgewalt hat über solche Katastrophen; aber sie änderten sich nicht und
wollten Gott nicht die Ehre geben. Offenbarung 16, 8-9
Gott rechnete ab mit dem großen
Babylon: Es musste den Wein aus dem Becher trinken, der mit seinem glühenden
Zorn gefüllt war. Es hagelte zentnerschwere Eisbrocken vom Himmel auf die
Menschen. Offenbarung 16, 19-21
Einer der sieben Engel, die die
sieben Schalen trugen, kam zu mir und sagte: »Komm! Ich werde dir zeigen, wie
die große Hure bestraft wird, die Stadt, die an vielen Wasserarmen erbaut ist!
Die Könige der Erde haben sich mit ihr eingelassen. Alle Menschen sind
betrunken geworden, weil sie sich am Wein ihrer Unzucht berauscht haben. « Der
Geist Gottes nahm Besitz von mir, und der Engel trug mich in die Wüste. Dort
sah ich eine Frau. Sie saß auf einem scharlachroten Tier, das über und über mit
Namen beschrieben war, die Gott beleidigten. Das Tier hatte sieben Köpfe und
zehn Hörner.
Offenbarung 17, 1-3
Jesus, der sich den Reichen gegenüber streng zeigte, ist kein Asket: Er isst
und trinkt gerne, nimmt an einem Fest teil und labt sich bei einem Bankett mit
Freunden. Er verlangt nicht vom Menschen, sich vom Genuss dessen zu enthalten,
was Gott geschaffen hat. Während jedoch der Reiche sein Festmahl genießt, muss
sich der arme Lazarus mit den Bröseln begnügen, die unter den Tisch gefallen
sind. Darin besteht die Sünde: Gott hat den Tisch der Welt für alle seine
Kinder gedeckt. Indessen ist die egoistische Aneignung dieses Tisches vonseiten
einiger weniger die Ablehnung des Plans Gottes.
Josè Miguez Bonino, Ein Raum zum Menschsein.
Schlusswort zur Abfassung von 2015
Die
erste Abfassung dieses Romans geht auf das Jahr 2011 zurück. Zu jener Zeit
dachte ich über eine einzigartige Bemerkung von Papst Luciani nach, die ich in
einem nicht mehr auffindbaren Text gelesen hatte: „Wir müssten unsere
Silberstäbe gegen Holzstäbe eintauschen, wie sie die ersten Jünger trugen”.
Damals dachte
ich, dass Papst Luciani, wenn er länger gelebt und wirklich versucht hätte,
diese Idee mit all ihren praktischen Auswirkungen und möglichen Folgen zu
realisieren, wenn er nämlich wirklich versucht hätte, die Kirche auf ihre ursprüngliche
Armutsstellung zurückzubringen, so wäre er zur Abdankung gezwungen geworden oder
hätte nach einigen Monaten oder Jahren auf sein Projekt verzichten müssen. Ich
dachte also nicht, dass ein Papst tatsächlich zurückgetreten wäre, wie dies
Papst Ratzinger, wenn auch aus ganz anderen Gründen, getan hat.
Daher ist mein
Roman nicht „prophetisch”, wie in einer Rezension zu lesen ist. Und wenn ich
jetzt im Jahr 2015 dennoch eine echte Prophezeiung, oder vielmehr eine logische
Vorausschau machen müsste, so würde ich sie auf die mögliche zukünftige
Abdankung von Papst Franziskus beziehen, der ständig mutig den Wert der Armut
predigt, das heißt die Überlegenheit von Geist und Glauben über die Materie. Doch
obwohl er der Pontifex Maximus der letzten absoluten Monarchie ist, wird er die
Kirche meiner Meinung nach nie zu ihren Ursprüngen zurückbringen können.
Kann man sich
tatsächlich eine vollkommen von Gütern und Privilegien befreite Kirche vorstellen?
Soweit ich weiß, gibt es keine wirklich arme Kirche, die gleichzeitig keinerlei
oder ein minimales Verhältnis zum Geld hätte. Obwohl einige vereinzelte
Geistliche manchmal in Armut leben können, ermöglicht der acht
Tausendstel-Betrag der italienischen Einkommenssteuer den Messen der höheren
Hierarchien die Verwaltung großer Summen.
