30/10/18

CHRISTINE ROM - Eine Utopie * Roman


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     Oberflächliche Wünsche zu verfolgen, hier und dorthin zu laufen, dies und das zu wollen... es gibt viele Wege zur Sinnestäuschung.
    Gib das Äußerliche auf. Kultiviere die Inner-lichkeit.
                              Laotse

    Es siegt die Kurzsichtigkeit, das äußerst kurze Verfallsdatum einer Kultur, die sich in ihrer Gesamtheit umbringt und die Welt tötet. Anthropologen und Philosophen erklären uns, dass wir vielleicht so natürlich abdriften. Unsere Gesellschaft hat seit langem darauf verzichtet, an die Rettung der Welt zu glauben. Wir werden unsere Macht nur in der Zerstörung und im Verderb erkennen. Und heute werden die Schwarzseher von der Offensichtlichkeit derer überflügelt, die denken, dass eine realistische Sicht der Welt deren Zerstörung impliziert.
Franco La Cecla


Gott ist Vater, noch mehr ist er allerdings Mutter.
  Papst Johannes Paul I.

  

CHRISTINE ROM

- Eine Utopie



*
Roman
von  Eliseo Lagana



Neuabfassung
 Mit Präsentation von Elisabetta Di Lernia und
 neuem Schlusswort des Autors 

Übersetzung von Birgit Kohl


Präsentation 

    Wie könnte sich unsere Gegenwart in Zukunft weiterentwickeln? Und wer könnte sie abändern, wenn ihm Gehör geschenkt werden würde? Mit anderen Worten: Wie können wir vermeiden, den Abgrund der totalen Katastrophe zu erreichen?
    Christine Rom, die Hauptfigur dieser Geschichte, ist eine Zigeunerin, oder besser gesagt… eine Romni. Eine Symbolfigur für die Intoleranz unserer Gesellschaft gegenüber der Andersartigkeit. Wenn sie in der Vergangenheit in ein Konzentrationslager geschickt worden wäre, wie dies vielen ihrer „Ethnie” passiert war, würde sie in der Gegenwart sicherlich isoliert und diskriminiert werden – weil sie zur Bevölkerungsgruppe der Roma gehört und weil sie außerdem revolutionäre Ideen verbreitet. Diese bestehen darin, dass sich Christine bei ihren Aktionen innerhalb einer konformistischen und konformierten Gesellschaft mitteilt und ausdrückt, die nur an einen Gott glaubt, den Christine nicht anerkennen will: Den Gott Euro. Und dies macht aus ihr ein destabilisierendes Element, das als solches isoliert und kontrolliert werden muss.
    Tatsächlich unterscheidet sich die Ausdrucksweise von Christine von der der Allgemeinheit. Sie stammt aus einer archaischen, längst vergessenen Vergangenheit, die tiefgehende und vererbte Wurzeln hinterlassen hat, die auf die Figur der Muttergöttin zurückgehen.
    Der Autor veranlasst den Leser im Text zu ständigen Überlegungen. Hierbei verwendet er die Methode der Kontraposition, sowohl bei der Wahl der ins Spiel gebrachten, menschlichen Charaktere, als auch durch das Angebot verschiedener Perspektiven, aus denen die Welt betrachtet werden kann: Das Weibliche und das Männliche; Achtung, Liebe und Unterwerfung; Ökologie und innere Harmonie, denen Macht und Zerstörung sowie schließlich Muttergöttin und Euro gegenübergestellt werden.
    Alle weiblichen Romanfiguren haben einen positiven Charakter und sind fähig, sich und ihre Umgebung zu verwandeln. Dagegen sind die männlichen Protagonisten nur dazu in der Lage, sich positiv zu verändern, wenn sie dies unter dem Einfluss der „weiblichen” Figuren wollen.
Ein großzügiger und mutiger Roman, der aus dem üblichen Raster fällt, um eine scheinbar weit entfernte, weil vergessene Welt zu ergründen, eine Welt, in der die Rolle der Frau geachtet wurde, weil sie ein harmonisches Symbol für den Ursprung von Welt und Leben ist.
   (…) „Für die Veränderung der Welt bräuchte es das Beispiel weiser, glücklicher Frauen, weiser Frauen wie dir, die das Sein über das Haben stellen und es aufwerten, für die Freude wichtiger als Stolz ist, und die Glückseligkeit über Kriegsmedaillen steht” (…).
    Deshalb können wir uns nur wünschen, dass Frauen die Kühnheit von Christine annehmen, dass sie lernen, sich der derzeitigen, chauvinistischen, zerstörerischen und umweltfeindlichen Mentalität zu entziehen, die sich Leistung, Bürokratie und Krieg auf die Fahne schreibt. Dieser Akt der Befreiung erfolgt nicht durch einen Krieg der Geschlechter, sondern durch die Wiederentdeckung des weiblichen Prinzips, das uns allen innewohnt. Und das im Endeffekt das ist, was Christine schließlich wirklich verkörpert.
Elisabetta di Lernia


 CHRISTINE ROM

Prolog

     Richter des obersten Gerichtshofs von Euro, hört nun meine Verteidigungsrede zu Euch an. Als Junge wurde ich in London ausgebildet. Danach absolvierte ich die Hochschule für Wirtschaftswissenschaften von Frankfurt. Wie meine Kollegen aus Finanzfachkreisen bezeugen können, befolgte ich das Gesetz unserer Väter immer in aller Strenge und voller Eifer für Euro. Ich kümmerte mich nicht um die Armen und verfolgte die Zigeuner. Als ich allerdings auf Reisen war, wurde ich plötzlich von einem Licht umgeben und ich hörte eine Stimme, die mir sagte: „Paul, warum verfolgst du mich?”.
    „Wer bist du?” fragte ich.
     „Ich bin Christine, Tochter der Leute, die du verfolgst! Aber jetzt steh auf und geh nach Bulla! Dort wirst du die Liebe unserer Mutter kennenlernen und dein Schicksal wird sich erfüllen”.


                                                    
ERSTES KAPITEL

CHRISTINE

Auf der Straße

    Der intensive Gesichtsausdruck von Christine war einfach hinreißend. Ihre Augen schienen einen versteckten Sinn, ein Geheimnis oder ein undefinierbares Versprechen zu enthüllen. In ihrem Lächeln, in der Intensität ihres mitunter funkelnden Blicks schwang etwas Primitives und gleichzeitig bezaubernd Sanftes mit.
    Christine trug einen langen Rock und ein eng anliegendes Hemd unter einer schweren Jacke. Sie war wohlgeformt und mittelgroß, hatte eine schmale Taille und breite, wenn auch nicht zu breite Hüften. Ihr Gesicht mit schwarzen und lebhaften Augen, der kleinen, leicht nach rechts verschobenen Nase und den vollen Lippen, die gleichmäßige und weiße Zähne freigaben, war rund und ebenmäßig. Ihre nackten Füße waren in Plastiksandalen gehüllt. Sie lief aufrecht und mit stolzen, langsamen, fast wohlüberlegten Schritten dahin. Das blinde Schicksal hatte sie auf die Straße gestellt. Hätte sie sich jedoch mit der gleichen Körperhaltung und eleganter Kleidung anderswo befunden, wäre sie als vornehme Dame betrachtet worden. Sie bettelte, schien aber, wie eine gute Schauspielerin, die sich selbstsicher ihres Wertes bewusst war, eine bescheidene Rolle im Theater des Lebens zu spielen. Christine war schön, jung, selbstzufrieden – und sie war eine Nomadin. Sie war sogar glücklich und, wie allseits bekannt, kennt Glück keinen Rassismus. Aus ihrer Sicht hatte sie keine Vorurteile gegen die sogenannten ‚Gage‘ und beneidete sie auch nicht. Obwohl sie sie anbettelte, behandelte sie sie doch unbefangen, als ob sie Geld nicht wirklich bräuchte. Indessen verhielt sie sich Paul gegenüber genauso. Sie nahm seine Almosen an, zeigte aber, außer einem flüchtigen und intensiven Lächeln, keine Dankbarkeit.
    Bei seiner ersten Begegnung mit ihr, erfuhr Pauls Seele ein unerwartetes und von unerklärlicher Beunruhigung begleitetes Begehren, das ihm wie eine Hörigkeit erschien. Derartige Gefühle zu einer Frau wie ihr mussten ihm etwas unpassend erscheinen.
    Paul lebte in London und war Finanzfachmann und Manager eines multinationalen Konzerns. Er war ein Mann, den viele als normal eingestuft hätten. Manchmal hegte er einige übliche Vorurteile gegenüber Sachverhalten und Personen, insbesondere, wenn ihm diese sozial unterlegen erschienen. Auch Frauen beurteilte er eher herablassend. Eben diese oder besser gesagt jene Frauen, die einen reichen und nicht hässlichen Ehemann suchten, hatten ihn sehr umworben. Allerdings war er immer stark von seiner Arbeit eingenommen, so dass die Jahre vergingen und er nie in den Stand der Ehe getreten war.
    Seinen Sommerurlaub verbrachte er gerne in Sizilien. Er flog von London nach Catania, nahm sich einen Zug nach Bulla und mietete sich dort im exklusiven Hotel Margroz in der Nähe des Strandes ein. Dieses lag jedoch auch nicht weit von einem berühmt-berüchtigten Ort entfernt, an den die Behörden eine Gruppe unerwünschter Nomaden verbannt hatte. Wenn Paul sie mitunter erblickte, beobachtete er sie voller Verachtung. Dennoch traf er Christine jeden Morgen sobald er das Hotel verließ – und er bekam Lust, stehenzubleiben und sie zu bewundern. Christine wartete und schenkte ihm ein Lächeln, wenn ein Geldstück in ihren Plastikbecher fiel.

    Paul grüßte sie und gab ihr zehn Euro. Dies war sicherlich viel für ein Almosen, war für ihn jedoch in Anbetracht eines großen Lächelns vollkommen bedeutungslos. Paul wollte das Geld nicht in den Plastikbecher geben, den sie ihm hinstreckte. Vielmehr legte er es in ihre Hand, um mit ihr in Kontakt zu treten. Ihre Finger berührten sich für einen langen Augenblick. Sie hatte kalte Hände, die Paul allerdings als angenehm frisch deutete.
    - Wie geht es dir? – fragte er sie.
     Christine schenkte ihm einen leuchtenden Blick, den Paul nicht erwidern konnte. Im Licht dieser lebendigen und durchdringenden Augen spiegelte sich ihre Seele wider. Ihre übliche Geste, den Kopf nachdenklich und entspannt auf eine Schulter zu legen, forderte gleichzeitig fast zu Küssen und Umarmungen auf. Dabei schienen ihre Augen mit einem heiteren und glücklichen Gesichtsausdruck in aller Freiheit die Gegenwart und das Wesentliche der Dinge um sich herum aufzunehmen. Sie war vollkommen ungeschminkt und trug weder Puder, noch Lippenstift oder Wimperntusche. Ihre Haut und ihr Antlitz zeigten tatsächlich die Vitalität und Blüte der Jugend, die keine Kosmetika benötigte.
    Paul hatte nun, als er sie so vor sich betrachtete und ihre Stimme hörte, plötzlich den Eindruck, nicht gelebt zu haben. Er fühlte sich wie aufgerüttelt und neues Leben schien ihn jetzt mit sanfter Intensität zu erfüllen.
    Christines Haare waren gut gekämmt und bildeten hinter dem Nacken einen dichten Pferdeschwanz.
    - Welch schöner Goldglanz, - sagte er zu ihr.
      Christine löste den Haarknoten mit einem schnellen Griff ihrer Hände hinter den Kopf, so dass ihre Haare sanft auf die Schultern fielen.
    - Ich habe einen Müllcontainer gesehen, der mir interessant scheint, - sagte sie.
    - Wo? - fragte Paul.
    - Hier in der Nähe, hinter dem Bahnhof.
    Christine sah Paul an. Sie warf ihm einen durchdringenden Blick voller glühender Vitalität zu, der auch eine stillschweigende und unwiderstehliche Einladung war, ihr zu folgen.
    Sie liefen in Richtung Bahnhof und fanden sich in einem schattigen Sträßchen wieder.
    - Hier, - sagte Christine.
    Während sie neben Paul stand, zog sie an seinem Arm und hielt ihn lächelnd mit einer ungezwungenen und unschuldigen Geste fest. Er verstand und beugte sich nach vorne, um den Deckel des Containers anzuheben. Christine begann, darin herumzuwühlen und etwas zu suchen.
    - Ich habe es gefunden! – rief sie aus. – Es ist ein neues Täschchen aus Leder. – Und sie hängte es sich über den Arm. Dann blieben sie einige Augenblicke lang still und ruhig zusammen stehen, weil sie es nicht schafften, sich zu verabschieden und wegzugehen. Das graue Licht des späten Sommernachmittags schwand langsam. Paul drehte sich um und erblickte das Schild einer Pizzeria.
    - Komm mit zum Essen, - sagte er zu ihr.
    - Gehst du nicht im Hotel essen? – fragte sie ihn.
    - Heute Abend nicht. Ich habe Lust auf eine Pizza und ich würde mich freuen, sie in deiner Begleitung zu genießen… komm, gehen wir hinein.
    Eine Katze ruhte zusammengerollt auf einem Stuhl. Christine bemerkte sie überrascht, dann setzte sie sich. Sie betrachtete das Besteck und nahm es in die Hand.
    - Müssen wir damit essen? – fragte sie lächelnd und Paul verstand nicht, ob sie das ernst meinte oder ob sie scherzte.
    Sie bestellten die Pizzas. Christine strahlte. Die zunächst ruhige Katze sprang nun plötzlich auf ihre Knie.
    - Johannes, mein lieber Johannes, du hast mich erkannt! – rief sie und begann ihn zu streicheln.
    - Seid ihr Freunde? - fragte Paul.
    - Ja, wir kennen uns aus einem früheren Leben.
    - Meinst du das ernst? - erwiderte Paul.
    - Ja, - sagte sie entschlossen.
    - Glaubst du das wirklich?
    - Ich glaube an das, was ich weiß. Im Übrigen gibt es die Reinkarnation. Dies ist Johannes.
    - War dieser dein Freund in einem anderen Leben ein gewisser Johannes und ist er jetzt eine Katze?
    - Viele kehren als Katzen zurück. Manchmal ist das besser so. Katzen haben eine natürliche Harmonie mit sich selbst, sind spirituelle Wesen und lieben die Göttin. Vor allem jetzt in unserer Welt ist ihre Lebensbedingung oft besser als die des Menschen.
    - Ein Mensch ist einer Katze immer überlegen.
    - Die Menschen sind verrückt geworden. Sie hasten, wollen kaufen und zu etwas werden, um an irgendeinem Punkt in der Zukunft anzukommen, den sie für besser halten. Dabei entgehen ihnen die Gegenwart und das Leben im Hier und Jetzt und wenn du nicht jetzt lebst, lebst du nicht in vollen Zügen. Katzen sind dagegen weise und sind in die ewige Gegenwart getaucht. Einige von ihnen sind Zen-Meister, Reinkarnationen von erleuchteten Menschen der Vergangenheit. Von ihnen könnten wir viele Dinge lernen, wenn wir sie nur beobachten würden, - sagte Christine. 
    - Ich wusste gar nicht, dass du ein New Age-Apostel bist, Christine, - sagte Paul, der sich nicht entscheiden konnte, ob er darüber amüsiert oder verstimmt sein sollte.
    Johannes sprang auf den Tisch, machte einen Buckel und richtete den Schwanz auf, betrachtete Paul mit menschlichen Augen und miaute. Dann kehrte er auf die Knie von Christine zurück und begann zu schnurren.
    - Hast du seine Worte gehört? - fragte Christine.
    - Was hat er gesagt?
    - Er hat dich begrüßt.
    Paul dachte, dass Christine verrückt sei. Dennoch übte sie eine starke Anziehungskraft auf ihn aus. Er war förmlich von ihren funkelnden, durchdringenden, tiefgründigen Augen und ihrer gleichzeitig sanften und überzeugenden Stimme angezogen, ja sogar hypnotisiert. Paul wurde von der ewig währenden, verrückten Liebesleidenschaft ergriffen, die er in jeder Faser seiner Körpers verspürte und die sich nach Erwiderung sehnte.
    - Wer bist du? – fragte er sie.
    - Weisst du das nicht? Alle sagen, dass ich eine Nomadin bin.
    - Du bist anders…
    - Wer bin ich deiner Meinung nach? Wie siehst du mich?
    - Ich weiß nicht, du bist frei und es scheint mir, dass du dein eigenes Gesetz bist und dass du keinen Meistern nachläufst.
    - Wenn jemand wirklich einen Meister braucht, so muss er aufpassen und abwägen. Er muss eine richtige Auswahl darüber treffen, wer dies sein könnte. Ich erkenne die Präsenz meines Meisters im Lächeln eines Kindes, im Gesicht eines Liebenden, aber auch im Blick des Verrückten, in der Hoffnungslosigkeit des Armen, dem Leiden des Missbrauchten, des Kranken. Ich sehe meinen Meister inmitten von Freude oder Verzweiflung. Ja, ich nehme ihn deutlich wahr und erkenne ihn, ich erhalte seine Gnade. Allerdings kann ich nicht viel für ihn, meinen armen, leidenden, an das Kreuz genagelten Gottessohn tun, für ihn, der von den Verehrern von Geld, Macht und Erfolg ans Kreuz geschlagen wurde. Und deshalb erweist sich er, der selbst von seinem Vater am Kreuz verlassen wurde, im Leiden als mein wahrer Meister.
    - Vielleicht bist du ihm ähnlich... er war ob-dachlos und arbeitslos, von Gott und den Menschen verlassen und hatte, wie du, kein Geld.
    - Ich bin nicht verlassen... Die Göttin führt und stützt mich. Eine Mutter verlässt ihre Kinder nie.
    - Dann bist du deshalb glücklich...

   Nach dem Abendessen erschien Christine Paul bei der Verabschiedung noch faszinierender.
   Beim Kontakt ihrer Hände wurde eine Banknote übergeben.
    - Du bist wunderbar, - sagte er sanft zu ihr und suchte dabei ihre Augen. Christine erwiderte seinen Blick allerdings nicht, sondern wendete sich nach oben, um eine einsame Wolke zu beobachten, die den Himmel wie ein fliegender Drache durchzog.
    Auch Paul bemerkte sie. Dann wendete er sich wieder zu Christine, die sich jetzt entfernte. Die Trennung von ihr fiel ihm sehr schwer, eine düstere Wolke breitete sich über seinem Herzen aus. Es wurde dunkel und die Sterne glitzerten. Paul hatte nie Zeit gehabt, sie zu betrachten und in seiner Metropole London konnte man sie nicht sehen, weil sie immer von tausend künstlichen Lichtern verdunkelt wurden. Er steuerte auf die Strandpromenade zu, beobachtete einen rötlichen Schimmer, der sich in den düsteren Wellen andeutete und wartete darauf, dass der Mond aufging. Dann betrachtete er in der Ferne eine Reihe von hundertjährigen Bäumen, die ihm zunächst wie große dunkle Schatten und dann, aus der Nähe, wie fühlende Wesen erschienen, die sich fast seiner Gedanken bewusst waren.
    Als er dann abends, bevor er zu Bett ging, an das dachte, was er am vergangenen Tag getan hatte, verstand er sich selbst nicht. Er fragte sich, wie er, ein reicher, anerkannter und ernsthafter Mann, sich zusammen mit einer Zigeunerin vor einem Müllcontainer aufhalten und dessen Deckel aufmachen konnte, um ihr zu ermöglichen, darin zu wühlen. Welche hypnotische Kraft hatte ihn dazu gebracht, eine vorher derartig undenkbare und absurde Tat zu begehen? Und was hätten seine Freunde aus Finanzfachkreisen gedacht, wenn sie ihn gesehen hätten? Sie hätten gedacht, dass er den Verstand verloren hatte und wie allseits bekannt, ist die Liebe bisweilen eine Form von Wahnsinn.

Mario, der Eremit

    An gewissen Stunden des Tages, meistens nachmittags, sah man Christine nicht auf der Straße und Paul fragte sich beunruhigt, wo sie war.
    Er steuerte auf die Orte zu, an denen sie sich üblicherweise aufhielt. Dann erblickte er sie in der Ferne, während sie mit einem Passanten sprach. Christine blieb schließlich alleine zurück und ging weg. Paul beobachtete einige Sekunden lang ihren bedächtigen und eleganten Gang. Dann folgte er ihr.
    Er schlich ihr bis zum Ende einer Straße am   Ortsrand nach. Dabei kamen sie zunächst in der Nähe von alten, roten Backsteinhäusern vorbei und passierten dann eine Reihe von majestätischen Pinien. Danach erreichten sie auf einem einsamen Pfad ein offenes Feld, das zu den Füßen eines großen Felsens führte. Hinter ihm konnte sich der Blick an grünen und blühenden Hügeln erfreuen. Christine überschritt den Hügel und verschwand dahinter.