Indessen glaube
ich, dass der unwahrscheinliche, reale Versuch der Kirche, zur biblischen Armut
zurückzukehren, die verbissensten Gegner nicht nur in einigen hohen und
privilegierten Hierarchien, sondern auch außerhalb davon und unter den Gläubigen
finden würde. Denken wir an die dem Namen nach christlichen Massen, die sich in
den Einkaufszentren verlieren und an deren Seelen, die nach Gütern und
keinesfalls nach Armut streben! Denken wir auch an das verbreitete produktive
Arbeitssystem von überflüssigen Gütern, die mit der Entlohnung anderer, oft
entfremdender Aufgaben von Arbeitern, Managern, usw. gekauft werden müssen. Denken
wir jedoch vor allem an die Interessen und die Sichtweise des Lebens der
Menschen, die das Finanzwesen leiten. Die Reichen und Mächtigen könnten sich
sicher für die Armut aussprechen - offensichtlich für die der anderen. Allerdings
könnten sie, außer infolge einer sehr unwahrscheinlichen Bekehrung ihrerseits
zu einem neuen Leben, nicht auf ihren Reichtum verzichten.
Was ist indes letzten Endes die Armut wirklich?
Warum liebt Jesus die Armen? Warum waren und sind wahrhaft große Menschen, wie
ein Heiliger Franziskus, ein Buddha und ein Diogenes, ein Epikur, ein Sokrates
und verschiedene andere arm? Welche Armut predigten sie, welche praktizierten
sie? Epikur besaß keine Reichtümer, lebte jedoch gut und glücklich, umgeben von
treuen Freunden in einem reizvollen Garten. Selbst Jesus war nicht ärmlich und
wurde angeklagt, ein Vielfraß und Säufer zu sein (Matthäus 11,19); Sokrates
wohnte im Haus, das er zusammen mit siebzig Minen vom Vater als Erbe erhalten
hatte und lebte nicht im Elend. Und so darf der Begriff „Armut” nicht mit Not
und Bedürftigkeit gleichgesetzt werden. Man muss folglich
wirklich sagen und klarstellen, dass es eine extreme, erlittene und
unfreiwillige Armut gibt, die herabsetzt und zum Sklaven macht. Es gibt allerdings auch eine positive Armut, die sich mit
einem einfachen Leben deckt, das den Menschen befreit und erhebt. Eine
Bedingung, die auf Basis einer passenden und realistischen Überlegung um die
wesentlichen Werte des Lebens frei gewählt werden könnte. Das einfache Leben,
das also auch in positiver Armut
gelebt wird, besteht darin, seine wahren Notwendigkeiten
zu kennen und sich von induzierten Wünschen, vom Totem der Entwicklung um jeden
Preis, von der Anbetung von Geld und Gewinn, vom Abgott des Wachstums, vom
undendlichen Konsum zu befreien, der sich selbst konsumiert.
Es handelt sich
folglich um den existentiellen Zustand von reifen Menschen, die ihre Zeit beherrschen
und sich nicht für unglücklich halten, weil sie keine unnötigen und
überflüssigen Dinge besitzen. Außerdem gibt es keine Hinderungsgründe, dass
sich die positive Armut mit Bildung, Kultur, Geselligkeit, Beziehungsharmonie
und einem hervorragenden Verhältnis zur Umwelt verbindet. Ja, sie könnte sich
sogar als nützliche Voraussetzung hierfür erweisen.
Nun regieren
uns Finanzwesen und wirtschaftlicher Gewinn. Gleichzeitig steigen Arbeitslosigkeit
und die Zahl der neuen Armen an, die dies nicht aus eigener Wahl sind und es
vorziehen würden, reich oder wohlhabend zu sein. Dennoch beginnen die neuen
Armen und nicht nur sie die Vermutung zu hegen, dass der wahre Reichtum nicht
im Geld besteht und nicht von den Finanzmachtzentren reguliert werden kann.