    Nachdem er sich vorher vergewissert hatte, dass Christine auf der Straße bettelte, durchlief der von großer Neugierde angetriebene Paul am folgenden Tag die gleiche Strecke und kam vor dem Felsen an, der in der Mitte eines Gartens mit majestätischen Bäumen aufragte. In der ganzen Umgebung fühlte er eine unglaubliche Ruhe und hatte das sonderbare Gefühl, dass die Zeit irgendwie stillstand und stark auf die Gegenwart konzentriert war. Hinter dem Felsen erhob sich ein bescheidener Bau aus Holz. Die Eingangstür stand offen. Paul erblickte einen spärlich eingerichteten Raum, dessen Fußboden mit Perserteppichen bedeckt war. In einer Ecke war links neben einem weitläufigen Fenster die Ikone eines Madonnenbildes aufgehängt. Darunter saß ein meditierender Mann auf dem Boden. Dieser nahm Pauls Anwesenheit wahr und lud ihn ein, auf einem Hocker Platz zu nehmen, während er seitlich versetzt in Meditationshaltung auf dem Teppich verblieb. Dann schloss er die Augen erneut, senkte den Kopf und führte die Hände zur Gebetshaltung zusammen. Es vergingen wenige Sekunden, die Paul sehr lang erschienen. Draußen begann es zu regnen.
    Mario sah Paul in die Augen. Paul senkte den Blick und wie selbstverständlich legte er seine Hände aufeinander. Nun schienen beide in ein Gebet vertieft zu sein.
    - Willkommen! Bleiben sie hier, um sich vor dem Regen in Sicherheit zu bringen. Kommen sie von weit her? - sagte Mario mit heiterer und tiefer Stimme.
    - Ich komme jetzt aus Bulla, bin aber Engländer.
    - Reisen sie oft hierher?
    - Ja, jeden Sommer. Die Primitivität des Orts und die Ruhe der umliegenden Landschaft ziehen mich an.
    - Die göttliche Gnade zeigt sich in der Stille. 
    - Ich möchte sie nicht stören.
    - Sie stören überhaupt nicht. Ich bin immer alleine, aber mitunter treffe ich gerne jemanden, um mich zu unterhalten.
    - Leben sie hier als Eremit? Es gibt nicht viele, - sagte Paul.
    - Ja, ich könnte ein Eremit sein.
    - Darf ich sie nach den Gründen für diese Entscheidung fragen? Leben sie alleine, weil sie die Menschen hassen?
    - Absolut nicht – antwortete Mario gelassen – ich hasse sie nicht, aber ich halte mich lieber von ihnen fern.
    - Warum?
    - Nach nur wenigen Jahren Aufenthalt auf diesem Planeten habe ich erkannt, dass einige seiner Bewohner oberflächlich, gierig, unehrlich, aggressiv und egoistisch sind. Deshalb habe ich mich zurückgezogen, um für sie zu beten. Außerdem liebe ich meine eigene Gegenwart, die Natur und vor allem die Stille sehr. Und vielleicht wissen sie nur zu gut, dass die Bewohner von Bulla zum Großteil nichtssagend gesprächig sind.
    - Und dennoch unterhalten sie sich gerne.
    - Ja, hin und wieder. Also, worüber wollen wir sprechen? Was möchten sie mir erzählen? Warum sind sie bis hierher hoch gekommen?
    Die Stimme von Mario klang überzeugend.
    Paul war sich seiner Sache nicht sicher und wusste nicht recht, ob er sprechen oder sich mit einem Gruß verabschieden sollte. Er sah das Gesicht des Eremiten forschend an und las darin eine große Zuhörbereitschaft.
    - Ich spazierte und bemerkte den Felsen… oder sagen wir so: Um ehrlich zu sein, wollte ich verstehen, wo eine Person verschwunden war oder sich versteckt hatte, der ich gestern bis hierher gefolgt war - sagte Paul. Gleich danach bereute er allerdings, sein kleines Geheimnis preisgegeben zu haben.
    Mario legte erneut die Hände zusammen. Dann betrachtete er den Gast eingehend. Es entstanden Augenblicke des Schweigens, die Paul als unangenehm empfand. Einerseits fühlte er sich immer noch unsicher, andererseits nahm er jedoch wahr, dass der Eremit wirklich gastfreundlich war.
    - Sie möchten also vielleicht von ihrer Beziehung zu einer Frau sprechen? - fragte Mario.
    - Zu einer Zigeunerin.
    - Ich hoffe, dass sie nicht nur eine Zigeunerin, sondern ein menschliches Wesen für sie ist.
    - Ja, ein menschliches Wesen, das mich quält.
    - Sie beziehen sich auf Christine... eine wunderschöne und mysteriöse, glückliche und freundliche, immer lächelnde Frau.
    - Es scheint, als ob sie sie sehr gut kennen…
    - Sie ist eine echte Frau, eine Avatara.
    - Avatara?
    - Ja. Die avatarischen Frauen sind Gottheiten, erhabene Offenbarungen der vielgestaltigen Weiblichkeit und sie hatten das Glück, eine von ihnen zu treffen.
    - Eine Avatara, die mir Kopfschmerzen bereitet.
    - Das glaube ich ihnen. Frauen beunruhigen uns mitunter.
    - Das kann schon sein, aber Christine ist anders: Eine Bettlerin, aber stolz und glücklich, eine lächelnde Frau, die ihren Weg geht. Sie lässt mich nicht zur Ruhe kommen.
    - Warum ist sie ein Problem für sie? - fragte Mario.
    - Sie fasziniert mich wirklich sehr, aber ich ärgere mich, wenn ich bemerke, dass sie eine derartige Macht über mich ausübt. Ich treffe sie und sie zieht mich in ihren Bann, sie hypnotisiert mich.
    - Christine hat also diese Wirkung auf sie?
    - Ja, sie hypnotisiert mich und gleichzeitig bin ich ihr gegenüber derartig gerührt. Dieses zarte Gefühl habe ich noch nie erlebt.
    - Und das ist keine gute Sache?
    - Schon, aber sie fasst keine Zuneigung, sie ist mir nicht dankbar, sie flieht vor mir.
    - Nomaden sind fast nie dankbar. Bitten ist ihre Arbeit, sie arbeiten und die Gage geben. Und was geben sie schon? Nur ein kleines Geldstück, um sie loszuwerden.
    - Gage?
    - Mit diesem Begriff bezeichnen die Nomaden die Sesshaften. Sie sind Roma, das heißt Menschen. Dies ist tatsächlich die Bedeutung des Wortes, wäh- rend die anderen Gage sind.
    - Sind wir keine Menschen für sie?
    Mario schloss die Augen, senkte den Kopf und kratzte sich an der Stirn.
    - Was ist ein Mensch? – sagte er etwas ratlos, - es gibt wenige Menschen. Wir werden mit einer gewissen Neigung geboren, Mensch zu werden. Wenigen gelingt dies allerdings wirklich. Vielmehr sind wir Bestien, besondere Bestien, die denken können.
    - Denken ist doch schon etwas…
    - Wenn sie unsere Situation, den Zustand unseres Planeten betrachten, erkennt man, dass der Gedanke nicht viel nützte. Sprechen wir aber nicht davon, kehren wir zu ihnen, zu ihrem Gefühl zurück. Sie sagten also?
    - Ich sagte, dass ich stark gerührt bin, wenn ich Christine sehe. Sie löst bei mir ein intensives Gefühl auf Höhe der Brust aus.
    - Dem Herzchakra.
    - Dem Herzcha…?
    - Dem Zentrum der Gefühle. Man empfängt Gefühle, sie werden übertragen und durchlaufen das Herzchakra. Christine teilt ihnen ihren inneren Zustand mit. Nun erfolgt beim Kontakt mit einem gesunden und starken Frauenherz eine Ansteckung, es kommt zu einer Kommunikation. Die Gnade schwappt von dort über, wo sie im Überfluss vorhanden ist. Dies ist ein gutes Zeichen. Es bedeutet, dass sie verstehen, wahrnehmen, dass Christine eine besondere Frau ist... weil sie glücklich und mit Gnade gesegnet ist und weil sie außerdem einige Siddhi besitzt.
    - Siddhi?
    - Übernatürliche, spirituelle Kräfte.
    - Gnade, Siddhi, übernatürliche, spirituelle Kräfte, was soll das heißen? - fragte Paul.
    - Das sind Kräfte der Natur, der Seele. Es gibt Mysterien, auch wenn wir versuchen, diese mit den verschiedensten Ansätzen zu erklären. Und hier sehen wir uns zweifellos realen, konkreten, wenn auch mysteriösen Tatsachen gegenüber.
    - Welche realen Tatsachen?
    - Personen, vor allem Frauen, die natürlicher, d. h. tiefgründiger und stärker sind, strahlen besondere Energien aus. Darüber hinaus sind sie auch oft schlauer, flexibler und intuitiver. Je natürlicher ein Wesen ist, umso größer ist seine natürliche Stärke, seine gnadenreiche Segnung, umso mehr Energie strahlt dieses Wesen aus und beeinflusst so die anderen.
    - Ich persönlich glaube nicht an diese Einflüsse. Die Wissenschaft hat sie schließlich nicht bewiesen.
    - Die Wissenschaft ist fast zu einer Religion geworden, auf die die einfachen Menschen, ganz zu schweigen von den Wissenschaftlern, blind vertrauen. Viele glauben, dass sie uns absolute und endgültige Antworten geben kann.
    - Sie basiert auf dem Prinzip der Reproduzierbarkeit und Messbarkeit der Phänomene, während dagegen alles, was nicht messbar und quantifizierbar ist, nicht in den Rahmen der Wissenschaft fällt, - warf Paul ein.
    - Das stimmt. Allerdings gibt es neben der wissenschaftlichen Erkenntnis auch die Beziehungserkenntnis, die sich direkt mitteilt und wahrnimmt. Und Christine teilt die Sicherheit des Glücks mit, die vielleicht kein wissenschaftliches, objektives und reproduzierbares Faktum ist, die jedoch von denen wahrgenommen wird, die eine gewisse Sensibilität besitzen. Und das erklärt den Grund, warum viele sie suchen, mit ihr sprechen wollen, sich in ihrem Einflusskreis bewegen möchten. Und sie, Paul, sind einer von diesen. Aber auch ich gehöre dazu und vielleicht sogar mehr als sie, weil ich nicht sehr an die Wissenschaft glaube und weil ich auch nicht sehr rational bin.
    - Sind sie das wirklich nicht?
    - Vielleicht wäre es besser zu sagen, dass ich nicht von Descartes Gift durchtränkt bin.
    - Was hat Descartes damit zu tun?
    - Oh, er hat sicher etwas damit zu tun. Meiner Meinung nach ist er ein Unbedachter, der das Subjekt vom Objekt und den Körper von der Seele getrennt hat. Dabei hat er nicht verstanden, dass die Grenzen nur mental und erdacht sind, dass alles in der Einheit Gottes lebt.
    - Es kann schon sein, wie sie sagen, Eremit. Aber ich bin ich und Christine ist Christine, wir sind keine Einheit, das scheint mir offensichtlich. Allerdings habe ich mich absurd an sie gebunden und es geht mir schlecht, wenn ich sie nicht sehe.
    - Wenn sie in ihrer Nähe sind, erfahren sie ihren angenehm ausgleichenden Einfluss und fühlen sich wohl. Und wenn sie dann von ihr entfernt sind, kehren sie in sich und in ihren üblichen existentiellen Modus, in ihre gewöhnlichen und mechanischen Gedanken zurück. Ihr Unbehagen ist ein endogener Faktor. Vielleicht geht es ihnen schlecht, weil sie sich schließen, verweigern, weil sie denken. Versuchen sie sich zu entspannen, sich vollkommen für die Liebe Christines zu öffnen und sie werden sehen, dass der Schmerz wie von Zauberhand verschwindet.
    - Christine liebt mich also?
    - Sicher, Christine liebt, sie liebt sehr, und deshalb ist sie glücklich, obwohl sie eine arme Bettlerin ist; aber sie liebt nicht insbesondere sie, Paul. Christine strahlt Liebe aus, ebenso wie die Sonne überall und auf jeden Licht ausstrahlt.
    - Wie hätte Christine ihre spirituelle Kraft, ihre Siddhi erworben, von denen sie sprechen?
    - Sie wurde so geboren. Sie ist eine gute, einfache Seele und jetzt hat sie sich der großen Aufgabe der spirituellen Suche gewidmet.
    - Ich sehe sie, wenn sie Geld sucht!
    - Lassen sie sich nicht vom Schein trügen. Beurteilen sie ein menschliches Wesen nicht nach der unmittelbaren Bedingung, in der sie es antreffen. Vergessen sie nicht, dass auch Buddha ein Bettler war und viele Erleuchtete und auch Philosophen nichts besassen. Dennoch waren sie Meister der Weisheit. Auch Jesus lebte von milden Gaben, war ein armer Obdachloser. Niemand kann diese Wahrheit leugnen. Tatsächlich zeichnen sich die Erleuchteten, Heiligen, großen Forscher, Liebhaber der Weisheit durch Armut aus und sie werden sie nie in tausend Gütern verloren, von tausend Dingen oder tausend Gedanken erschwert sehen. Sie verlassen das Äußerliche und kultivieren die Innerlichkeit. Sie leben in ihrem Zentrum, nicht im Äußerlichen, in den Besitztümern. Die Weisen sind arm, sie sind frei und verwirklicht. Auch Christine ist so und sie sehen, sie fühlen das. Vielleicht ist das verwirrend für sie? Außerdem macht Christine, wie ich ihnen sagte, eine unermüdliche innere Suche durch.
    - Wie?
    - Sie konzentriert ihren Geist, befreit ihn von unnötigen Gedanken, schweren Gefühlen. Sie breitet die Hand aus, wo ein mildtätiger Passant eine kleine Spende ablegt und gleichzeitig betet und meditiert sie. Sie tut dies seit Jahren und ist noch so jung. Sie wird eine Heilige werden.
    - Und deshalb hat sie durch Gebet und Medita-tion ihre spirituellen Kräfte perfektioniert?
    - Sicher und es sind die gleichen Kräfte, die auch wir besitzen oder die wir besitzen würden, wenn wir uns nicht in tausend Gedanken und Zerstreuungen, in vielen unnötigen oder sogar schädlichen Tätigkeiten verlieren würden. Wenn wir, statt ständig unter künstlichen Anregungen, inmitten der Natur, am Meeresufer oder mit Blick auf einen Berg leben würden, wenn wir den ständigen Fluss unserer Gedanken, unserer Fantasien und Emotionen unbeteiligt beobachten würden. Wenn wir all unsere Energien an einem Punkt konzentrieren würden, anstatt stumpfsinnige Fernsehprogramme anzuschauen, anstatt Geld dadurch zu verdienen, dass die Armen beraubt werden, dann wären wir jetzt glücklicher und würden nicht zu Christine gehen, um einen Krümel Glück zu erbetteln. Und so sind wir die wahren Bettler. Ja, das ist tatsächlich so, auch wenn unsere Häuser voller Schätze sind.
    - Geschätzter Eremit, lassen Sie sich eines sagen: Sie sind ein sonderbarer Typ.
    - Denken sie auch über ihre Seele nach; wenn sie sich verstehen und selbst lieben würden, wenn sie in sich Kraft und Frieden ihrer tiefgehenden Innerlichkeit entdecken und realisieren würden, dann müssten sie nicht außerhalb von sich suchen.
    - Wirklich?
    - Christine zeigt ihnen den Weg zu einem Schatz, der in ihnen verborgen ist, Paul. Sie beginnen zu erwachen. Verlieren sie nicht ihr Leben, wachen sie auf und Gott wird ihnen die Gnade erweisen.
    Paul antwortete nicht. Er war betreten und dachte, dass ihm diese Predigten reichten und dass er eigentlich gehen wollte, wenn ihn nicht irgendetwas zurückgehalten hätte. Gleichzeitig hatte er gemischte Gefühle. Er teilte keinesfalls die Worte von Mario, hatte sie aber aufmerksam angehört.
    Beide schwiegen. Paul schaute aus dem Fenster. Die Blätter eines mächtigen Eukalyptusbaums nahmen den Regen weiter auf. Eine Elster hüpfte in den Zweigen umher. Sie verschwand, tauchte weiter oben wieder auf, flog dann plötzlich gegen den grauen Himmel und verschwand. Paul kehrte mit seinem Blick in den Raum zurück. Der Eremit lächelte ihm zu. Er hatte ein Licht in seinen Augen. Nun empfand Paul ein Gefühl der Ruhe, das ihn schließlich erreichte.
    - Eremit, sie sind unbeschwert? – fragte er.
    - Ja, warum fragen sie das?
    - Zutiefst unbeschwert?
    - Ja.
    - Das wäre ich auch gerne, was muss ich tun? Ich würde jede Summe bezahlen, um unbeschwert zu leben.
    - Die Unbeschwertheit kann man also kaufen? – fragte Mario.
    Sie hörten auf zu sprechen. Dann verabschiedeten sie sich mit einer Umarmung und Paul kehrte nachdenklich ins Hotel Margroz zurück. Sicher verstand er Mario, seine Ideen und die radikal andersartige Lebenseinstellung nicht und dennoch nährte er ihm gegenüber ein sonderbares Gefühl der Bewunderung. Er dachte, dass ein Mann ein gewisses Format haben musste, um sich beim Nichtstun unbeschwert zu fühlen.

Christine und Mario

    Als Mario allein zurückblieb, begann er, die Bäume im Garten zu beobachten: Dort standen mächtige Eukalyptusbäume, Tannen und mediterrane Pinien. Jenseits des Gartens erblickte man Hügel voller Erika.
    Marios Geist war frei und in der Gegenwart verankert. Durch seine Meditationspraktik war es ihm gelungen, den Raum, der zwischen den Gedanken besteht, zu erkennen und auszudehnen. Deshalb hatte er sich still in die Natur versenkt, ohne den verschiedenen, sich wiederholenden Gedankenautomatismen oder Erinnerungen zu folgen, die ihm noch in den Sinn kommen konnten. Er glaubte, dass eine Erinnerung eine Art Traum war. Die Vergangenheit wird im Gedächtnis umgeformt, neu interpretiert und geschaffen und dann geträumt. Und wenn ihm Erinnerungen oder Geistesblitze aus der Vergangenheit kamen, verweilte er nicht bei der Rückschau, sondern ließ die Bilder ohne Widerstand erscheinen und hielt sie nicht auf, um sich darin zu verlieren.
    Wenn ihn jemand beobachtet hätte, hätte er ihn nicht für einen glücklichen Mann gehalten, wenn man unter Glück eine angenehme Gefühlsregung versteht. Mario war nicht „glücklich“, er war unbeschwert und in eine tiefgehende, friedvolle Stille gehüllt. Und der leichte Klang von jetzt hörbaren Schritten schien sich harmonisch mit dieser Stille zu verbinden. Mario drehte sich um und das Lächeln Christines brachte ihn zum Strahlen. Und so stand sie still vor ihm und jedes Wort wäre überflüssig erschienen. Sie umarmten sich und setzten sich dann beide hin, um die Natur zu betrachten.
    Man hörte einen Hund bellen. Ein großer, roter Mond kletterte die Zweige eines Eukalyptusbaums hoch, während die Nacht sich von Osten näherte.    Es war Mario, der zuerst sprach.
    - Heute habe ich den Besuch eines originellen Typs, eines Ausländers, erhalten.
    - War es vielleicht Paul?
    - Ja, er schien sehr an dir interessiert.
    - Das stimmt. Er kommt mich jeden Tag besuchen. Er ist großzügig.
    - Er scheint mir wirklich verliebt zu sein.
    - Du wirst doch nicht eifersüchtig sein?
    - Vielleicht schon.
    - Du hast keinen Grund dazu. Denken wir lieber darüber nach, wie wir uns mit diesem armen Gage verhalten sollen.
    - Liegt dir sein Schicksal so am Herzen?
    - Ich weiß nicht. Er ist herzerweichend. Ein sehr reicher Mann, aber alleine und verloren und kommt immer zu mir, um Begleitung und Zuneigung zu erbetteln. Ich würde ihm gerne helfen, aber wie?
    - Du hilfst ihm schon so wie du bist. Es genügt, wenn du du selbst bist. Seine Seele gibt in der Gegenwart deines großen Herzens Lebenszeichen, sie lebt angesichts deiner unbegründeten Freude förmlich auf. Er erahnt, dass es ein anderes Reich gibt, wo man ohne viele unnütze Dinge auskommt, wo  es einem gut geht, auch ohne im exklusiven Hotel Margroz zu übernachten. Du bist unbeschwert und fröhlich. Deine Freude verbreitet sich um dich und Paul steht unter deinem Einfluss.
    - Vielleicht. Aber welchen Einfluss kann ich auf einen Mann haben, der derartig andere Werte als ich hat?
    - Der Weise agiert ohne Anstrengung, er lehrt mit seinem gelassenen Beispiel.
    - Ich bin eher arm als weise und die Armen waren noch nie ein Beispiel für irgendjemanden und schon gar nicht für Personen, die Geld haben.
     - Für die Veränderung der Welt bräuchte es das Beispiel weiser, glücklicher Frauen, weiser Frauen wie dir, die das Sein über das Haben stellen und es aufwerten, für die Freude wichtiger als Stolz ist, und die Glückseligkeit über Kriegsmedaillen steht.
    - Denkst du, dass die Welt sich ändern würde, wenn nur die Frauen anders wären?
    - Ja, sicher, wenn sie nur aufhören würden, das Geld und reiche Männer zu lieben. Leider sind auch die Frauen unnatürlich geworden.
    - Schluss mit diesen Reden, - sagte Christine. Mario schwieg und sie begann wilde Brombeeren zu sammeln.
    - Die frühere Stille ist zurückgekehrt, - sagte sie in einem Flüsterton.
    - Das ist ein Segen.
    - Weißt du, Mario, und dennoch sollten wir neben Gebet und Meditation vielleicht an die praktischeren Dinge des Lebens denken.
    - Worauf beziehst du dich?
    - Der Klimawandel beunruhigt mich. Es gibt keine Jahreszeiten mehr. Die Winter sind kalt und unerträglich und im Sommer weiß ich nicht, wie ich mich anziehen soll: Es ist kalt, es ist heiß, es gibt Stürme und Überschwemmungen.
     - Was können wir dagegen tun? Unser Beitrag zum Treibhauseffekt ist sehr gering, ja sogar nichtig. Wir haben kein Auto, wir verbrauchen nichts, wir verbrennen keine Kraftstoffe.
    - Wir könnten vielleicht zusammen in einem Haus aus Ziegelsteinen wohnen.
    - Meinst du das im Ernst?
    - Ja, das habe ich mir schon mehrmals gedacht. Weißt du, obwohl die Reichen mit ihren Geländewagen, usw. viel CO2 produzieren, sind sie dennoch geschützt, können gut unter diesen Bedingungen überleben, besitzen Häuser mit Klimaanlage und Heizung. Nur wir sind der Natur ausgesetzt.
    - Das stimmt.
    - Jetzt baut der neue Bürgermeister von Bulla Häuser für die Armen.
    - In welchem Teil von Bulla, meine geliebte Christine?
    - Erinnerst du dich an den Spaziergang, den wir unter dem Sternenhimmel am Strand von… wie hieß er doch gleich… gemacht haben?
    - Es war der Strand von Maregrosso.
    - Ja, genau, dort bauen sie die neuen Sozialwohnungen.
    - Das ist ein schöner Platz, aber er ist auch voller Müll. Man kann kaum zwischen den verschiedenen Abfällen laufen.
    - Wir könnten ihn entrümpeln und am Meeresstrand wohnen. Dort könntest du ganz alleine am Strand weiter als Eremit leben und mit den Fischen und Möwen sprechen, während ich zum Betteln in die Stadt ginge.
    - Das ist keine schlechte Aussicht, Christine.
    - Bist du davon überzeugt? Würdest du diese Einsiedelei verlassen?
    - Ich glaube schon.
    - Wir werden also mit dem Bürgermeister sprechen, um ihn um eine Wohnung zu bitten?
    - Christine, mit dir würde ich überall leben, auch in einem Haus aus Ziegelsteinen. Ich würde es auch schaffen, ein normales Leben zu führen. Ich würde meine Einsiedelei verlassen, so sehr wünsche ich mir, dich für immer zu besitzen.
    - Was sagst du denn da? Die Liebe kann nur frei sein wie das Lied eines verborgenen Vogels, den du nicht kennst und nicht siehst. Wenn du ihn aber packst und in einen Käfig steckst, kommt er um, weil er nicht für die Gefangenschaft geboren ist, sondern fliegen muss. Deshalb verliert die Musik der Liebe ihren wunderbaren Klang, wenn die Liebenden immer in ihren Gewohnheiten, in der Vergangenheit und in ihren Erwartungen gefangen, miteinander verbunden sind. Wir werden zusammen leben und gleichzeitig frei sein. 
    Mario nahm sie bei der Hand und zog sie sanft an sich. Christine schloss die Augen. Sie konzentrierte sich, fühlte sich und genoss ihre inneren Reaktionen, bevor sie sich für die Liebe öffnete. Er streichelte sie weiter, sie stieß hohe und leichte Töne aus, die an den Ruf eines mysteriösen Waldtieres erinnerten.


Paul bleibt alleine zurück

    Vielleicht beginnen sich die Seelen bereits in den ersten Lebensjahren zu suchen. Und einige von ihnen treffen sich schließlich nach langen Jahren der Wanderschaft und falscher Entdeckungen. Dabei erkennen sie sich gegenseitig sofort und werden nicht vom Begehren, sondern von einer felsenfesten, wenn auch nicht rationalen, inneren Gewissheit geleitet. Paul glaubte, dass sein Zusammentreffen mit Christine vorherbestimmt war und er fühlte sich mit ihr durch eine natürliche und unwiderstehliche Kraft verbunden. Und vielleicht gab es keinerlei Hindernisse für ihren zukünftigen, gemeinsamen Weg. Nichts würde sie je trennen.
    Inzwischen blieb der arme Paul allerdings mit seinen Gedanken an Christine und sein Begehren für sie in seinem geschlossenen Zimmer zurück. Er hatte sie vergeblich den ganzen Nachmittag beim Hotel, am Strand und an der Ampel gesucht. Er hatte Süßspeisen, Joghurt und eine Halskette für sie gekauft.
    Er schraubte den Deckel eines Joghurtglases ab und begann es zu verkosten. „Diesen Geschmack hätte sie genossen, - dachte er – aber für mich ist er bitter“. Sie fehlte ihm sehr, er hatte ein starkes Verlangen, sie an sich zu ziehen, zu küssen und zu streicheln. Der verliebte Paul plagte sich mit einem unvergleichlich starken Liebeskummer und gleichzeitig war ihm bewusst, wie schwierig die Situation war. Er war reich, aber auch viele Jahre älter als sie. Was ihn noch trauriger machte, war die Vermutung, dass seine wertvollen Besitztümer, mit denen er alles kaufen konnte, für sie keine große Bedeutung hatten. Christine schien ein leichtes Verhältnis zu Geld zu haben. Sie sammelte ihre Almosen wie ein Kind, das farbige Steinchen am Strand aufhebt, etwas damit spielt und sie dann vergisst, unbeschwert heimläuft, um am nächsten Tag zum Strand zurückzukehren und dort ohne irgendwelche Gedanken oder Erinnerungen, einfach in ihr Spiel und die Gegenwart versunken, weiterzusuchen.
    Paul dachte, dass Christine, weil sie jung und möglicherweise leichtsinnig war, nicht an die Zukunft dachte und nicht wusste, dass Geld schon Trost spenden kann, wenn man nicht mehr jung ist, und dich niemand um deiner selbst Willen, wegen deiner verblassten Schönheit, deiner verlorenen Kraft, sucht und liebt. Wenn man Geld besonnen um sich verteilte, konnte man das erreichen, was man in der Jugend als Geschenk erhielt. Paul kannte also seine Kraft, die auf Christine jedoch keine Wirkung hatte. Dennoch lächelte sie ihn immer an, zeigte Interesse und Zuneigung und ihm war bewusst, dass sie ungekünstelt, ehrlich und ohne jegliche Berechnung war.
   Er aß das Joghurt auf und erhob sich, vom Widerhall eines Donners abgelenkt, vom Tisch und blickte vom Balkon hinunter. Das Meer war dunkel und aufgewühlt, in ein unendliches Schwarz gehüllt und verschmolz am Horizont mit einem sternenlosen Himmel. Von Zeit zu Zeit wurde die Dunkelheit von wilden Blitzen durchzuckt, schwindelerregende Winde brachten eine Wasserflut, rissen Zweige von den Bäumen und trugen sie durch die Luft. Und auch in seinem Herzen stürmte es. „Ich bin alt und allein, - dachte er, - aber ich habe einen Haufen Geld und weiß nicht einmal, wem ich ihn hinterlassen soll, wenn ich sterbe… vielleicht der Gesellschaft zum Schutz von streunenden Katzen. Wenn ich die Form wählen müsste, in der ich wiedergeboren werde, - dachte er weiter, - würde ich am liebsten eine Katze werden oder ein Zigeuner, wie Christine, ja, ein Zigeuner unter Zigeunern. Sie haben nichts und nicht einmal Gedanken, streifen umher wie Vögelchen, erwischen hier und dort ein paar Almosen und wenn die Kälte kommt, trifft sie sie vollkommen, wenn der Schmerz auftaucht, werden sie davon eingenommen, aber wenn die Freude, die intensivste Freude kommt, dann sind sie dafür nicht unvorbereitet. Sie leben. Ich habe mich dagegen dreißig Jahre lang in ein Büro eingeschlossen, habe keine Sonnenuntergänge und Morgenröten gesehen. Im Frühjahr habe ich nicht dem Gesang der Vögel gelauscht und wurde auch von niemandem geliebt. Sicher hatte ich Sex, ich bezahlte für die Liebe, auch die, die echt schien. Ich war zu reich, um wirklich geliebt zu werden, und der Glanz meines Reichtums verhüllte all meine anderen Eigenschaften. Niemand hat mich gesehen, niemand hat in mein Herz geblickt und jetzt durchdringen mich die schwarzen Augen einer Zigeunerin, sie erforschen mich, erkennen und lieben mich. Nur liebt sie alle Menschen. Ich könnte irgendjemand sein und sie würde mich genauso lieben“.
    Paul trat auf den Balkon hinaus und blickte nach oben. Zwischen den stürmischen Wolken erschien ein Stern. Er beobachtete ihn aufmerksam und fühlte seine Einsamkeit noch stärker. Dann schloss er die Fensterflügel, versuchte sich selbst zu vergessen, obwohl ihm das nicht gelang. Tausend Gedanken drehten sich in seinem Kopf und er fühlte einen Schmerz, hatte den Eindruck von Enge, von unerträglicher Trennung von allem und jenem.

Paul gesteht Christine seine Liebe

    Nach einer schlaflosen Nacht kleidete sich Paul an und ging zum Frühstück hinunter. Dann verließ er das Hotel durch das Tor und suchte Christine  mit seinem Blick. Er fand sie bezaubernd lächelnd im Hier und Jetzt verankert.
    - Wo gehst du hin? – fragte sie ihn.
    - Ich weiß es nicht, - antwortete Paul.
    Die schwarzen Augen von Christine musterten ihn und Paul fühlte sich ertappt und durchschaut. Deshalb machte es Sinn, offen zu sprechen.
    - Ich habe ein Problem.
    Der Gesichtsausdruck von Christine wurde ernst und fragend.
    - Was für ein Problem?
    - Ich denke immer an dich.
    - Ja, und? – antwortete Christine flüsternd.
   - Ich denke immer an dich, - wiederholte Paul sichtbar erregt.
    - Komm nicht mehr zu mir, - sagte sie entschlossen.
    - Christine, du weißt, dass das nicht geht. Sei nicht so hart zu mir. Ich muss mit dir sprechen.
    - Schon gut. Aber nicht hier auf der Straße.
    - Wo und wann?
    - Am Nachmittag. Laufe am Strand entlang, bis du zu einer Barackensiedlung kommst. Dort findest du auch meine Hütte: Sie steht unter dem Feigenbaum. Komm gegen vier. Und jetzt geh, lass mich arbeiten, - sagte Christine leidenschaftslos, lächelte ihn dann aber süß an und Paul freute sich darüber.
    Er kehrte zum Margroz zurück, verbrachte den Vormittag damit, mit einem Kellner Billard zu spielen und aß dann in aller Eile ein warmes Mittagessen, ohne es besonders zu genießen. Gleichzeitig stellte er sich Christine vor und dachte an das, was er ihr sagen wollte. Er würde ihr jedes Gefühl, jede Hoffnung gestehen; er würde ihr sagen, dass er sich des Altersunterschiedes und der kulturellen Verschiedenheiten bewusst war, aber er würde auch versuchen, sie davon zu überzeugen, dass die Liebe keine Grenzen kennt. Er würde ihr klare und reizvolle Angebote machen: Er würde sie nach London bringen, ihr ein Bankkonto eröffnen, er würde ihr ein schönes Haus und tausend Wertgegenstände geben. Dann dachte er allerdings, dass es keinen Sinn machte, offen so viele Versprechen abzugeben. Christine konnte beleidigt reagieren, aus Stolz verweigern, um sich nicht gekauft zu fühlen. Deshalb würde er unaufdringlich sein, er würde ihr nur sagen, dass er sie sehr liebte und dass er für sie zu jeglicher Verrücktheit fähig wäre und sie würde ihn verstehen. Und dennoch betrachtete er nicht einmal diese zweite Herangehensweise als von sicherem Erfolg gekrönt.      Würde Christine das Unausgesprochene verstehen? Wäre es dagegen, nachdem er mit einer Zigeunerin verhandelte, nicht besser gewesen, die Versprechungen wegzulassen und sofort etwas Konkretes anzubieten? Wie würde sie reagieren? Die Erfahrung, die Paul mit Frauen gemacht hatte, brachte ihn zu der Überzeugung, dass einige und manchmal sogar die sehr edelmütig wirkenden, insbesondere wenn es sich um eine stattliche Summe handelte, der Macht des Geldes nie vollkommen gleichgültig gegenüber standen. Sicherlich hatte sich Christine in Bezug auf Geld immer als desinteressiert gezeigt. Allerdings glaubte Paul, dass es angesichts von wenigen Zehn-Euroscheinen keiner großen Anstrengung bedurfte, sich unbeteiligt zu geben. Bei großen Summen wankt dagegen so manches Ideal.
    Paul bestellte sich einen Kaffee. Er blickte durch die weitläufigen Glasfronten des Speisesaals, beobachtete den Flug einer einsamen Möwe und kehrte dann zu seinen Gedanken zurück. Sie waren ihm eine Last. Mit dem Wunsch sich von ihnen zu befreien und um also vom Konzept zur Tat überzugehen, sprang er plötzlich auf und lief vom Hotel direkt zur Bank.
    Dann machte er sich gegen drei Uhr nachmittags zur Bleibe von Christine auf.
    Nachdem er die asphaltierte Straße am Strand entlang gelaufen war, wagte sich Paul zu einer wilden Umgebung mit Dünen und Schilf vor. Seine Schuhe versanken im nach dem großen Unwetter der vergangenen Nacht noch feuchten Sand. Paul zertrat weiße Muscheln und von den Wellen an den Strand geschwemmte Algen. Bei einem Dickicht von Büschen hielt ein Kormoran seine Flügel ausgestreckt, als wollte er sie an der Sonne trocknen. Dabei achtete er nicht auf das Eichhörnchen, das zwischen Steinen und Gras nach Futter suchte.
    Paul erblickte schließlich den Lagerplatz der Nomaden, der zum Teil hinter einem Schilfdickicht versteckt war. Er bemerkte einen majestätischen Feigenbaum und, ganz in dessen Nähe, eine Holzhütte. Die Tür war angelehnt. Er klopfte, bekam aber keine Antwort. So trat er ein und war über das plötzliche Miauen einiger Katzen überrascht. Vor seinem Zutritt hatten sie sich beim Ofen zusammengekuschelt und flohen jetzt erschrocken. Neben einem kleinen Holzbett mit einer Bettdecke gab es klobige Regalböden, die mit verschiedenen, farbigen Gegenständen, wie Muscheln, Zweiglein, Steinen, trockenen Blumen und anderem mehr gefüllt waren. Inmitten des engen Raums stand dann ein rudimentärer Tisch, auf dem ganz offensichtlich eine Bibel lag. Daneben legte Paul gut sichtbar ein Bündel großer Scheine, die er aus den geräumigen Seitentaschen seines Mantels hervorzog. Neben dem Tisch stand ein Schemel, auf den er sich setzte und wartete.