Auch beim
Gedanken an den Reichtum müssen wir folglich vor allem überlegen, was ihn
wirklich ausmacht. Tatsächlich kommt echter Reichtum durch Kreativität zustande:
Er entsteht durch all diejenigen, die notwendige Güter und Serviceleistungen,
positive Konzepte, Forschung und Zusammenarbeit schaffen. Die wahren Erzeuger
von Reichtum sind also Handwerker, Bauern, Arbeiter, Erzieher, Wissenschaftler,
Schriftsteller, Künstler, Forscher, ehrliche Verwalter, Hüter der natürlichen
Ressourcen, usw. Ihr Reichtum ist menschlich und besteht eher aus Fähigkeit,
Wert und Intelligenz als aus Dingen und Geld. Allerdings haben sie im Vergleich
zu denen, die nichts produzieren, aber das Geld gut verwalten können und große
Finanz- und Spekulationstransaktionen ausführen, wenig oder keine Macht.
Folglich müssen
die echten Erzeuger des Reichtums sich tiefgehend ihres Wertes bewusst werden,
indem sie gleichzeitig eine wahre Demokratie aufbauen, die frei von der Macht
des Geldes ist und neue, grundsätzlich menschliche und beglückende Ansätze für
Existenz und Zusammenleben umsetzt. Hierbei muss die Sichtweise des Menschen
als eines in erster Linie wirtschaftlichen Faktors aufgegeben werden, um ihn
als menschliches Wesen zu erfassen, das in glücklichen und menschlichen Beziehungen
lebt. Mit anderen Worten geht es darum, mit großer Leidenschaft und Ernst zu bewerten,
was unser wahres Wohlbefinden oder Glück, wie man es auch nennen mag, ausmacht.
Und es ist eben das Glück, das die Menschen im Allgemeinen letztendlich, wenn
auch mit verschiedenen Ansätzen und Methoden, wünschen und nach dem sie streben.
Christine, die
Hauptfigur meines Romans, verfolgt und verkörpert meiner Meinung nach einen
möglichen Ansatz in Richtung Glück und gutem Leben. Sie ist nicht glücklich,
weil sie besitzt, sondern weil sie ist. Und in diesem Sinn ist sie nicht nur im
Wesentlichen Christin, sondern ist vielleicht und vor allen Dingen ein reifes
menschliches Wesen; das heißt, sie ist abgeklärt wie die echten Weisen,
vielleicht am ehesten wie ein Epikur. Denn dieser sagte, dass das Leben in
Abwesenheit von körperlichem Schmerz und seelischem Leiden in sich und an und
für sich eine Freude ist. Und wenn wir diese grundlegende Freude umsetzen, dann
müssen wir nichts anderes, als unsere grundlegenden Notwendigkeiten, wie Essen,
Rückzugsort, Kreativität und Freundschaft zufriedenstellen.
Und diese
Weisheit zieht sich quer durch die verschiedenen Glaubensbekenntnisse,
verschiedenen Philosophien und Religionen, die folglich zu Mitteln und Wegen
für die Verwirklichung von Menschlichkeit und Glück werden können. Außer sich
vom Geld und dessen Sklaverei und damit von den geläufigen materialistischen,
wirtschaftlichen und finanziellen Weltanschauungen zu befreien, muss man also
die tiefgehenden Gründe und Bedingungen des Glücks anerkennen, Anspruch auf deren
Recht erheben und es, wenn auch und vielleicht vorzugsweise, im Rahmen eines
einfachen und menschlich reichen Lebens verwirklichen.
Es geht also nicht darum, Bettler oder
Obdachlose wie die ersten Jünger Jesus, Abbilder des Heiligen Franziskus zu
werden oder sich in eine Einsiedelei zurückzuziehen. Stattdessen müssen wir
einerseits unsere realen und grundlegenden Bedürfnisse erkennen, die
zufriedengestellt werden müssen und andererseits müssen wir die wichtigen Faktoren
entdecken oder überdenken, die das Leben prägnant, tiefgründig, glücklich und lebenswert
machen.
Wir brauchen
nicht mehr Geld, sondern mehr Gerechtigkeit, Solidarität, Freundschaft, Ehrlichkeit,
Kreativität, Berufung zur Arbeit, Frieden, Liebe zur Natur, unserer Mutter. Wir
brauchen nicht einmal in Richtung der Dinge und privilegierten Positionen zu
laufen, die uns fern liegen. So befreien wir uns dann auch vom Konsumsydrom,
das die Welt konsumiert und aufbraucht.
copyright 2011 Eliseo
Laganà
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