    - Bist du schon angekommen?
    Paul drehte sich um, als er die Stimme von Christine hörte. Die Katzen kehrten mit ihr miauend in die Hütte zurück.
    - Ciao, sind das alles deine? – war alles, was er sagen konnte.
    - Nein, wir sind nur Freunde. Sie genießen gerne die Wärme des Ofens. Sieh her, ich stelle sie dir vor.
    Die Katzen umrangen Christine, die sie streichelte. Ihre gebräunten Hände mit den gut gepflegten Fingernägeln erschienen Paul jetzt wunderschön. Die langen und kräftigen Finger bewegten sich mit sinnlicher Geschicklichkeit über das Fell der Katzen, die das zu genießen schienen, einen Buckel andeuteten und den Schwanz aufstellten.
    - Dies ist Simon Petrus und das ist sein Bruder Andreas, und dies ist Jakobus, der Sohn des Zebedäus, der nicht hier ist. Und der da ist auch Jakobus, aber Sohn des Alphäus; und dann haben wir Johannes, meinen Liebling; komm her, Johannes, du bist so schön! Und das ist Philippus, und dann haben wir noch Bartholomäus, Thomas, Matthäus, Thaddäus, Simon und… komm Judas, du Verräter! Ja, das ist Judas.
    - Welch sonderbare Namen für Katzen! Und wie kannst du sie dir alle merken?
    - Das ist nicht schwer, - sagte Christine ruhig. Dann klatschte sie in die Hände und die Katzen sprangen auf den Tisch und kämpften dabei um den besten Platz neben der Bibel.
    - Sie sind wunderbar. Nur sie verstehen mich, - sagte Christine.
    Paul schaute sie verständnislos an.
    - Ich bereite dir ein heißes Getränk zu, - sagte sie. Sodann stellte sie einen kleinen Topf voll Wasser auf den Ofen, öffnete dessen Klappe und legte Holzstöckchen hinein. Danach setzte sie sich auf den Teppich und lud Paul ein, das gleiche zu tun.
    - Würdest du nicht gerne in einem Haus wohnen, Christine? – fragte Paul.
    - Ich weiß nicht... momentan ist das hier mein Haus. Aber Paul, hast du mir nicht etwas zu sagen?
    - Ja.
    Jetzt fehlten Paul die Worte. Er hatte ein starkes Gefühl, wusste aber nicht, wie er es ausdrücken sollte.
    Sie verharrten einige Augenblicke lang in Schweigen. Paul betrachtete die Konturen ihres Gesichts, dann sah er in ihre Augen. Sie erwiderte seinen Blick, worauf er seinen sofort absenkte. Christines Augen waren durchdringend und hatten eine magnetische Ausstrahlung, der Paul nicht standhielt.
    Das Wasser im Töpfchen begann zu kochen und Christine erhob sich, um Tee zuzubereiten. Dann stellte sie die rauchenden Tassen auf den Boden.
    - Wer bist du? – fragte Paul sie, - du bist nicht wirklich eine Zigeunerin.
    - Ich bin, das genügt.
    Paul bemerkte Christines bezauberndes Lächeln, fühlte die Ruhe, die sie ausstrahlte, fasste Mut und begann sich verständlich zu machen.
    - Christine, du bist eine außergewöhnliche Frau. Du bist nicht nur schön, sondern eine faszinierende Blume und nun… wenn du es wissen willst, ich bin verrückt nach dir.
    Vom Tisch hörte man ein Miauen.
    - Kann ich frei sprechen? - fragte Paul.
    - Ja, achte nicht auf Johannes. Sprich mit mir.
    - Christine, für dich bin ich zu allem bereit.
    - Zu allem? Was soll das bedeuten „zu allem”?
    - Ich würde dir alles geben, alles was ich habe.
     Ein weiteres Miauen wurde vom Tisch hörbar.  
    - Was haben meine Kätzchen denn heute? – seufzte Christine.
    - Johannes? - fragte Paul.
    - Nein, das ist Judas. Jetzt meldet er sich auch. Er scheint aufgeregt.
    Christine wendete die Augen dem Tisch zu und bemerkte, dass Judas die Geldscheine von Paul beschnupperte. Es ergab sich eine peinliche Stille. Christine sah in Pauls Augen und erhob sich vom Boden. Sie erreichte den Tisch, nahm das Geld in die Hand und wog es stillschweigend.
    - Ist das alles? – sagte sie mit einem Klang in der Stimme, den Paul nicht entziffern konnte, der ihn aber verwirrte. Er hätte geschworen, dass Christine beim Anblick des Geldes, dieser stattlichen Summe, Freude, wenn nicht sogar Dankbarkeit gezeigt hätte. Oder sie hätte so getan, als ob sie das Geld nicht bemerkte, um es dann heimlich anzunehmen. Stattdessen fixierte sie Pauls Augen weiter. Die Situation wurde für ihn anstrengend und qualvoll.
    - Warum kommst du nicht mit mir, - sagte er sanft zu ihr – bettle nicht mehr, mein Haus wird zu deinem Haus, alle Dinge, die ich besitze, gehören dir, mein Schmuck, meine Autos, meine Yacht, mein Garten mit überdachtem Pool und auch all mein Geld.
    - Ist das alles? – wiederholte Christine verächtlich, während sie das Geld wieder auf den Tisch legte. Ihre eiskalte Ruhe war beängstigend. Dann wendete sie ihm den Rücken zu und begann, die Gegenstände auf den Regalböden zu ordnen. Jetzt verhielt sie sich, als ob er nicht da wäre, berührte und bewunderte einige schimmernde Muscheln, zählte sie, wog sie ab und stellte sie fein säuberlich auf.
    Paul errötete, als ihm jetzt betrüblich bewusst wurde, dass seine Herangehensweise falsch war. Er dachte, dass sie in ihrem Innersten das Geld vielleicht nicht verachtete, wenn dies auch nicht die Art war, es ihr anzubieten. Deshalb war sie vielleicht nur ernst geworden, um Haltung zu bewahren.
    Christine drehte sich um und wiederholte mit tiefer und klarer Stimme:
    - Überdachter Pool, Schmuck, Geld. Ist das wirklich alles, was du mir bieten kannst? Ist das alles?
    Die letzten drei von Christine wiederholten und deutlich ausgesprochenen Worte, jenes „ist das alles“, brachten Paul extrem aus der Fassung.
    - Ja, ich werde dir alles geben, - sagte er, - ich liebe dich.
    Christine nahm ein Holzstück vom Boden, schlug es heftig gegen den Ofen, so dass es in mehrere Teile zerbrach, die sie aufsammelte und in das knisternde Feuer warf.
    - Wenn du Geld hast, verleih es nicht mit Zins, sondern gib es dem, von dem du es nicht zurückerhalten wirst! – schrie sie, - gib es dem, der dir keine Dankbarkeit zeigt, - sagte sie mit einer wütenden Stimme, die Paul schwer traf.
    Nach einem langen Augenblick emotiver Spannung und nicht erwidertem Begehren, fühlte sich Paul jetzt im Innersten getroffen. Wie den Besucher einer verlassenen Winterlandschaft, beschlich seinen Körper und Geist ein Gefühl von Leere und Kälte. Er begann zu schwitzen und zitterte am ganzen Körper. Es vergingen einige Sekunden, die ihm wie eine Ewigkeit erschienen. Er senkte seinen Blick zu Boden und sah dann um sich. Christine erschien kalt, distanziert und weit entfernt. Ihre Ferne wirkte intensiv auf ihn. Er fühlte sich, als ob er wie ein im Meer versinkender Stein darin unterging.
    Die Stille zwischen ihnen dauerte einige, sehr lange Sekunden an. Die Zeit nahm eine sonderbare, andersartige, irreale oder für ihn in neuer Weise reale, unverständliche Dimension an. Und in dieser Zeit begann ihn langsam schleichend eine unsagbare, neue  Empfindung zu überkommen. Es war ein vollkommen ungewöhnlicher Eindruck, eine merkwürdige, erleuchtende Eingabe. Er blieb regungslos geneigt auf dem Teppich. Er begriff sich nicht, erkannte sich nicht wieder. Plötzlich begann er zu lachen und war gleichzeitig überrascht über seine derartig jähe, innerliche Reaktion. Er lachte über sich selbst. Alles was er gewesen war, seine Person, die Vorstellung, die er von sich selbst gehabt hatte, alles, was er jahrelang in sich, seinem Geist und Herzen, bewahrt hatte, alles, was er bis in die Hütte Christines getragen hatte – jetzt schien ihm all das vollkommen lächerlich. Er war nie er selbst gewesen, hatte nicht frei gelebt, sondern folgte den Werten seiner Zeit und Umgebung. Diese Werte verloren nun urplötzlich Gradient und Kraft, sie fielen von ihm ab und lösten sich wie eine alte Haut. Er fühlte sich wie ein Todgeweihter, der in den letzten Augenblicken seines Lebens endlich dessen Bedeutung begreift und dem gleichzeitig bewusst wird, wieviel Zeit er damit verloren hatte, hinter Dingen herzulaufen, die ihm vorher sehr wertvoll erschienen und die ihm jetzt, im Angesicht des Todes,  hohl und leer vorkamen.
    Er traf erneut auf den Blick Christines. Nun zeigte ihr Gesicht keine Spur des vorherigen Wutausbruchs, sie war nicht mehr kalt und distanziert, sondern lächelte und erschien schöner denn je. Sie verharrte in ihrer Stille und trank Tee. Ein goldener Lichtstrahl fiel ihr mitten ins Gesicht. Der Raum in der Hütte, der ihm vorher eng erschienen war, wirkte jetzt immer weiter und Paul blickte um sich, als ob er aus einem tiefen und langen Schlaf erwacht wäre. Er fühlte sich leicht, befreit und glücklich, sie intensiv zu betrachten und dennoch nun von der Liebesqual oder von dem Gefühl, das er dafür gehalten hatte, erlöst zu sein. Die Liebe... wieviele Milliarden Wörter hatten versucht, sie zu beschreiben! Wie wenig wurde getan, um sie zu verstehen und zu realisieren! Die Liebe, die ihn in den Himmel heben oder in die Tiefen hinabsteigen lassen konnte, war für ihn eine Qual gewesen. Dagegen war jetzt eine sanfte und leichte Stille entstanden, in der Paul eine eindeutige und starke, neue Vitalität seines Wesens verspürte. So intensiv und gleichzeitig lieblich hatte er sie nie vorher empfunden.
    Christine zeigte sich weiterhin lächelnd. Ihre Glückseligkeit verbreitete sich rund um sie und traf Paul in seinem Innersten. Er betrachtete sie aufmerksam, und sah ihr Strahlen. Es überraschte ihn scheinbar nicht, dass ihr Kopf von einem weißen Lichtschein umgeben war. Diese Wahrnehmung hielt nur einen Augenblick an. Dann erschien ihm Christine wieder im normalen Mittagslicht.  
    - Geht es dir gut? – fragte sie ihn sanft.
    - Ja. Entschuldige, ich war verrückt zu glauben, deine Liebe kaufen zu können.
    - Sicher, du musstest wissen, dass ich dich immer geliebt habe, obwohl du reich bist, - flüsterte Christine ihm zu.
    Paul sah in ihre Augen. Jetzt konnte er ihrem Blick gut standhalten. Gemeinsam tranken sie schluckweise ihren Tee in einer intensiven Stille weiter, die nur mitunter von Johannes Miauen unterbrochen wurde. Judas hörte nicht auf, die auf dem Tisch hinterlassenen Geldscheine zu beschnüffeln.

Christine und Mario in Maregrosso

    Christine und Mario, die sich zur Gemeinde von Bulla begeben hatten, wurden vom Bürgermeister höchstpersönlich empfangen, der sich erwähnenswerterweise selbst für die Armen und Enterbten engagierte. So legten sie ihm also den Antrag für die Zuteilung eines der neuen Häuser vor, die in der Nähe des Strandes von Maregrosso gebaut wurden.
    Nach Erhalt der Unterkunft fing Mario, der etwas auf seine Unabhängigkeit fixiert war, sofort an, ein Quadrat Bodens zu umzäunen und zu behacken. Dann gab er sich Zeit zum Nachdenken. Er erstellte eine Liste mit allen Gegenständen, Möbeln und Annehmlichkeiten, die sich in der ihnen zugeteilten Bleibe befanden, und befreite sich schließlich, mit dem Rat und der Zustimmung Christines von all dem, was er für überflüssig hielt. „Je weniger Dinge man besitzt, an desto weniger Dinge denkt man“ war sein geistiges Motto, denn er wollte gern frei von unnötigen Gedanken sein. „Ehrlichkeit braucht keine Schnörkel, und die Einfachheit ist schon alleine ein großer Luxus, den sich nur wenige leisten können“, wiederholte er weiter, während er einen Fernseher auf den Strand warf.
    Der Strand von Maregrosso war einst ein Ort voller Müll gewesen: Man fand hier Batterien, Autowracks, alte Kühlschränke und Spülmaschinen, Bauschutt und verschiedene, unergründliche unter anderem auch organische Materialien und vieles mehr. Den neuen Gemeindeverwaltern war der derartig von Müll überquellende Strand so dreckig erschienen, dass sie ihn frei räumen ließen. Und dennoch begingen sie dabei vielleicht einen Fehler. Denn durch die Entfernung des Abfalls haben sie auch eine gewisse Poesie des Orts beseitigt. Mario, der sich dessen bewusst war, warf den Fernseher auf den Strand. Regen, Sonne und die Zeit würden ihn zerstören und für einen poetischen Blick nutzbarer machen. Inzwischen lag er dort allerdings unbeweglich in Meeresnähe. Mario schaute ihn sich an und sah die hellblauen Wellen des Meeres, die sich auf dem Bildschirm spiegelten: Das beste Fernsehprogramm, das ein menschliches Auge je gesehen und ein gesunder Geist je genossen hatte. Dann kehrte er nach Hause zurück.
    - Der Bürgermeister hat uns viele dieser Dosen geschenkt, - sagte Christine, - was enthalten sie?
    - Zeig her, - antwortete Mario, - es handelt sich um eine Flüssigkeit, die sie Orangeade nennen. Sie besteht aus Wasser, Zucker, Kohlensäure, chemischem Extrakt, Konservierungs- und Farbstoffen und zwei Prozent echtem Orangenfruchtfleisch.
    - Ich dachte, der Bürgermeister ist uns gut gesinnt. Er hat uns so anmutig empfangen und stattdessen will er uns umbringen? Ich werde dieses Gebräu nie trinken.
    - Du hast Recht. Und denke nur an all die Arbeit, um den Stahl zu fördern, ihn in Dosen zu verwandeln, um dann eine sonderbare Flüssigkeit dort einzuschließen.
   - So viel Arbeit und Energieverschwendung! Während man sich einfach eine Orange auspressen könnte. Warum stellt man diese Dinge her, Mario?
    - Die Industrie hat ihre eigene Logik. Ihr ist es wichtig, immer irgendwelche Gegenstände herzustellen, auch wenn das eine unnütze Verschwendung ist.
    - Und die Gage akzeptieren diese Philosophie? - erwiderte Christine.
    - Sie denken nicht einmal daran, sondern trinken synthetische Getränke. Sie kennen keine unverfälschten Dinge.
    - Denken sie nicht?
    - Sie denken schon und auch sehr gut, aber nur die Dinge, die nach ihren Paradigmen und dem Fernsehen, das ihnen ihre Gedanken beibringt, in ihren Kram passen. Und deshalb brauchen sie alles auf und brauchen die Welt auf. Nun ja, was machen wir jedenfalls mit diesen Klimaanlagen? - fragte Mario.
    - Nichts, entsorge sie. Wir brauchen sie nicht, weil wir nicht in einem Wolkenkratzer aus Glas in New York mit kalten Wintern und heißen Sommern wohnen, - antwortete Christine, - und ich leide nicht unter der Hitze – im Gegenteil – sie gefällt mir, ich vertrage sie gut. Übrigens haben wir jahrtausendelang ohne Klimaanlagen gelebt und jetzt… verbrauchen diese Dinger Energie und verursachen den Treibhauseffekt.
    - Das stimmt. Wenn alle Familien der Welt eine Klimaanlage hätten, würde die Temperatur unseres Planeten noch weiter ansteigen.    
    - Zum Glück können viele sie sich nicht leisten.
    - Das sind die Armen. Die Armen retten den Planeten.

     Man hörte an der Türe klopfen.
    - Wer wird das sein? fragte Mario.
    - Vielleicht ist es Paul.
    - Immer noch er? Er verfolgt dich. Wie hast du ihn verzaubert?
    - Überhaupt nicht.
    - Naja, überhaupt nicht ist unmöglich. Du hast ihn verhext.
    - Wenn ich das getan habe, dann habe ich es gar nicht bemerkt.
    - Genau. Du bist dir deiner Kräfte nicht bewusst. Du hast ihn mit deinem magnetischen Lächeln verhext und er folgt dir ständig auf Schritt und Tritt. Er hat London verlassen, ist nach Sizilien gekommen, um mit uns zu leben und läuft dir überall hinterher. Und er macht Notizen, aber was schreibt er? Übt er sich jetzt als Schriftsteller?
    - Ich weiß nicht. Er schreibt alles was ich sage in ein Notizbuch. Allerdings kann ich den armen Paul nicht wegschicken. Er ist alleine, wirklich alleine und dann hat er, wie du weisst, sein ganzes Vermögen unseren Brüdern, den Armen, gegeben. Er hat alles aufgegeben, um bei uns zu bleiben.
    - Bei dir, würde ich sagen.
    - Schon gut, bei mir, aber er stört mich nicht, er ist wie ein Sohn.
    - Ein fünfzigjähriger Sohn mit einer dreißigjährigen Mutter – ein schönes Verwandschaftsverhältnis!
    - Gewisse Männer brauchen selbst mit hundert Jahren noch eine Mutter.
    - Ganz bestimmt! Und du hast dich zur großen Mutter aller gemacht, einschließlich eines verrückten Gage.
    - Was ist schlecht daran?
    - Vielleicht nichts, solange er sich auf das Schreiben beschränkt.

  

ZWEITES KAPITEL

DAS NOTIZBUCH VON PAUL
                       
Die Herkunft

  Am Anfang war das Bewusstsein und das Bewusstsein war im Herzen der Mutter, und in allem war es der Mutter gleich.
    In ihr war das Bewusstsein, und dieses Bewusstsein war das Licht für die Menschen. Das Licht strahlte in der Dunkelheit und die Dunkelheit hatte es noch nicht überkommen.
    Dann verdunkelte sich das Firmament und die Menschen verhüllten die Sterne mit künstlichen Lichtern. Sie begannen, Kriege zu führen, zu kämpfen, zu plündern und zu betrügen. Ihre Augen verschlossen sich und sie hörten auf, sich, ihren Nächsten und die Natur wahrzunehmen. Das Bewusstsein starb.
    Als aber die Mutter all dies sah, hatte sie mit den Menschen Mitleid.
    Es trat eine auf, die die Mutter gesandt hatte: Sie hieß Sofia. Sie sollte Zeugin sein für das Licht.
    Und nach Sofia kam das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, der weise lebt und liebt.
    Das Licht begann in einer Frau von bescheidener Herkunft, in Christine, zu erstrahlen; und doch erkannte die Welt sie nicht.
 Und das Bewusstsein wurde Frau und lebte unter uns; und wir sahen ihre Herrlichkeit. Die Herrlichkeit Christines, einer Tochter der Mutter, voller Harmonie und Mitgefühl.
    Von Christine erhalten wir Gnade über Gnade, und das Licht des bewussten Handelns kam durch sie. Was die Mutter betrifft, so ist sie sichtbar, auch wenn viele blind sind.


Geburt von Sofia

    Zurzeit von Euro, dem König Europas, lebte ein Mann des Namens Kevala ganz alleine in einer Hütte am Ufer der Donau, nicht weit vom Zigeunerdorf Calaràz entfernt. Er hatte immer dort in der Natur gelebt, war inzwischen betagt und bedauerte, keine Nachkommen gezeugt zu haben. Während er nun, in eine gelassene Betrachtung versunken, am Flussufer entlang lief, geschah es, dass er über der Wasseroberfläche eine Wolke erblickte, die sich öffnete und einen Engel freigab. Als Kevala ihn erblickte, geriet er in Verwirrung und wurde von Furcht befallen. Aber der Engel beruhigte ihn:
    - Fürchte dich nicht, - sagte er. – Dein Wunsch ist erfüllt worden: Eine Nomadin wird dir eine Tochter geben, die du Sofia nennen wirst. Sie wird fröhlich und weise sein und mit dir und wie du leben, nie getötete Tiere essen und berauschende Getränke zu sich nehmen. Bereits in der Jugend wird sie voller Sattvischem Geist sein und während sie sich unter das Volk mischt, wird sie viele zur Mutter zurückführen.
    - Wie kann dies geschehen? - antwortete Kevala. - Ich bin alt und seit langer Zeit habe ich niemanden hier vorbeikommen sehen.
    - Ich wurde gesandt, dir diese gute Nachricht zu bringen, deren Wahrhaftigkeit du selbst erkennen wirst. – Erwiderte ihm der Engel.
    Dann enteilte er in der Wolke, aus der er erschienen war und Kevala verblieb am Flussufer, um über die gehörten Worte nachzudenken.
    In der Zwischenzeit hatte Cateluta, eine junge Nomadin, die von ihrer langen Reise ermüdet war, in der Hütte von Kevala Zuflucht gesucht und lag träumend da, während der Engel ihren Traum besuchte und zu ihr sagte:
    - Freue dich Cateluta, obdach- und sorgenlose Frau, die Mutter ist mit dir.
    Während sie schlief, erschrak Cateluta bei diesen Worten und begann bedeutungslose Dinge zu flüstern.
    - Fürchte dich nicht, Cateluta, - sagte ihr der Engel, - denn du hast Gnade bei der Mutter gefunden. Heute Nacht wirst du eine Tochter empfangen, du wirst sie nach neun Monaten gebären und sollst ihr den Namen Sofia geben. Sie wird groß und Zeugin des Lichts sein.
    - Wie soll das zugehen? - fragte Cateluta, aber der Engel verschwand.
    Als Kevala in die Hütte zurückkehrte, erblickte er dort die schlafende Nomadin. Weil er sie nicht wecken wollte, wachte er über ihren Schlaf und legte sich dann zu ihr.
    Nach neun Monaten wurde ein Mädchen geboren, das Cateluta, die sich an ihren Traum erinnerte, Sofia nennen wollte.
    Sofia wuchs prächtig und fröhlich heran und wurde kräftig. Dabei erhielt sie keinerlei formale Bildung. Sie hörte die Lehren ihrer Eltern, aber auch die von Wind, Fluss, Wolken, Bäumen, Rehkitzen und anderen Meistern, deren Erwähnung zu viel Raum einnehmen würde. Und nachdem sie so viele Dinge gelernt hatte, wurde sie schließlich weise und ihr Ruf verbreitete sich in alle vier Winde, so dass folglich viele zu ihr kamen. Sie erbaten ihre Ratschläge und verbrachten sehr gerne Zeit in ihrer Gegenwart. Dies hing auch mit den uns bekannten, verheerenden Ereignissen zusammen, die viele dazu bewegten, sich grundlegende Fragen zu stellen, die während der glanzvollen Zeit des Kapitalismus und des Finanzwesens vernachlässigt worden waren.
    Deshalb kamen viele zu den Flussufern. Einige von ihnen blieben wenige Tage oder Stunden, sahen Sofia und machten sich wieder auf den Weg. Andere blieben dort. Dies waren die ernsthafteren und hartnäckigeren Suchenden, die über sehr bedeutende Themen nachdachten. Sie fragten sich, ob sie, aufgrund des Besitztums vieler Güter, technologischen Spielzeugs, sowie aufgrund des westlichen Reichtums zur Blütezeit des Kapitalismus zu besseren Menschen geworden waren. Führte der Weg der Glückseligkeit über Orte von Technik, Konsum und Besitz?
    Sicher hat es die echten Erforscher der Wahrheit immer gegeben. Allerdings wuchs jetzt ihre Zahl. In ihrer Bemühung vor dem Chaos zu flüchten, das nun überall herrschte und von einer neuen inneren Unruhe ergriffen, eilten sie in ihrer Hoffnung zu Sofia, um von ihr eine Antwort zu erhalten und so Ruhe und Freude zu erfahren und zu erlangen. In der Einsamkeit der wilden Natur, in der Sofia lebte, wurden sich die Suchenden bewusst, welch große Illusion ihr Leben und ihre Tätigkeiten seit jeher angeleitet hatte – diese große Illusion, die sie für die Wahrheit gehalten hatten. Sie gingen zu Sofia und diese hörte ihnen schweigend zu und predigte in aller Stille, während sie im Schatten einer hundertjährigen Eiche saß. Schließlich wusste sie nur zu gut, dass jegliche Wahrheit, die in Worten ausgedrückt wurde, wahrgenommen und interpretiert, aber auch sehr oft von der besonderen physischen Konformation des Zuhörers verzerrt worden wäre.
    Sofia hatte jede Leidenschaft und jeden Wunsch nach den nichtigen Dingen der Welt überwunden. Sie hatte sich von der Bürde ihres Ichs befreit und war eine gute Frau.
    Die Wissensbegierigen gingen zu ihr und erhielten die Samen der Weisheit, die durch ihr Schweigen kundgetan wurden.

Christine trifft Sofia

    Seit ihrer Kindheit fragte sich Christine, ob es irgendetwas gäbe, das nicht der Änderung unterlag. Mit dieser ihr innewohnenden Frage kam sie zum Flussufer. Sie erblickte die in Beschaulichkeit versunkene Sofia. Nachdem sie nicht zu sprechen wagte und das Schweigen brechen wollte, das die Atmosphäre durchdrang, setzte sie sich neben die weise Frau.
    Ein leichter Wind, der vom Gesang der Vögel beschwingt wurde, rauschte zwischen den Blättern der Bäume. Christine betrachtete das vertiefte und glückliche Gesicht von Sofia, während Sofia die Einsamkeit eines Herzens wahrnahm, das die Wahrheit sucht. Dann begann Sofia zu sprechen:
    - Willkommen Christine. Dein Erscheinungsbild ist das einer kleinen Frau, du hast aber eine große Seele. Dein Licht, das du noch nicht kennst, stammt direkt vom leuchtendsten Stern des Himmels.
     - Hallo, - war alles, was Christine sagen konnte.
    - Was suchst du? – drängte Sofia.
    - Ich trage eine gewaltige Frage in meinem Herzen, die ich nicht in Worte fassen kann, die aber einer klaren Antwort bedarf. Ich hoffe, dass du sie mir geben kannst, Sofia.
    - Was du suchst, lebt bereits in dir. Es kann nicht mehr von Worten eingegrenzt werden, sondern bleibt hier und die naheliegende Antwort wird sich zeigen.


Die Initiation von Christine

    Sofia war einfach gekleidet. Sie trug keine modischen Designerstücke und dennoch erglänzte ihre Schönheit vor den Menschen. Sie fuhr nicht mit dem Auto zum Supermarkt, sondern nährte sich von den Früchten des Gemüsegartens, von Kräutern und wildem Honig.
    Dann kam der Augenblick, in dem diejenigen, die ihr folgten, darum baten, in die Geheimnisse eingeweiht zu werden und Sofia sagte ihnen:
    - Ihr seid hier und seid euch der Übel der Welt, der Begierde und Grauen von Euro bewusst. Ihr kennt den Klimawandel, die Wüstenbildung, die Kommerzialisierung der menschlichen Beziehungen und ihr seid willkommen. So führe ich euch also in das Geheimnis des Friedens ein und zeige euch die Weisheit, die von Erde und Himmel, von unserer Mutter stammt, die das Eine ist. Aber, die die nach mir kommt, steht über mir und wird euch den Sattvischen Geist geben.
    Dann ging Christine zu ihr, um die Initiation zu erhalten, aber Sofia sagte ihr:
    - Ich müsste die Initiation von dir erhalten und du kommst zu mir?
    Aber Christine antwortete ihr:
    - Erfülle deine Aufgabe, die vor dem Willen der Göttin gerecht ist.
    Da gab Sofia nach und führte sie in die Geheimnisse ein und gleichzeitig öffnete sich der Himmel und zahllose, fröhlich zwitschernde Spatzen flogen herbei. Und eine Stimme erklang aus Wald, Fluss, Erde und Himmel: „Dies ist meine Tochter, ihr gilt meine Liebe, wie ich euch alle, meine Brüder und Schwestern, meine Söhne und Töchter liebe”.

    Nachdem Christine sich lange bei Sofia aufgehalten hatte, kehrte sie in ihr Dorf zurück und lebte einige Jahre dort. Sie wurde von allen wegen ihrer sanften Art, ihres großzügigen Herzens und ihrer weisen Worte geliebt, während sie vor der Mutter und den Menschen an Wissen und Gnade gewann. Nachdem sie ihr Haus verlassen hatte, begann sie bettelnd durch die Welt zu wandern.


Christine trifft den reichen Mann

    Während Christine auf der Straße bettelte, hielt einer an, der einen großen Geländewagen fuhr und sie fragte:
   - Schöne Zigeunerin, ich sehe dich glücklich lächeln, auch wenn du arm bist. Sag mir also, hast du Drogen genommen? Oder was macht dich sonst fröhlich?
    Christine antwortete ihm:
   - Du nennst mich Zigeunerin, ich bin aber eine Romni, mit anderen Worten ein menschliches Wesen, und als solches habe ich meine Würde. Und was meine Armut betrifft, so sag mir du, reicher Mann, welcher Religion du folgst?
   - Ich bin Christ.
   - Und warum wirst du dann nicht arm und folgst dem Beispiel unseres Herrn?
   - Schöne Zig... ich wollte sagen, schöne Romni, sicher macht dich nicht deine Armut glücklich. Sag mir lieber, was wirklich hinter deinem Zustand steht.
    - Warum fragst du das? Suchst du auch nach dem Glück?
    - Sicher, wir suchen es alle und es ist schwer zu finden.
    - Man sucht das Glück und findet es manchmal auch, oder glaubt, es zu finden und möchte, dass es anhält. Allerdings ist der Frieden größer als das Glück. Suche vor allen Dingen nach dem Frieden.
    Der Reiche runzelte die Stirn. Christine sah, dass er sehr elegant war. Wie einer, der sich zu oft wäscht, hatte er einen künstlichen Duft an sich. Auf seinem Hemd war eine Marke sichtbar. Unter der Brusttasche der Jacke war ein Name aufgedruckt, wie er ebenfalls auf Hose, Schuhen und vielleicht auch auf seiner Unterwäsche erkennbar war.
    - Welcher dieser Namen ist deiner? - fragte Christine.
    - Keiner. Dies sind die Namen großer Modeschöpfer.
    - Warum trägst du ihren Namen am Leib? Hast du selbst keinen?
    - Sicher, aber es gefällt mir, Designer-Kleidung zu tragen.
    - Mein Glück kommt nicht von außen, - sagte Christine, - oder von den Dingen, die ich trage, sondern von innen.
    - Ja, vielleicht, aber was ist der Grund dafür? – warf der Reiche ein.
    - Du vermutest, dass es einen Grund für das Glück geben muss, das dagegen für sich alleine besteht.
    - Willst du sagen, dass du aus einem natürlichen Grund glücklich bist?
    - Beseitige die Ursache und entferne die Hindernisse.
    - Erkläre dich besser.
    - Wenn der Wind die Wolken wegbläst, die den blauen Himmel bedecken, erblickst du die Unendlichkeit, die aber schon immer da war.
     - Und welche Hindernisse musstest du wegnehmen, um glücklich zu sein?
     - Dein Herz liegt außerhalb von dir, in deinen Reichtümern, „denn dein Herz wird immer dort sein, wo du deinen Schatz hast“. Du bist reich, aber eines fehlt dir: Geh, befreie dich von allem, einschließlich deines grauenvollen Geländewagens. Oder besser noch: Verschrotte ihn, damit ihn niemand anders verwenden und die Erde damit verschmutzen kann. „Verkaufe alles, was du hast, und gebe das Geld den Armen und du erhältst einen Schatz im Himmel“.
    - Dies sind schöne Worte, aber die Welt funktioniert nicht so. Es wäre ein echter Wahnsinn, mein Vermögen den Armen zu geben und selbst arm zu werden. Die Armut ist keine schöne Sache, meine Liebe, und nicht einmal die Armen wüssten, was sie mit einem Schatz im Himmel anfangen sollten.
    - Du hast gesagt, dass du ein Christ bist. Nun gut, ich sage dir nochmals, folge deinem Meister, „sehe dir die Vögel des Himmels an! Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln keine Vorräte – aber euer Vater im Himmel sorgt für sie. Sieh, wie die Blumen auf den Feldern wachsen! Sie arbeiten nicht und machen sich keine Kleider, doch ich sage dir: Nicht einmal Salomo bei all seinem Reichtum war so prächtig gekleidet wie irgendeine von ihnen“.
    - Man muss nicht das ganze Evangelium wörtlich nehmen, meine Bettlerin. Die Zeiten haben sich geändert. Es stimmt schon, dass die Blumen auf den Feldern nicht arbeiten und an morgen denken, aber das kannst du nicht zu einem Armen sagen. Er braucht viele Dinge!
    - Du bist reich und denkst nicht an die Armen. Dein Reichtum beleidigt ihre Armut.
    - Ich habe zugepackt, meine Schöne, mein Geld kam nicht vom Himmel geflogen. Ich habe gearbeitet. Auch ich war arm, ich habe aus dem Nichts begonnen, und meine ganzen Besitztümer wurden mir nicht geschenkt.
    - Und bist du zufrieden?
    - Ich würde nicht gerne wieder arm werden.
    - Nachdem du jetzt so viele äußerliche Dinge besitzt, kannst du dich deiner Innerlichkeit bewusst werden. Befreie dich vom unnützen Gewicht deiner Reichtümer, und auch von dieser deiner Bewegungsprothese, deinem Geländewagen. Und befreie dich ebenso von der Zeit, deinen sich wiederholenden Gedanken, von jeglichem Wunsch nach unnötigen Dingen. Befreie dich vor allem von dem Wunsch, jemand sein zu wollen und für deine Besitztümer bewundert zu werden.
    - Wir können uns weder von der Zeit, noch von unseren Wünschen befreien. Das ist unmöglich, schöne Zig… schöne Frau. Vielleicht wünschst du dir kein Auto wie ich es habe, aber sicherlich hast du andere Bestrebungen, oder etwa nicht?
    - Man muss die Grundbedürfnisse befriedigen. Allerdings können wir ohne induzierte Wünsche leben. Beseitige sie und pflege dieses Bewusstsein. Es sind die Wünsche, die die Zeit erschaffen und wenn du sie beseitigst, findest du dich in der Fülle der Gegenwart wieder.
    Als der Reiche diese Worte hörte, verdunkelte sich sein Gesicht.
    - Du bist glücklich, weil du verrückt bist. Ich hatte es gut erfasst: Du bist eine verrückte und etwas philosophische Zigeunerin, - sagte er ärgerlich und startete seinen Geländewagen.
    Christine blieb alleine zurück und begann wieder zu betteln.
     Er, der von tausend Dingen, von tausend Wünschen besessen ist, er, der vielen Gütern hinterher hetzt und der wie ein Kind, das den Pferdchen des Karussells folgt, vielen Dingen nachläuft, wird nur schwerlich froh sein können, - dachte sie. Zweifellos „kommt eher ein Seil durch ein Nadelöhr als ein Reicher - mit seinem Geländewagen - in das Himmelreich”.




Segnung eines Baumes

    Nun geschah es, dass Christine und einige ihrer Bettlerfreunde an einem Spätnachmittag, als die Sonne ihre Reise beendete und in ein unendliches und ruhiges Meer eintauchte, müde und hungrig zu ihrem Lagerplatz zurückkehrten. Und sie erblickten einen Feigenbaum, der üppig am Straßenrand wuchs. Da näherten sie sich voller Hoffnung, sahen aber, dass er keine Früchte trug, was sie sehr bedauerten. So kam es also, dass ein Nomade, der seinen Hunger noch weniger als die anderen zügeln konnte, zu Christine sagte:
    - Meine Liebe, du siehst sehr gut, dass dieser Baum keine Früchte trägt, während wir hungrig sind. Fällen wir ihn also und machen wir ihn zu Brennholz.
    Christine runzelte die Stirn und antwortete folgendermaßen:
    - Du Narr! Weißt du denn nicht, dass dies nicht die Jahreszeit der Feigen ist? Und im Übrigen haben wir nicht das Recht, diesen Baum zu fällen. Wir sind weder die Herren der Welt, noch sind wir von dieser losgelöst und wenn wir die Natur zerstören, zerstören wir uns selbst. Die Bäume sind unsere Brüder, sie sind Söhne und Töchter unserer gleichen Mutter, die alles erschafft und für alles sorgt.
    Und an den Baum gewandt sagte sie dann:
    - Bruder Baum, du trägst noch keine Früchte, aber du spendest uns Schatten und Sauerstoff und bist schön anzusehen. Du bist Teil eines Ganzen, das wir anerkennen und ehren. Gesegnet seist du.
    Sofort danach bewegten sich die Blätter des Baumes und zeigten große und reife Feigen. Christine pflückte sie und bat sie ihren Freunden an. Und als sie dies sahen, staunten sie und sagten:
    - Warum hat der Feigenbaum so plötzlich Früchte getragen?
    Christine antwortete ihnen:
    - Wahrlich ich sage euch, wenn ihr an die Mutter glaubt, wenn ihr versteht, dass auch die Bäume, wie die Tiere, die Berge und alles was unter der Sonne lebt, ihre Kinder sind, dann wird sich die Mutter um  euch kümmern und wird euch nähren. Denn alles was ihr vertrauensvoll von der Mutter erbittet, wird sie euch zugestehen. Und wenn ihr euch wünscht, dass die Bäume und auch die Berge bleiben, wo sie sind, und nicht von Sägen und Raupen entweiht werden, dann werdet ihr erhört werden.

Christine und der traurige Mann mit den verschleierten Augen

    Während Christine vollkommen leichtblütig bettelte, erhielt sie ein Almosen von einem Mann, der traurig war, weil seine Augen von einem Schleier bedeckt waren. Er sagte zu ihr:
    - Du glückliche Zigeunerin, du lebst in deinen Tag hinein, ohne an die Vergangenheit zu denken und deine Zukunft zu kennen, während ich traurig bin und mich meine Traurigkeit umhüllt, wie die Erde im Winter von einem Mantel aus Schnee umhüllt wird. Und ich weiß nicht, wie ich mich davon befreien kann.
    - Wenn du Freude verspürst, möchtest du sie festhalten. Wenn du Traurigkeit fühlst, möchtest du sie von deinem Herzen wegjagen und dabei härmst und täuschst du dich oft unnötigerweise, mein Bruder. Verstehe dagegen die Ursache deiner Verstimmtheit und befreie dich davon. Und begreife, dass die neun Seelenzustände nicht dauerhaft sind, - antwortete Christine.
    - Was sind die neun Zustände von denen du sprichst?
    - Sie heißen Traurigkeit, Heiterkeit, Gier, Hass oder Gewalt, Angst, Überdruss, Befremden, Depression oder Verzicht sowie Erregtheit oder Forschheit. Diese Zustände sind wie die Jahreszeiten. Sie dauern solange es Sinn macht und vergehen dann und jeder Jahreszeit folgt eine weitere. Du fühlst diese Zustände, aber bist nicht das, was du fühlst. Werde dir bewusst, wer du bist.
    - Du drückst dich gut für eine Zigeunerin aus, - antwortete der traurige Mann, - aber ich wüsste wirklich nicht, wie ich mir bewusst werden soll, wer ich bin.
    - Beobachte einfach deine vorübergehenden, inneren Zustände und blicke dann in die Tiefe, in dich hinein. In dir wirst du einen Samen finden, der eine Frucht der Freude werden könnte.
    - Ich blicke oft in mich hinein, - antwortete der Mann, - und erblicke nichts als Gedanken und Schmerzen. Den Samen der Freude, von dem du sprichst, sehe ich jedoch nicht. Bist du sicher, dass du dich auf etwas Reales beziehst?
    - Erforsche den Grund deines Herzens, wo sich der kleinste Samen versteckt, der das ganze Universum umfasst. Wenn du ihn findest, berühren dich die oberflächlichen Dinge sowie die Traurigkeit nicht mehr.
    - Meine Traurigkeit ist nicht oberflächlich. Vielmehr ist sie ein tiefer Schmerz, - sagte der Mann.
    - Der echte Schmerz berührt den Menschen und beugt ihn, er vergießt bittere Tränen und wendet sich an die Mutter, die ihn tröstet. Allerdings kann der Ich-bezogenen Traurigkeit kein Trost gespendet werden, - sagte Christine.
    Der traurige Mann begriff nicht und schwieg. Christine hatte Mitleid mit ihm.
    - Wenn du den Samen nicht in dir siehst, - fuhr sie fort, - dann richte deine Aufmerksamkeit nach außen. Sehe dir zerstreuende Fernsehprogramme an, oder gehe ins Einkaufszentrum, betrete die Geschäfte und kaufe tausend Dinge und deine Traurigkeit wird vorübergehend gelindert sein.
    - Ich werde deinen Worten folgen, denn nun sprichst du eine verständliche Sprache, - sagte der traurige Mann und machte sich auf den Weg zum Einkaufszentrum.
    Ein Nomade fragte indessen Christine:
    - Du predigst Armut und dann schickst du den traurigen Mann zum Einkaufszentrum?
    - Auch wenn die Engel des Himmels kämen und die Wahrheit zeigten, so würden die Menschen sie nicht sehen, weil ihre Augen von einem Schleier bedeckt sind. Der technologische Mensch kann nur seinem Schicksal folgen, durch die Einkaufszentren ziehen, ausgeben und erwerben, erwerben und konsumieren. Wenn dann alles konsumiert und der Boden steril sein wird, so werden sich seine Augen öffnen und er wird sehen, - sagte Christine.
    - Was? - fragte der Nomade.
    - Er wird sehen, - antwortete Christine, - und dann gibt es nur noch Heulen und Zähneknirschen.


Christine und die Nomaden

    Christine durchlief die Straßen und die Kunde von ihr verbreitete sich. Viele Menschen, die traurig, von wiederkehrenden und unnützen Gedanken besessen waren, wendeten sich an sie und sie erfreute ihre Herzen und heilte sie mit einem Lächeln. Auch zahlreiche Nomaden begannen ihr zu folgen und mit ihr zu betteln.
    So geschah es, dass Christine während sie am Strand von Maregrosso entlang wandelte und viele Nomaden um sich herum erblickte, auf ein Autowrack stieg, zu sprechen begann und ihnen Folgendes lehrte:
    - Meine lieben Schwestern, meine lieben Brüder, „Die Wölfe haben ihren Bau und die Vögel ihr Nest; aber wir armen Obdachlosen haben kein Haus. Auch unsere Väter und unsere Mütter schweiften umher, wie Leto, unsere Urmutter. Selbst als Leto schwanger war, wurde sie, wohin sie auch ging, von den Gage weggejagt und fand keinen Ort, um ihre Kinder zu gebären und irrte herum, ohne jemals Ruhe zu finden. Schließlich wurde sie am Strand von Maregrosso, der immer von allen verlassen und zu einer Müllhalde gemacht worden war, von den Hunden und Wölfen aufgenommen. Um der Verfolgung der Gage zu entgehen, nahm Leto die Form einer Wölfin an und brachte ihre Kinder zur Welt. Wir sind ihre Nachkommen, wir sind arm, aber nicht erbärmlich, weil wir alles haben, was wir wirklich brauchen. Wir sind arm und dennoch sind wir keine Sklaven vieler unnötiger und schädlicher Dinge. Wir verlagern uns nicht auf unnütze äußere Gegenstände und wir haben uns frei von induzierten Wünschen verwirklicht – in uns selbst und in unserem Frieden. Unser Reichtum ist echt, wir sind Fürsten und Kaiser. „Wenn ihr die reichsten Menschen der Welt betrachtet, die voller Gier sind, so seht ihr nur Bettler, weil die Gier zum Bettler macht. Dagegen kann es geschehen, einen echten Bettler zu treffen und einen Kaiser zu sehen“.
    Wir sind reich und glücklich, weil uns auch viele gelehrte Worte, Worte der Politik fehlen, die nur als Instrument zur Ausnutzung des Menschen durch den Menschen dienen. Wir sind reich und glücklich, weil wir alles, was wir haben, nämlich unser Leben hier und jetzt, besitzen und in vollen Zügen genießen. Dieser flüchtige Augenblick an diesem Strand von Maregrosso ist unser ganzer Schatz, den wir nicht anhäufen können, weil alle echten und lebendigen Dinge weder angehäuft noch besessen werden können. Sie sind wie die Wogen des Windes.
    Ihr Obdachlosen seid das Salz der Welt. Verliert nicht euren Geschmack. Ihr Armen seid das Licht, aber die Welt zerstört sich selbst durch den Wahnsinn des Konsums. „Freut euch und jubelt, denn im Himmel erwartet euch reicher Lohn“ und das Himmelreich ist hier, in unserem Herzen.
    Wenn ihr mich liebt, so passt euch also nicht der Welt an. Wenn ihr meine Stimme hört, so hört auf, miteinander zu kämpfen, wie dies die Gage tun. Sie waren bereits vor dem technologischen Zeitalter unglücklich und sind es heute noch. Einst mordeten sie mit Keulen und jetzt töten sie mit intelligenten Bomben. Ihr meine Freunde lebet jedoch in Frieden und widmet euch in eurer Freizeit der Betrachtung und Freude.

Das zweite Treffen mit dem reichen Mann

    Während sie aber so sprach, näherte sich ihr ein armer Mann, der sie mit harten Worten anfuhr:
    - Verrückte Zigeunerin, ich kam einst zu dir und fragte dich, warum du glücklich bist. Du schlugst mir vor, arm zu werden, mein Vermögen und Geld loszuwerden, was ich dann auch tat. Dennoch bin ich jetzt nicht glücklich. Im Gegenteil, niemand achtet mich. Wenn sie mich vorher liebten und respektierten, so behandeln sie mich nun schlechter als einen räudigen Hund. Meine Frau hat mich verlassen, meine Kinder erkennen mich nicht an, meine Freunde haben mich fallen gelassen und schämen sich für mich. Jetzt bin ich wegen meiner Armut unglücklich. Ich habe alles verloren und stattdessen nichts gewonnen. Ich bin nichts und niemand und habe meine Identität verloren.
    Christine hörte ihm zu und hatte Mitleid mit ihm.
    - Alles, was du verloren hast – sagte sie ihm, - war wertlos. Die Leute liebten nicht dich, sondern dein Geld und deine Frau hatte nicht dich, sondern deine Wirtschaftslage geheiratet. Deine Kinder erkennen dich nicht an, weil sie nur die geläufigen Ideale kennen und deine Freunde waren falsch. Nun ziehst du ärmlich durch die Gegend und sie behandeln dich respektlos, weil im Reich von Euro nur  Geld und Macht Respekt einflößen. Wenn es Gerechtigkeit und Solidarität gäbe, hättest du kein Problem. Aber es gibt wenig Menschlichkeit und viele Menschen sind zu geldgierigen Hunden geworden, die nichts anderes sehen. Lass also zu, dass sich die Hunde untereinander zerfleischen. Suche den Umgang mit echten und ehrlichen Menschen und bleibe alleine, wenn du sie nicht findest. Es ist besser alleine, als von Falschheit umgeben zu sein.
    - Was mache ich alleine? Das Geld reicht mir nicht einmal zum Überleben.
    - Du könntest betteln oder dir irgendeine Arbeit suchen. Was hast du vorher gemacht?
    - Ich war Finanzfachmann und bewegte Kapitalgüter.
    - Das verstehe ich nicht. Was willst du damit sagen?
    - Ich saß vor einem Computer und drückte Tasten, kaufte Aktien und verkaufte sie mit Profit. Ich spekulierte und verdiente viel Geld.
    - Und woher kamen deine Gewinne? Hast du nichts produziert?
    - Nein, Finanzfachleute produzieren nichts.
    - Aber die Dinge, die du mit dem so gewonnenen  Geld kauftest, mussten doch von irgendjemandem produziert werden, oder?
    - Sicher.
    - Folglich hattest du Güter gekauft und angehäuft, die mit der Arbeit anderer produziert wurden?
    - Das ist die Welt des Finanzwesens.
    - Willst du also damit sagen, dass du ein Dieb warst?
    - Du bist eine Zigeunerin und hast keine Ahnung, wie diese Dinge laufen. Allerdings weiß ich, dass ich, als ich deinem Rat und Charisma folgte, oder sagen wir besser, als ich von dir hypnotisiert war, verrückt war, alles den Armen zu spenden.
    - Du hast ihnen zurückgegeben, was dir nicht gehörte.
    - Egal, ob ich es gespendet oder zurückgegeben habe. Tatsache ist, dass ich nicht glücklich bin und keine Existenzgrundlage habe.
    - Was kannst du, außer legal zu rauben? Kannst du etwas bauen? Kannst du malen, schreiben, Bäume beschneiden, Zucchini anbauen? Kannst du stricken oder beherrschst du ein Musikinstrument? Wenn du Akkordeon oder Geige spielen könntest, könntest du mit uns kommen und auf der Straße auftreten. Dabei verdient man sich sein tägliches Brot.
    - Ich kann nichts.
    - Du könntest trotzdem mit uns kommen.
    - Aber wäre ich glücklich? Die Gleichung aus Armut und Glück, die du predigst, scheint mir doch recht sinnlos. Die Armen sind nichts.
    - Die materielle Armut ist keine Tugend, wenn ihr der innere Reichtum, eine Bedeutung und ein Wert fehlen, die aus deinem Inneren kommen.
   - Ein imaginärer Wert.
    - Diese Wahrheit können nicht alle begreifen. Einige erahnen sie und leben glücklich mit wenigen Dingen. Dagegen suchen andere, die von den gängigen Werten hypnotisiert sind, das Glück des Egos. Sie durchlaufen einen Weg, der sie ihrer Meinung nach zum Guten führt. Aber wenn sie vieles erprobt und großen Reichtum und Ruhm angehäuft haben, werden sie alt und begreifen, wenn sie noch im Licht ihrer Seele verbleiben, dass jede Errungenschaft, jede Erfüllung des Ichs nichtig ist und dass alles endet. Dann werden sie die Augen öffnen und sich an unsere barmherzige Mutter wenden und sie wird ihnen Seelenruhe schenken.
    - Ich werde mich an deine Mutter wenden, wenn ich alt bin. Jetzt möchte ich meinen Reichtum zurückgewinnen und mich vergnügen. Lebe wohl, Zigeunerin! – sagte der Mann spöttisch.
    - Jeder braucht seine Zeit und die Göttin gewährt ihre Gnade im rechten Augenblick, - sagte Christine. Aber der Mann war bereits weggelaufen und hörte sie nicht mehr.

Christine wird vom Arzt untersucht

    Nein, nein, auf dieser Welt kann man nicht glücklich und unbeschwert sein. Neider glaubten, dass sich dahinter so etwas wie ein dunkles, von den Vorfahren geerbtes Leiden verbarg. Sie dachten, dass die Glückseligkeit von Christine eine Krankheit war, die geheilt werden musste. Die grausamen und blinden Gage hatten Christine von einem Psychiater untersuchen lassen, der ihre mutmaßliche Abnormität erkennen sollte. Dieser hatte ein Vorurteil gegen Nomaden und begriff von Anfang an nicht, warum Christine glücklich, gut gelaunt und zu allen, auch zu ihm, freundlich war, während er sie kaum höher als ein Tier einschätzte. Allerdings sind Tiere nicht glücklich. Sie leiden nicht nur wegen der Hiebe ihrer grausamen Besitzer, sie leiden auch wegen ihren eigenen Empfindungen, den Begierden und Leidenschaften ihres Lebens. Und so begriff der Arzt nicht, warum Christine nicht ebenso leiden musste. Dennoch hatte er auch Tiere mitunter als selig und gedankenlos in der Gegenwart verankert beobachtet.
    - Arme Zigeunerin, - sagte er zu ihr, - aus welchem Grund bist du so glückselig?
    Christine antwortete aber nicht und lächelte weiter. War sie vielleicht dumm? Der Psychiater glaubte, dass die Natur zuweilen sonderbar war und dass man sich keine Gedanken machen sollte. Er dachte, dass die Freude eine Störung der Seele war und sagte zu sich selbst: „Diese arme Zigeunerin muss etwas anomal sein, aber was richtet sie im Endeffekt an? Auch Esel sind so, dem gleichen Gesetz des Schicksals unterworfen. Einige hört man störrisch und traurig schreien, während andere dagegen schreien als würden sie singen und man sieht ihnen an, dass sie glücklich sind. Solche Esel! Jedoch sind Anfälle von Glück nie von langer Dauer. Früher oder später wird alles wieder normal. Christine soll in Ruhe gelassen werden, wenn sie glücklich ist. Die Natur muss ihrem Verlauf folgen können. Das gilt auch für eine junge Frau. Das Leben wird sie dann schon heilen”.
    Hier täuschte er sich jedoch, denn für Christine gab es keine Heilung.

Wo ist deine Mutter?

    Christine widmete sich eifrig dem Sammeln von Almosen und brachte die Frohe Botschaft. Mehr durch ihr Wesen als mit Worten erzählte sie eine neue Geschichte. Und ihr Wesen zeigte sich im Lächeln und in der Freude, im Frieden, den sie ausstrahlte. Allerdings erkannten sie nicht alle und einige sagten ihr also:
    - Du machst dich über die Leute lustig. Dein Lächeln ist nicht echt.
    Christine antwortete:
    - Mein Lächeln ist der Ausdruck meiner innigen Freude, die ich kenne und ich weiß, woher es kommt. Ihr dagegen erkennt mich nicht. Ihr seht mich nach euren Vorurteilen, aber ich kümmere mich nicht darum, weil ich nicht alleine bin. Ich bin mit der Mutter, die mich geschickt hat.
    - Wo ist deine Mutter? – fragten sie sie.
    - Ihr seht mich nicht, und gleichzeitig kennt und respektiert ihr auch die Mutter nicht, die mich stützt. Wenn ihr mich sehen würdet, würdet ihr die Mutter ebenfalls sehen.
    - Wir sehen dich ganz gut, elende Bettlerin. Die Mutter, von der du sprichst, sehen wir allerdings nicht, weil sie nicht existiert. Sie ist das Ergebnis deiner Einbildung.
    - Ihr seht nicht, weil ihr euch gegenüber dem Einen verschließt. Es gelingt euch nicht, den gleichen Blick für Gold und Steine zu haben. Eure Augen betrachten vielfältige Formen, während die Mutter, die ihr nicht kennt, das Eine ist, aus dem diese Formen entstehen und zu der sie zurückkehren. Und aufgrund eurer Unwissenheit erscheint das Eine in Mannigfaltigkeit. Ich offenbare euch die Mutter und ihr erkennt sie nicht, weil ihr weder den Frieden, noch die Weisheit und Freude kennt, die von ihr kommen.
    Christine sprach diese Worte, während sie am Eingang einer großen Bank von Euro bettelte. Niemand rief jedoch die Polizeikräfte, um sie zu verhaften, „weil ihre Stunde noch nicht gekommen war“. Einige sagten allerdings:
    - Wer ist diese Frau? Sie kleidet sich wie eine Zigeunerin, spricht aber mit der Sicherheit einer Prinzessin.
    Andere meinten:
    - Diese Frau ist zweifelsohne eine Prinzessin.
    Wieder andere sagten dagegen:
    - Sieht man Prinzessinnen im Fernsehen nicht in Königspalästen wohnen? Diese Arme wohnt dagegen auf der Straße.
    Und ein Reicher sprach daraufhin:
    - Lasst euch nicht von dieser Zigeunerin täuschen. Sie schaut nicht fern und kennt die Gesetze Euros nicht. Unter Zigeunern gab es noch nie und wird es nie eine Prinzessin geben.

Der Mann, der es bereut, gut zu sein

    Einer der Passanten, der ihr zuhörte, bat darum, mit ihr zu sprechen.
    - Ich sah deine Freude, - sagte er zu ihr,- und erkannte sie und weil auch ich sie in meinem Herzen wünschte, wurde ich gut und bemühte mich, die Gebote der Mutter zu erfüllen: Nicht mehr zu rauben, nicht mehr die Wälder zu zerstören oder die Flüsse zu verschmutzen, keine Waffen mehr herzustellen und Krieg zu führen, keine Gewalt mehr gegen die Schwachen einzusetzen. Ich habe auch aufgehört, ganze Tage beim Einkaufen zu verbringen. Allerdings ist das Ergebnis von alledem, dass alle mich mit Füßen treten. Seit ich kein Schänder des Werks der Mutter mehr bin, werde ich selbst geschändet und beleidigt. Du scheinst glücklich zu sein. Aber obwohl ich deinem Beispiel folge, bin ich es nicht. Und deshalb möchte ich wieder schlecht werden wie vorher, weil diese Welt nicht für die Guten und Gerechten, für die Schwachen, Bescheidenen und für die Armen, sondern für die Verdorbenen und Schlauen, für die Gewalttätigen und Verantwortungslosen, für die Leichtsinnigen und Stolzen gemacht ist. Die Schlechten sind überall erfolgreich, während die Guten verhöhnt werden.
    - Bekehre dich nicht zum Übel, mein Sohn, - antwortete Christine, - weil du wie die Mehrheit der Menschen gut geboren wurdest. Erkenne also deine innige Natur und folge den Wegen der Mutter.
    - Wenn die Mehrheit der Menschen gut geboren wurde, warum ist dann die Welt so schlecht?
    - So wie wenige Gramm einer giftigen Substanz die klaren Gewässer eines Sees verderben, so werden viele durch die Bosheit weniger verdorben.
    - Wie ist dies möglich?
    - Wegen des fehlenden Bewusstseins, das unsere leidende Menschheit auszeichnet. Die Menschen überlegen nicht und neigen mechanisch dazu, mit schlechten Taten auf schlechte Taten zu antworten. Dadurch schaffen sie ein furchtbares Karma oder kreieren, wenn man es anders ausdrücken will, einen Teufelskreis, der alle unglücklich macht. Antworte nicht mit einer Beleidigung auf eine Beleidigung, sondern begreife, dass derjenige, der dich verletzt, blind und unbewusst ist. Würdest du einen Blinden beschimpfen, wenn er dich mit Füßen tritt? Weiche du ihm aus, der du Augen zum Sehen hast, wenn er dich nicht sieht, weil er blind geboren wurde. Er ist blind und sieht nicht, wo er hingeht. Wenn du ihn jedoch mit Füßen treten würdest, wäre deine Schuld groß, weil du dich benimmst wie ein Blinder, obwohl du Augen zum Sehen hast. Lass den Unbewussten und Verantwortungslosen üble Taten tun, denn sie wissen nicht, was sie tun. Du, der du dagegen erkennst, Sohn der Muttergöttin zu sein, verzeihe und tue Gutes.
    So sprach Christine, aber das Gesicht des Mannes verdunkelte sich und er ging traurig weg, weil er viel Groll für diejenigen im Herzen trug, die ihn mit Füßen getreten und beleidigt hatten.

Die Weissagung von Christine

    Es kam der Tag, an dem Christine und ihre Jünger gemeinsam zu Tische saßen und das geschwisterliche Abendmahl teilten. Derjenige, der neben ihr saß, fragte sie:
    - Meine Meisterin, wer von uns wird im Reich unserer Mutter an deiner Rechten sitzen?
    Christine wurde traurig und antwortete folgendermaßen:
    - Du Narr, welcher Teufel hat dir diese Frage eingegeben? Habe ich euch nicht immer gesagt: Wer von euch groß sein will, soll allen anderen Sklavendienste leisten? In Wahrheit aber sage ich euch, dass der Wunsch über den eigenen Geschwistern zu stehen, durch eine innere Schwäche, durch ein Ich entsteht, das um zu bestehen, sich den anderen gegenüber als Erster und getrennt von ihnen fühlen muss. Die Liebe der Mutter ist jedoch selbstlos und wir alle sind eins in ihr. Deshalb hütet euch also vor denjenigen, die an erster Stelle stehen wollen. Ja, ich muss euch noch mehr sagen: Nach mir werden viele kommen und sagen, dass sie die echten und einzigen meiner Anhänger sind, die im Besitz der Wahrheiten sind, die ich euch enthüllt habe und dass sie sie bewahren und verteilen werden. Ihr aber tut gut daran, euch vor diesen zu hüten. Und einige von ihnen werden bei Konzilen zusammentreffen und ihre Wahrheiten abfassen. Einige werden große Tempel bauen und in prächtigen Heimstätten leben. Andere wiederum werden Abhandlungen und Katechismen schreiben und werden Versammlungsgruppen und Kirchen bilden und jede Gruppe wird behaupten, die Wahrheit nach meiner Lehre zu besitzen. Und sie werden über unzählige Dinge streiten und untereinander um die Macht über die einfachen Seelen kämpfen. Und so seid achtsam, meine geliebten Armen, und lasst euch nicht täuschen und glaubt vor allem nicht denen, die so leben, dass sie eure Armut beleidigen. Glaubt denen nicht, die sagen, dass sie die Wahrheit besitzen, weil niemand sie besitzt. Vielmehr ist es die Wahrheit, die den Menschen gebietet und deshalb leben diejenigen, denen die Wahrheit gebietet, in Frieden und Harmonie. Und wenn sie versuchen sollten, euch zu überzeugen, dann sagt ihnen, dass sich meine Anhänger untereinander nur durch eine Sache erkennen und nur „durch eine Sache sind sie erkennbar: Durch die Liebe, die sie sich gegenseitig geben”. Denn wenn ihr euch nicht gegenseitig liebt, dann können keine tausend Glaubenslehren und keine tausend Kirchenkräfte eure Seele je retten. Deshalb soll die Liebe eure einzige und belebende Wahrheit sein. Eine Wahrheit aufgrund der die Menschen Geschwister sind, eine Wahrheit aufgrund der es weder arm noch reich gibt und alle essen am gleichen Tisch, den unsere Mutter für alle deckt.

Christine im Gefängnis

    Als die Finanzfachleute sie dann schließlich vor dem Eingang der Tempel von Euro betteln sahen, riefen sie die Gendarmen, um sie verhaften zu lassen. Diese liefen unverzüglich herbei, prügelten sie und warfen sie in die dunkelste Zelle im Gefängnis, nachdem sie ihr Handschellen angelegt hatten. Dem Gefängniswärter wurde eingeschärft, sie sicher zu verwahren. Er beobachtete sie ständig, weil man murmelte, dass Nomaden beim Ausbrechen sehr kunstfertig waren.
    Um Mitternacht wachte Christine und sang ein sanftes Gebet zur Mutter. Da gab es plötzlich ein so gewaltiges Erdbeben, dass die Mauern des Gefängnisses schwankten und alle Türen aufsprangen. Alle Gefangenen flohen, nur Christine blieb, in den Gesang an die Mutter versunken, an ihrem Platz. Sodann fragte der Gefängniswärter, warum sie nicht mit allen anderen geflohen war. Sie beachtete ihn aber nicht, weil sie so glücklich im Gesang vertieft war. Und der Gefängniswärter fragte sie:
    - „Was muss ich tun, um gerettet zu werden?“
    - Glaube an die Mutter, liebe, respektiere und ehre sie, respektiere und liebe ihre Kinder, stehle nicht, verschmutze nicht die Umwelt, beute sie nicht aus und recycle. So wirst du mit deiner Familie gerettet werden.
    Dann kam ein Engel der Mutter und führte Christine hinaus und sagte ihr:
    - Geh und verkündige weiter die Frohe Botschaft vor dem Volk. Bestätige mit Worten, Haltungen und Taten, dass wir alle Geschwister und Kinder der gleichen Mutter sind.
    Christine begann wieder zu betteln, aber weil die Gendarmen von Euro sie immer noch suchten und einsperren wollten, entfloh sie an einen rauen, steinigen und einsamen Ort, der noch nicht von Bauspekulanten und Reiseveranstaltern erreicht worden war.

Christine versteckt sich in einer Grotte

    Im weltabgeschiedenen Tal verlief der große Fluss.
    Christine hielt an und betrachtete ihn schweigend. Der Fluss glitt unberührt und langsam dahin. Wer ihn betrachtete, konnte das Geheimnis der Existenz erkennen und fühlen. Christine verfolgte den Fluss gedanklich bis zu seiner Quelle hoch und reiste zu seiner Mündung, wo er sich wieder mit dem unendlichen Ozean vereinte. Danach konzentrierte sie sich auf ihr Gebet und sagte an die Mutter gewandt:
    - Ich fühle und sehe dich, meine Mutter, in meinem Leben, das deines ist, in jedem Geschöpf und in allen Dingen, in jedem Wesen, das du schaffst und nährst. Doch obwohl ich dich vollkommen wahrnehme, sehne ich mich weiter nach dir und obwohl ich dich kenne, versuche ich dich kennenzulernen; „wie die Wurzeln für die Blätter, die Luft für die Vögel, der Fluss für den Fisch, das Leben für den Lebenden, so bist du für mich”.
    Die Mutter hörte das Gebet Christines und antwortete:
    - Die Menschen wenden sich nach außen, wo sie sich verlieren, aber du, meine Tochter, ziehst deinen Blick in dich zurück, um mich zu sehen und hörst meine Stimme in dir.

    In der Nähe des Flusses befand sich eine Grotte, deren Eingang von hohem Schilf versteckt war.  Christine trat ein. Sie wurde von einer tiefen Dunkelheit umhüllt, dem Geheimnis im Herzen der Mutter, der Finsternis, die alle Farben der Welt umfasst. Christine hielt inne, um sich der Betrachtung und dem Gefühl hinzugeben. Sie lauschte der Stille und wurde eins mit ihr. In diesem Zustand unendlicher Einheit mit der Mutter, verbrachte Christine, die die Außenwelt vollkommen vergessen hatte, drei Tage und drei Nächte.
    Unsere wahrhaftige Natur ist die gleiche Natur der Mutter. Unsere wahrhaftige Natur ist lichtvoll; sie zeigte sich in Christine in Form eines phosphoreszierenden, weißen Lichts, das nun in der Grotte durch die Steinwände strahlte und sich nach außen widerspiegelte. Einige Wanderer sahen sie, waren erstaunt und dachten, dass der Boden selbst vom ewigen und sanften Licht erleuchtet wurde. Als sie nun das Geheimnis enthüllen wollten, traten sie in die Grotte ein. Und hier erblickten sie einen Engel der Mutter, der wie ein Stern glänzte. Und der Engel sprach die folgenden Worte:
    - Ihr seid hier auf der Suche nach dem Geheimnis, aber nicht allen ist es gegeben, es zu erkennen. Denn viele werden von der Mutter gerufen, aber nur wenige sind bereit, sie zu empfangen. Wenn ihr Christine, eure Schwester, sucht, so wisset, dass sie nicht hier ist, weil sie auferstanden ist. Lauft durch die Straßen der Welt und ihr werdet sie treffen. Ihr werdet ihr Gesicht im Antlitz jedes Bescheidenen, jedes Armen und Ausgestoßenen, im Angesicht all derjenigen sehen, die verachtet und verlassen sind.



DRITTES KAPITEL

DIE MACHTBEFUGNISSE ROMS


Der herrschende Finanzfachmann

    An einem grauen Januarmorgen des Jahres 2049 trat der Euro-Manager und Leiter der Finanzfachkräfte Pontius, der auch der Herrscher genannt wurde, in den römischen Sitz der Europäischen Bank ein. Er trug einen grauen Anzug, ein weißes Hemd, schwarze Schuhe und eine dunkelblaue Krawatte mit weißen Pünktchen.
    Mehr als alles andere auf der Welt liebte der Finanzfachmann den Duft druckfrischen Geldes, das noch einen langen Weg vor sich hatte: Das Geld musste in die Häuser kommen, ersehnt und von vielen oft tätschelnd berührt werden. Dann musste es abgegriffen und beschmiert werden. Pontius trug immer ein Bündel großer Banknoten bei sich und sniffte sie von Zeit zu Zeit. Ihr Duft, der seine etwas chronische und unerklärliche Beklommenheit linderte, belebte ihn förmlich.
    „Mein Euro, warum verfolgt mich diese Beklommenheit? Kein Arzt konnte mich davon befreien. Nachts kann ich nicht schlafen”, flüsterte er sich selbst zu, bevor er die Jacke aufknöpfte und die rechte Hand in die Innentasche einführte. Er ließ erneut sein schönes Bündelchen zu Tage treten, betastete es sorgfältig, führte es zur Nase und saugte dessen Wohlgeruch ein, so dass er wieder heiter wurde.
    Pontius setzte sich hinter einen großen Schreibtisch, auf dem diverse Mappen ordentlich aufgereiht lagen. Flüchtig betrachtete er sie und insbesondere ein Dokument zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Er begutachtete es voller Sorgfalt, runzelte die Stirn, drückte den Knopf und Plastika, seine ergebene und attraktive Sekretärin trat ein. Der Finanzfachmann beobachtete die elegante Bewegung ihres auf Pfennigabsätzen sanft wogenden Körpers. Sie war eine wirklich wohlgeformte, blonde, große und schlanke Frau, die wenn nötig zuckersüß, aber gleichzeitig entschlossen, pünktlich und dienlich bei der Arbeit war.
    - Hast du Nachrichten von der Gefangenen des Nomadenlagers? – fragte er sie mit fisteliger Stimme.
    - Ja, Herrscher, - antwortete Plastika, - das Oberste Gericht der europäischen Finanzmanger hat sie bereits verurteilt. Das Urteil muss jedoch gegengezeichnet werden. Sie ist hier.
    - Lass sie eintreten.
    Aus dem Raum daneben führten zwei Bedienstete eine mittelgroße, brünette und etwa dreißigjährige Frau herein. Sie trug einen knöchellangen Rock, einen Pullover mit Rundkragen und eine weite, graue Jacke. Sie verbeugte sich anmutig und sah Pontius in die Augen. Das Gesicht des Finanzfachmanns erschien angespannt, seine Stimme klang plump.
    - Wie heißt du? – fragte er sie.
    - Christine.
    - Bist du diejenige, die herumläuft und gegen die Reichen predigt und sie beleidigt?
    - Lieber Bruder, höre...
    Aber Plastika unterbrach sie.
    - Weißt du, wo du bist und mit wem du gerade sprichst?
    Christine sah Pontius weiter in die Augen und lächelte, aber Plastika ergriff sie an einem Arm und schüttelte sie.
    - Wie kannst du Zigeunerin dir erlauben, den Finanzfachmann zu duzen? Und warum siehst du ihm in die Augen? Möchtest du deine Verurteilung eigenhändig unterschreiben? Wende dich respektvoll mit dem Titel Herrscher an ihn und senke deinen Kopf, du Flittchen, - sagte Plastika. Dabei ließ sie die rechte Hand in der Luft kreisen, die dann kraftvoll auf dem Gesicht von Christine landete. Diese steckte schweigend ein, lächelte und hielt die andere Wange hin.
    - Wie heißt du? – wiederholte Pontius.
    - Christine Rom.
    - Wo bist du geboren?
    - Ich bin in Calaraz, einem Dorf am Ufer der Donau geboren. Dann bin ich nach Bulla übergesiedelt.
    - Dokumente über dich besagen, dass du am Strand lagernd lebst. Hast du also kein Haus?
    - Ich hatte eines, aber das habe ich den afrikanischen Immigranten gegeben.
    - Das erstaunt mich nicht. Schließlich bist du eine herumziehende Zigeunerin.
    Christine antwortete nicht.
    - So treibst du dich also herum, du Zigeunerin, und predigst gegen den Wohlstand und beleidigst die Reichen, indem du sagst, dass sie hohl sind, dass sie die Armen berauben.
    - Die Menschen, die mir zuhörten, haben mich missverstanden, Herrscher.
    - Nicht die Schuld anderen zuschieben. Deine Worte wurden aufgezeichnet und reichen für deine Verurteilung, Zigeunerin. Du hast uns beschimpft. Du kannst gerne die Armut wählen. Niemand zwingt dich dazu, reich zu werden. Allerdings musst du deine Zunge zügeln, du kleine Schlange. Schließlich bist du auch hübsch, warum musst du dich in die Nesseln setzen?
    - Nein, Herrscher, ich beleidige niemanden. Glauben sie mir, das ist gegen meine Natur.
    - Dann waren es deine Jünger oder Apostel, oder was auch immer sie sind.
    - Ich habe keine Apostel.
    - Wir wissen, dass du Anhänger hast.
    - Habe ich nicht, wenn man einmal von einem gewissen Paul absieht, der mir überallhin folgt. Er selbst war reich, steinreich. Er hat sich an mich gewendet, während ich bettelte und hat begonnen, von sich und seinen Problemen zu sprechen. Und ich habe ihm zugehört, einfach nur zugehört und habe in seinem Herzen kein Ressentiment gegen andere angestiftet.
    - Paul... ja, wir kennen ihn, er ist registriert, aber ich weiß nichts davon, dass er reich sein soll.
    - Er ist es nicht mehr. Er hat alles den Armen gespendet. Das Geld hat keine Bedeutung mehr für ihn. Er hat gut daran getan, arm zu werden und hat nie schlecht von den Reichen gesprochen. Er ist ein guter Mann.
    - Was für eine schöne Erfindung! Ein Reicher, der alles den Armen gibt und einer Zigeunerin folgt!
    - Das ist die Wahrheit, die ihr überprüfen könnt.
    - Kann schon sein, aber was hast du den Leuten dann gepredigt?
    - Ich sagte ihnen einfach, dass das Leben von Geburt über Wachstum, Alter und Tod eine einzige Bewegung ist. All diese Dinge ereignen sich zu ihrer Zeit und unterliegen diesem Gesetz und so werden auch die Reichen geboren und sterben. Ich habe auch gesagt, dass wir alle, ob reich oder arm, menschliche Wesen mit der gleichen Würde sind, dass wir alle Geschwister sind und dass uns unser Menschsein mehr miteinander verbindet, als uns die Reichtümer trennen.
    - Du hast also nur dummes Zeug gepredigt. Und der Kompost? Hast du nicht gesagt, dass das Geld der Reichen Kompost ist?                                          
    - Das war nur eine Metapher. Ich habe gesagt, dass eine Zeit kommen wird, in der die Menschen sich untereinander lieben werden. Und dann wird es weder Reiche noch Arme geben und man wird das Geld zusammen mit vielen toten Dingen verrotten lassen können, um einen schönen Kompost zu bilden.
    - Du bist durchtrieben. Hast du studiert?
    - Nein, man muss nicht zur Schule gehen, um die Wahrheit zu begreifen.
    - Die Wahrheit! Was weißt du denn schon davon? Was ist die Wahrheit?
    - Die Wahrheit ist, dass dein Herz beklommen ist. Du kontrollierst große Kapitalsummen, bist aber nicht zufrieden. Dir fehlt etwas.
    Der Finanzfachmann beobachtete das unbeschwerte Gesicht von Christine. Ihre Stimme traf ihn überwiegend als Klang, wie eine sanfte Vibration, die eine sonderbare Wirkung auf ihn hatte: Sie entspannte, ja verzauberte ihn fast. In der Zwischenzeit wurde Plastika unruhig und betrachtete Christine mit feindseligem Blick. Der Finanzfachmann bemerkte dies und bat sie, das Zimmer zu verlassen.
    - Das ist nett und was fehlt mir deiner Meinung nach? - fragte er also Christine.
    - Gold verwandelt sich in den Händen derer, die sich selbst nicht realisieren und kennen, zu Blei. Du kennst die Welt des Finanzwesens, hältst aber nicht inne, um das Herz der Welt, der Menschen, von dir selbst zu betrachten. Du kennst deine Einsamkeit ebenso wenig wie den Grund für deine Beklommenheit. Du gehst keine Beziehung mit menschlichen Wesen ein, die für dich nur Zahlen, Statistiken, eine Gelegenheit zum Geldverdienen sind. Du hast nicht einmal den Mut, einer armen Frau wie mir in die Augen zu sehen, und damit du deinen Blick nicht senken musst, verlangst du, dass ich es tue. Du kennst nur die Machtverhältnisse und kannst nicht lieben und liebst nicht einmal Plastika, die... dich ebenfalls nicht liebt und die dich verlassen würde, wenn du kein Geld hättest. Und du wähnst dich in Sicherheit und glaubst, dass sie dich liebt. Du bist blauäugig. Eine Gummipuppe würde dich mehr lieben. Aber jetzt brauchst du sie nicht mehr, um deine Beklommenheit zu lindern. Jetzt hört dein Schmerz auf, es geht dir gut, du bist entspannt, entspanne dich...
    Der Herrscher fragte sich, weshalb er dieser Minderbemittelten erlaubte, so mit ihm zu sprechen, warum er zuhörte und weshalb ihre harten Worte ihn nicht störten, sondern er jetzt sogar immer entspannter wurde und sich wohl fühlte.
    - Ich rate dir, Herrscher, - fuhr Christine fort, - einen langen Urlaub zu machen. Begebe dich in eine unbekannte Stadt, mische dich unter die Menge, miete dir ein kleines Zimmer am Stadtrand und gehe auf den Volksmärkten einkaufen. Lebe mit den armen Menschen. Bewege dich ohne deine vor Luxus strotzenden Autos, ohne deine anderen technologischen Prothesen.
    - Warum sollte ich all das tun? - fragte der Finanzfachmann belustigt.
    - Um dein Herz zu treffen. Du lebst in einer geschlossenen, wattierten Welt. Hier gibt es zu viele Bildschirme, Sichtblenden, so viele Lügen und Anmaßungen, so viel mentale Gewohnheiten, die dich vor dir selbst verstecken. Du hast alles, du kannst nichts mehr zu deinen Reichtümern hinzufügen und wenn noch etwas hinzukommen könnte, würde dies nichts ändern. Du hast alles, außer dir selbst.
    - Ich könnte mit zu dir kommen und am Strand lagern, - sagte der Finanzfachmann, der in ein klangvolles, aber gutmütiges Gelächter ausbrach.
    - Gestehe, - fuhr er fort – du bist keine Zigeunerin, du bist eine Philosophin oder eine Psychologin. Wie konntest du wissen, dass ich unter Angstzuständen leide, dass Plastika meine Geliebte ist?
    - Nichts ist offensichtlicher als das, lieber Pontius. Die Angst steht dir ins Gesicht geschrieben und Plastika ist offenbar die Art von Sekretärin, die mit ihrem Chef ins Bett geht.
    - Du hast recht, - sagte der Finanzfachmann, der sich keineswegs vom familiären Ton gestört fühlte, mit dem Christine ihn ansprach, - und so hast du also nichts gegen die Reichen?
    - Nein, warum? Diese Armen!
    - Hast du keinen Aufstand gegen sie geplant?
    - Absolut nicht.
    - Bist du bereit, dies vor dem Gericht der Finanzfachgemeinde zu bestätigen?
    - Sicherlich.
    - Schwöre es.
    - Ich schwöre nicht, weil das nicht nötig ist und ich die Wahrheit sage.
    - Stattdessen müsstest du wirklich schwören. Vielleicht ist dir nicht bewusst, dass ich die Macht habe, dich zu befreien oder wieder in die Zelle zurückzuschicken.
    - Du hättest keine Macht, wenn sie dir nicht für deinen Dienst gegeben worden wäre. Und wenn du aufhören würdest, Diener von Euro zu sein und ein Mann werden würdest, würde dir die Macht genommen werden.
    - Nun übertreibe mal nicht, kleine Zigeunerin. Denke lieber daran, dich zu retten. Du wirst auch angeklagt, nicht zu arbeiten. Was willst du zu deiner Entschuldigung vorbringen?
    - Was könnte ich da schon sagen?
    - Du ziehst bettelnd herum. Schämst du dich nicht?
    - Warum sollte ich? Buddha war ein Bettler und vielleicht auch der Heilige Franziskus. Meine Vorfahren zogen umher und führten nützliche Arbeiten aus. Sie reparierten Gegenstände, Töpfe, Schirme. Jetzt werfen die Gage die Utensilien schon weg, bevor sie kaputt sind. Wir haben keine andere Wahl als die Bettelei.
    - Wir haben dir doch eine Arbeit angeboten. Warum hast du sie abgelehnt?
    - Aus Gewissensgründen. Ich konnte sie nicht annehmen, sonst hätte ich die Achtung vor mir selbst verloren.
    - Was sagst du denn da? Unsere Manager hätten dich in einer Automobilfabrik untergebracht… eine ehrliche, saubere und respektable Anstellung. Was hat dein Gewissen damit zu tun?
    - Warum fragst du mich das, Herrscher? Genau du, eine gebildete Person. Ich kann keine langweilige, sich wiederholende, nicht kreative Arbeit ausführen, um unnötige Luxusgegenstände zu bauen. Außerdem gibt es zu viele Belastungsquellen, zu viele Autos. Die Autos verschmutzen die Umwelt, die auch bei ihrem Bau belastet wird. Dabei geht es um Kohlendioxid, nicht? Ich kann nicht zur Verschlimmerung des Treibhauseffekts beitragen.
    - Man weiß nicht mit Sicherheit, ob der Klimawandel auf die Abgase der Autos und Industriebetriebe oder auf andere nicht vom Menschen abhängende Faktoren zurückzuführen ist.
    - Man weiß es und auch wenn man es nicht wüsste, wenn auch nur ein Zweifel bestehen würde, müsste man dementsprechend handeln. Wenn du den begründeten Zweifel, aber nicht die Sicherheit hättest, dass sie dir beim Restaurant ein vergiftetes Essen geben, würdest du es essen?
    - Dann dürfte niemand arbeiten. Alle verschmutzen. Man belastet die Umwelt, um zu leben.
    - Nein, Herrscher, man verschmutzt, um zu leben, wie wir leben, um unsere Seelen in einer Flut von Verschwendung, Komfort und unnützen Gegenständen zu ertränken.
    - Also bist du auch Umweltschützerin, meine kleine Zigeunerin!
    - Ich liebe unsere Erde und würde nichts gegen sie unternehmen, ich würde nicht auf den Teller spucken, aus dem ich esse. Die Erde ist geduldig mit uns und unserem Irrsinn. Sie wird sich aber erheben. Das Klima wird noch unerträglicher werden.
    - Unsinn! Du denkst an den Planeten, aber vertrittst nicht dein eigenes Interesse. Die Anklage, nicht zu arbeiten, ist schwerwiegend. Du bist kerngesund und man muss arbeiten, um zu leben. Es ist einfach zu leicht, sich mit Almosen durchzubringen.
    - Die Erde ist großzügig und ich würde arbeiten. Auch das Sammeln der Früchte der Erde ist eine Aufgabe. Ich würde sie sammeln, ich würde arbeiten, aber...
    - Aber?
    - Ihr habt alles abgesperrt, habt die Armen um die gemeinsame Nutzung der Erde beraubt, habt sie zu Privatbesitz gemacht. Und wenn ich jetzt auf eure Felder gehen würde, die euch nur deshalb gehören, weil ihr sie abgesperrt habt, dann würdet ihr denken, dass ich eine Diebin bin.
    - Du hast eine originelle und verdrehte Art zu argumentieren.
    - Das glaube ich nicht. Bis vor wenigen Jahrhunderten gab es Gemeinschaftsböden und –wälder und freie Weiden. Damals brauchten wir kein Geld und mussten nicht in der Fabrik arbeiten.
    - Wir können nicht wieder herumziehende Sammler werden, auch weil es nicht genügend wilde Früchte für alle geben würde.
    - Jetzt nicht mehr. Wir zerstören gerade unseren Planeten.
    - Jetzt übertreibe mal nicht und auf jeden Fall interessieren mich diese apokalyptischen Reden nicht. Ich biete dir die Möglichkeit, dich zu retten. Nimm einen Job als Arbeiterin an und ich werde die Schuldspruchsurkunde nicht unterzeichnen. Was dann die anderen dir vorgeworfenen Anklagen angeht, werde ich dem Gericht der Finanzmanager sagen, dass du verrückt bist. Ich werde dich für einen kurzen Zeitraum in einer Heilanstalt unterbringen lassen. Mal sehen, ich werde dich in Fregene einsperren; das ist ein schöner Ort, ich mache dort oft Urlaub.
    Der Finanzfachmann schaltete den Computer an und schickte sich an, den Bericht zu schreiben, der dem Höchsten Gericht der Finanzfachleute zu senden war. Christine blieb schweigend stehen.
    - Nun, was beschließt du? Wirst du arbeiten? Wirst du zu einem normalen Menschen? Denk an die vielen Dinge, die dir fehlen und die du mit dem Geld deines Gehalts kaufen könntest.
    - Ich kann nicht gegen mein Gewissen gehen, arbeiten, um die Erde zu verschmutzen, gegen meine Mutter agieren. Nein.
    - Du bist stur. Kapierst du nicht, dass ich versuche, dir zu helfen? Aber wenn du nicht in der Fabrik arbeiten willst, dann gäbe es ein paar andere Möglichkeiten. Sie graben einen Tunnel durch die Berge. Ich kann dich als Handlangerin einsetzen lassen. Das ist eine Arbeit, die nicht verschmutzt. Ich hoffe also, dass du sie annimmst. Was sagst du dazu?
    - „Könnte ich ein Messer nehmen und es in den Busen meiner Mutter stechen? Wenn ich das tun würde, würde sie mich nicht mehr an ihrer Brust aufnehmen, wenn ich sterbe. Möchtest du, dass ich Steine umgrabe und aushöhle? Könnte ich vielleicht in ihrem Fleisch bis zu den Knochen graben? Dann könnte ich nicht mehr in ihren Körper zurückkehren, um zu neuem Leben geboren zu werden“.
    - Wenn dir dies als eine zu schwere Arbeit erscheint, werde ich einen Job als Holzfäller in den Wäldern für dich finden.
   - Möchtest du, dass ich die Bäume fälle, um Brennholz daraus zu machen und es zu verkaufen, um mich zu bereichern, wie das die Gage tun? Könnte ich denn die Haare meiner Mutter schneiden?
   - Du bist wirklich schwierig, meine Liebe. Es ist offensichtlich, dass du Entschuldigungen suchst, um nicht zu arbeiten. Ich biete dir jedoch eine letzte Möglichkeit, eine Tätigkeit in der Natur, die du nicht ablehnen kannst. Es gibt eine Stelle als Hüterin der Herden.
   - Handelt es sich um Schlachtvieh?
   - Sicher. Es sind Kühe, die im richtigen Augenblick zum Schlachthof kommen.
   - Ich kann mich nicht zum Mittäter bei der Ermordung von Tieren machen. Außerdem erzeugt der Viehbestand weltweit 18 Prozent der Treibhausgase, zu denen noch die für den Transport kommen und er nimmt sechsundzwanzig Prozent des fruchtbaren Bodens ein. Ein Drittel der Anbauflächen wird für die Produktion von Getreide für Tiere, anstatt für Menschen genützt. Die Rinder verschlingen ganze Ökosysteme. Tropenwälder werden abgefällt, um Raum für die Weiden zu schaffen. Wir essen Fleisch und Milliarden von Menschen leiden unter Hunger.
    - Willst du damit sagen, dass du auch diesen Job ablehnst?
    - Immer wenn du Fleisch isst, zerstörst du die Welt.
    - Unsinn! Du bist zu radikal, meine Liebe.
    - Ich bin mir meiner Handlungen bewusst.
    - Kurzum, akzeptierst du die Arbeit, ja oder nein?   
    - Ich akzeptiere nicht, die Tätigkeiten auszuführen, die du mir anbietest, - antwortete Christine mit Nachdruck.
    Angesichts der entschiedenen Weigerung Christines verdunkelte sich das Gesicht des Finanzfachmanns. Er fühlte einen Knoten im Hals, in seiner Brust breitete sich ein trauriges Gefühl aus, die alte Beklemmung war zurückgekehrt. Als er die Augen vom Computer anhob, um Christine anzusehen, sah er sie nicht. An ihrer Stelle erblickte er einen hellen, phosphoreszierenden, fast leuchtenden Nebel, der sich nach und nach ausbreitete, bis er den Raum füllte und sättigte. Pontius verlor den Boden unter den Füßen, seine Arme hingen hilflos an den Seiten des Stuhls hinunter. Dennoch erholte er sich nach wenigen Sekunden. Der Nebel war verschwunden und an dessen Stelle sah er eine arme, junge Frau, die ihn intensiv und liebevoll mit zwei leuchtenden Augen anblickte.
    - Warum siehst du mich so an? – fragte er sie und fühlte das Wohlbefinden in sich zurückkehren.
    - Du bist gerade erst ein Mädchen und verstehst die Regeln der Welt nicht. Deine verschrobenen Ideen über die Erde und deine Mutter interessieren mich nicht. Wir leben in einer Demokratie und jeder ist frei, seine bevorzugten Ideen zu haben, solange das Verhalten normal bleibt. Vielleicht interessiert mich nicht einmal dein Verhalten. Tue was du willst. Allerdings darfst du nicht predigen oder versuchen, die anderen davon zu überzeugen, sich nicht normgerecht zu verhalten.
    - Das habe ich nie getan und wenn ich es tun würde, wäre es nutzlos.
    - Du lügst. Es ist allbekannt, dass du die Leute aufforderst, nicht zu arbeiten.
    - Das habe ich nie getan.
    - Du lügst schamlos. Kennst du nicht zufälligerweise eine gewisse Judith? Und hast du nicht versucht, sie davon zu überzeugen, ihre Tätigkeit aufzugeben?
    - Ja, ich habe sie getroffen. Sie hielt mich an, während ich bettelte und fragte mich, was ich von der Arbeit hielt. Sie schien sehr ehrlich und war daran interessiert, meine Antwort zu erfahren.
    - Und was hast du ihr gesagt? Hast du nicht versucht, sie davon zu überzeugen, ihr Leben zu ändern, ihren Job aufzugeben?
    - Ich habe gesagt, dass jede Tätigkeit, die zu einem bestimmten Zweck erfüllt wird, als Arbeit betrachtet werden kann. Ich habe gesagt, dass viele Tätigkeiten unnütz, schädlich und langweilig sind, nicht zufrieden machen, nicht dazu beitragen, die menschlichen Leistungen umzusetzen und sie nur wegen des Geldes ausgeführt werden. Aber es wird die Zeit kommen, in der die Arbeit nicht wegen Geld, sondern um seiner selbst willen, dafür ausgeführt werden wird, was sie hier und jetzt bedeutet und wert ist. Es werden Bäume gepflanzt und Wüsten belebt werden. Für Arme werden umweltfreundliche Häuser gebaut werden. Kranke, afrikanische Kinder werden geheilt und Gemüse- und Blumengärten werden gepflegt werden. Es werden Kunstgegenstände geschaffen werden, man wird Musik spielen und die Waffen zerstören.
    - Und was hast du ihr dann also erzählt?
    - Nichts weiter. Ich hörte auf zu sprechen, als ich den spöttischen Blick von Judith wahrnahm. Er überraschte mich, ich bemerkte, dass sie mich nicht verstanden hatte, ich hätte mich besser erklären wollen, aber sie blickte um sich, machte ein Zeichen mit den Händen und eure Gendarmen ergriffen mich, schlossen mich in einen Kastenwagen ein und brachten mich nach Rom. Ich weiß nicht einmal warum.
    Pontius dachte daran, Christine wegzuschicken und sie wieder an die Gendarmen von Euro zu übergeben. Er hatte alles versucht, um sie zu retten, aber sie hatte sich nicht gebeugt. Dennoch machte es ihn in seinem Innersten traurig, sie nicht befreien zu können. Er beobachtete sie wieder stillschweigend und erblickte erneut einen glänzenden Lichtschein, der sie umgab. Wieder verlor er den Boden unter den Füßen, gab sich aber einen Ruck, tätschelte das auf der Herzseite in der Innentasche seiner Jacke aufbewahrte Euro-Bündel und wurde wieder er selbst.
    - Du bist eine verrückte Visionärin, - sagte er, - es gab noch nie und wird nie eine Zeit geben, in der der Mensch das tut, was ihm gefällt. Es gibt Aufgaben, Verbindlichkeiten, Planungen, es gibt das Bruttoinlandsprodukt, das ansteigen muss, das immer ansteigen muss! Und dir Zigeunerin steht es nicht zu, das Gegenteil zu behaupten. Wer bist du? Wie wagst du es, gegen die Moral, gegen die allgemeinen und wahren Paradigmen zu sprechen und zu handeln?
    Dies sagte er fast schreiend, fasste sich dann aber wieder und fragte mit gelassenerer Stimme:
    - Aber wer bist du wirklich? Woran glaubst du? Glaubst du an Gott?
    - Von welchem Gott sprichst du?
    - Gott.
    - Du kennst Gott nicht. Euro ist dein Gott.
    - Du Närrin, ich habe dich nur gefragt, ob du an Gott glaubst.
    - Ich glaube an die Göttin, unsere Mutter.
    - Dann bete zu deiner Mutter. Dass sie dich retten kommt.
    - Du selbst kannst mich retten. Lass mich frei. Ich habe nichts Schlechtes getan.
    - Du glaubst, dass ein Finanzfachmann von Euro eine befreien kann, die wie du spricht und handelt? Glaubst du, dass ich wie du enden soll?
    - So würdest du das Ende eines echten Mannes nehmen.
    - Hinweg mit dir, Zigeunerin! – schrie der Finanzfachmann.

Das Arbeitszimmer des Papstes

    Am Himmel Roms schlängelte sich in der Zwischenzeit ein roter Drache, der sieben Köpfe und zehn Hörner hatte. Von seinem Schwanz hingen tausend Fäden, die mit unzähligen großen Geldscheinen verbunden waren. Daneben schwebte eine blau- und rosafarbene Kugel, die der Drache mit kleinen Schlägen seines Schwanzes drehte. Und wann immer er sie berührte, ergoss sich ein Schwall von Banknoten.
     „Welch sonderbarer Traum”, dachte Justus bei seinem Erwachen. Er stand auf, trat an das Fenster, betrachtete den leeren Petersplatz unter einem heiteren Himmel. So stand er eine Weile und ließ sich vom leichten und lauen Schirokko streicheln. Dann schloss er die Fenster wieder und setzte sich an den Schreibtisch. Eine purpurfarbene Kappe umhüllte seinen edlen Kopf, verbarg das dichte Haar jedoch nicht vollständig. Seine Füße steckten in bequemen Lederpantoffeln und sein Körper war in einen Mantel gehüllt, der mit Silber- und Goldfäden bestickt war.
    Man hörte ein zurückhaltendes Klopfen an der Türe. Es war die getreue Marta, die ein Silbertablett mit dem Frühstück brachte. Dann erschien sein Sekretär Volpi.
    - Welche weiteren Papiere bringen sie mir, mein Sekretär? - fragte Justus.
    - Eure Heiligkeit, es gibt da noch die diffizile Frage des Lateranpalasts. Die Kurie rät eine Fortschreibung des Vertrags an. Vielleicht könnte man Änderungen anbringen.
    - Es schien mir, dass das Geschäft schon abgeschlossen war. Gibt es neue Hinderungsgründe?
    - Nein, Eure Heiligkeit, aber es besteht hier eine gewisse Ratlosigkeit und nicht nur die Kurie, sondern alle Kardinäle sind perplex. Der Lateranpalast war von jeher ein besonders wichtiger Teil der Kirchengüter.
    - Das Angebot von Euro scheint ziemlich vernünftig. Gibt es bessere?
    - Nein, niemand würde es wagen, ihm Konkurrenz zu machen.
    - Okay, das scheint mir ein gutes Geschäft. Die Zahl, die Euro anbietet, ist sicher höher als die, die wir bei einer Versteigerung erzielen könnten und wir können schon froh sein, wenn wir nicht unter Preis verkaufen müssen.
    - Sie haben Recht, Eure Heiligkeit. Das Angebot wäre akzeptabel, vor allem jetzt, im Augenblick unserer großen Finanzkrise und dennoch werden wir so immer ärmer. Das ist eine langsame, aber fortschreitende Zerrüttung.
    Der Sekretär sprach den letzten Satz langsam und mit einem schlecht verhüllten Gefühl von Traurigkeit aus, während Justus die Augenbrauen hochzog.
    - Volpi, ich hoffe, dass sie nicht trübsinnig werden. Außerdem sollte man dann nicht von Zerrüttung, sondern von Neugeburt sprechen.
    - Sicher, die Kirche wird ständig, jeden Tag, neu geboren. Inzwischen nimmt unser Einfluss jedoch weiter ab. Und jetzt sind wir gezwungen, die Armen durch den Verkauf unserer Immobilien zu unterstützen. Ist es aber eine gute Sache, sich von unseren Gütern zu befreien, auch den Lateranpalast abzutreten, ihn gerade an Euro, die heidnische Staatsgewalt abzutreten?
    - Wir haben keine andere Wahl als zu verkaufen. Übrigens haben weder sie, Volpi, noch die Kurie wirkungsvolle Alternativen.
    - Es gäbe da eine Alternative…
    - Welche wäre das?
    - Nun, sehen sie, Euro wäre mit einer Gruppe von Managern und Finanzfachleuten dazu bereit, sich mit erheblichen Beiträgen an einer Stützungsoperation zu beteiligen, die den Unternehmungen von Kirche und Kurie Atem verleihen würden und…
    - Es genügt. Ich verstehe. Mir reichen die Spenden des Volkes, der Gläubigen, die sicherlich uneigennützig sind. Jegliches Geldangebot von Finanziers, jeder Schutz von Reichen und Mächtigen würde uns verpflichten. Entscheiden wir uns dafür, arm, aber frei zu sein.
    - Die Freiheit steht über allem, das stimmt im Prinzip. Es ist jedoch auch wahr, dass wir die Welt so zur Kenntnis nehmen müssen, wie sie ist. Wir müssen realistisch sein und uns an die Zeiten anpassen. Wir können kein Führungsverhalten fördern, das sich eben auch für die Gläubigen als unpopulär erweist. Das wäre eine Verdrehung.
    - Sie haben recht, Volpi, sie haben recht mit ihrer Aussage, dass die Welt so ist, wie sie ist: Sie ist heidnisch geworden. Selbst unsere bescheidensten Brüder wünschen sich nur, den Idealen von Euro zu folgen. Für sie zählt nur Wohlstand, Leistungsfähigkeit, Gewinn und jetzt sind auch einige Geistliche zu Managern geworden. Sie würden sich gerne an die Zeiten anpassen, die Banken beherrschen.  Wir können uns dagegen nicht derartig erniedrigen, dass wir unsere seelsorgerischen Tätigkeiten mit Bilanzen vermischen und das Gesetz der Liebe mit dem des Profits verwechseln. Es tut nicht not, uns für Euro und seinen Bruder BIP zum Diener zu machen. Wir müssen dagegen unser Engagement für die Freiheit erfüllen, den Wunsch, dass die Menschheit frei ist, frei vom grassierenden Konsumdenken, das die wahre Sklaverei der Seele ist. Die Kirche darf nicht in Macht und Reichtum schwelgen und vom Papst darf nicht verlangt werden, ein guter Finanzfachmann zu sein. Wir müssen zu unserer ursprünglichen Armut zurückkehren. Ich ordne also an, dass nicht nur unsere Paläste verkauft werden. Vielmehr ordne ich an, dass auch all unser Gold, unsere Edelsteine zu Geld gemacht werden und der Erlös den armen Brüdern gegeben wird, die in Baracken leben. Auch unsere silbernen Bischofsstäbe sollen versteigert werden. Mit Freuden werden wir Holzstäbe, wie die der ersten Zeiten verwenden.
    Als Volpi diese letzten Worte des Papstes hörte, fühlte er sich schwach und schwieg sekundenlang. Dann gab er sich einen Ruck und antwortete mit Nachdruck:
    - Wenn wir unsere verbleibende Wirtschaftsmacht weggeben, werden wir den Armen nicht mehr helfen können und auch die Kraft der Predigten wird schwinden. Die Zeiten haben sich geändert, wir können keine Vergangenheit aufleben lassen, die es nicht mehr gibt. Heiliger Vater, wir treiben die Kirche in ihren wirtschaftlichen Ruin, in die absolute Armut!
    - Ja, und vielleicht ist die absolute Armut in einer Gesellschaft, die auf reinen Wachstums-, Produktivitäts- und Leistungskriterien organisiert ist, die einzig mögliche Bedingung. Der Heilige Franziskus und unsere Nothelfer sind unser Beispiel und ich hoffe, dass sie, Volpi, sich dagegen nicht zum Glauben des Profits bekehrt haben.
    Jeder der beiden fiel erschöpft auf seinen Stuhl. Volpi zog ein Taschentuch aus seinem Gewand, mit dem er sich den Schweiß abtrocknete, während Justus nachdenklich wirkte. Jetzt bereute er den nervösen und harten Ton seiner letzten Worte.
    Dann fuhr Justus, nachdem er seine übliche Ruhe zurückgewonnen hatte, in leutseligem Ton fort:
    - Es ist unnötig, weiter zu diskutieren. Wir sind uns beide sehr darüber bewusst, dass unsere Finanzen trotz Bemühungen und allen guten Willens in einer kritischen Lage sind, seit der acht Tausendstel-Betrag der Einkommensteuer abgeschafft wurde und seit die Regierung gefordert hat, dass auch wir Steuern auf unsere Immobilien bezahlen und unsere Schulen nicht mehr subventioniert werden. Es ist allerdings noch trauriger, dass sich unsere spirituelle Kraft verringert hat. Sehen wir uns um, Volpi: Wir selbst haben Jesus noch viele Male ans Kreuz geschlagen, indem wir den Kompromiss vor die Radikalität seiner Lehre gestellt haben. Unsere eigenen Leute, die sich der Materie, dem Geld und der Macht der Finanzfachleute verschrieben haben, haben ihn gekreuzigt. Ihre Macht quält mich. Jetzt kann man nichts tun und sagen, ohne sich vorher mit ihren Büros beraten zu haben. Sie haben eine ungeheuere Macht und niemand kontrolliert sie. Wem müssen sie Rechenschaft ablegen?
    - Euro.
    - Ja, Euro, nur Euro kann sie kontrollieren. Dies entspricht der Aussage, dass nur die Macht des Geldes die Macht des Geldes kontrollieren kann.
    Justus seufzte, schenkte den Kaffee in eine Tasse aus sehr feinem Porzellan ein und begann ihn zu trinken. Zwischen einem Schluck und dem nächsten roch er am aromatischen Getränk.
    - Marta macht einen wirklich guten Kaffee. Ich muss sie belohnen. Und jetzt bin ich etwas müde, lieber Volpi, ich würde gerne andere Dinge tun, als ständig Dokumente zu lesen und zu unterschreiben. Ich hoffe, dass es momentan nichts Weiteres gibt.
    - Eure Heiligkeit, ich verstehe sie. Allerdings gäbe es ein Dokument, über das die Finanzregierung gerne ihre Meinung erfahren würde. Hier ist es.
    - Meine Meinung zu einem Dokument von Euro?
    - Ja, schon. Euro braucht die Kirche, auch wenn das eine unbedeutende Sache ist.
    - Worum handelt es sich?
    - Euro wünscht, dass der neue Kult, der sich gerade in Rom ausbreitet, als ketzerisch erklärt wird.
    - Was ist das für eine Geschichte? Wen muss man in unserem multikulturellen Rom mit all seinen verschiedenen Völkern noch als Ketzer betrachten, wo sich esoterische Kulte ununterbrochen vervielfältigen?
    - Eure Heiligkeit, es handelt sich um eine besondere Sekte, die selbst Euro fürchtet.
    - Euro hat Befürchtungen? Sonderbar, - rief Justus aus, der inzwischen seine gute Laune wiedergefunden hatte, - und was predigt diese Sekte? Wem folgt sie?
    - Sie folgen Christine, einer Nomadin.
    - Einer Nomadin? Woher kommt sie?
    - Von einem Roma-Lager an einem entfernten Strand Siziliens.
    - Interessant, sprechen sie weiter.
    - Es ist ein Strand, der von den Behörden umzäunt wurde und einige Roma sind darin eingeschlossen… diejenigen, die nicht arbeiten wollen, die auf ihrer Bettelei beharren.
    - Unsere armen Roma-Brüder sind seit jeher verfolgt worden. Sagen sie mir aber noch etwas über Christine.
    - Ja, ihr primitives Nomadenleben wurde von den Anhängern Euros unmöglich gemacht. Sie haben sie verfolgt und dann eingesperrt.
    - Wo ist sie jetzt?
    - Genau hier in Rom, im Gefängnis und eine kleine Gruppe ihrer Jünger hat ein Lager am Stadtrand aufgeschlagen. Dort leben sie wie in einer Art Klostergemeinschaft zusammen, wo sie sonderbare Riten praktizieren.
    - Und was fürchtet Euro von ihnen?
    - Das sind Personen, die von den sozialen Normen abweichen… Personen, die Solidarität predigen und in Armut, ohne Auto, Fernseher, Computer, Geschirrspüler, Mikrowellenherd, Klimaanlage, kleine Digitalspielzeuge und sogar ohne Tablet und IPod leben.
    - Wie ist das möglich?
    - Diese Frage stellen wir uns alle und auch Euro wird sie sich gestellt haben: Wie kann es möglich sein, auf der Welt, genauer gesagt eben hier in Rom in seinem reichen Zentrum zu leben, ohne modernen Komfort zu wünschen.
    - Wer weiß, vielleicht ist es möglich. Vielleicht handelt es sich um arme, primitive und harmlose Heiden. Ich sehe allerdings immer noch nicht, was Euro von mir verlangt.
    - Ihr Beitrag ist sehr wichtig, eure Heiligkeit. Es handelt sich nämlich um eine heikle Frage. Auch wenn das Fernsehen keine Bilder von ihr zeigt, so ist Christine dennoch keine Unbekannte. Sie ist eine Frau, die gewisse Kräfte besitzt, so sagt man und viele sympathisieren mit ihr. Außerdem kann man sie nicht ohne anerkanntes und geteiltes Motiv verurteilen: Man müsste sehen, wie die Lehre Christines tatsächlich offensichtlich mit der Glaubenslehre der Kirche in Kontrast steht. Wenn dem so wäre, müsste man das auch sagen, vielleicht in der nächsten Enzyklika darauf hinweisen oder, was noch besser wäre, es im Fernsehen sagen.
    - Ah, das verlangt Euro? Und wozu würde das dienen?
    - Für Euro ist es wichtig, dass die Lehre Christines auch von der Kirche verurteilt wird.
    - Ich verstehe und dennoch habe ich den Eindruck, dass Christine nicht viel mit dieser Grundsatzfrage zu tun hat.
    - Was wollen sie damit sagen?
    - Es scheint mir naheliegend, dass Euro nur ein Zeichen für die setzen will, die eine Sicht der Realität schaffen wollen, die sich von der derzeitigen unterscheidet. Lieber Volpi, sie verstehen sehr gut, dass es eine Sache ist, arm zu sein und dennoch den Wohlstand zu wünschen und eine andere Sache, die Armut zum Lebensideal zu erheben und sich von den Konsumgütern emotional unabhängig zu zeigen. Und das scheinen mir die Anhänger Christines zu tun, oder?
    - Ja, sie sind utopisch.
     Justus ergriff das Dokument, das Christine betraf. In der Zwischenzeit hörte man ein leichtes Klopfen an der Türe und Marta erschien mit einem Kuvert in der Hand wieder. Sie gab es Justus und ging weg.
    - Ich kann die Lehre Christines nicht als ketzerisch erklären, - sagte Justus mit ruhiger Stimme. Dann wendete er seine Aufmerksamkeit dem Briefumschlag zu, den Marta ihm übergeben hatte. Er öffnete ihn, war aber überrascht, keinerlei Nachricht darin zu finden. Er fand nur eine Fotografie, die eine Frau mit olivfarbenem Teint darstellte, die vollkommen in leuchtend purpurfarbenen Satin gehüllt war. Sie hatte dunkle, sanfte und zugleich durchdringende Augen, deren Tiefe durch ihre dichten Augenbrauen noch unterstrichen wurde. Jenes Foto übte sofort eine starke Anziehungskraft auf Justus aus und er betrachtete es lange. „Sieht aus wie das Bild der Madonna”, entschlüpfte ihm der Gedanke. Justus bemerkte sodann, wie sich die Atmosphäre um ihn herum jetzt geändert hatte. Neue, unerwartete Gefühle hüllten ihn ein. Er fühlte sich wie gedankenfrei und gleichzeitig leicht und unbeschwert. Als er die Augen schloss, nahm er eine große Stille wahr, die sich im Arbeitszimmer verbreitete, in Mauern, Möbel und Gegenstände eindrang und viel Raum in seinem Geist fand. Der Sekretär wartete stillschweigend. Es vergingen wenige Sekunden, die zeitlos erschienen.
    Justus nahm ein Glöckchen in die Hand und ließ es erklingen. Marta erschien wieder.
    - Wer hat es dir gegeben? – fragte er, während er das Foto der brünetten Frau in der Luft schwenkte.
    - Paul.
    - Wer ist das? Was bedeutet das alles?
    - Er ist mein Bruder.
    - Dein Bruder? Du hast mir nie von ihm erzählt, - sagte Justus, während sein Gesichtsausdruck neugierig und sanft wurde, - du hast einen Bruder und er hat dich gebeten, mir dieses Foto zu geben? 
    - Ja, er liebt die Frau, die darauf abgebildet ist, die jetzt in sehr großer Gefahr ist. Sie braucht Hilfe. Nur der Papst kann sie retten.
    - Dein Bruder hätte das schreiben können. Kann er nicht schreiben?
    - Er kann schreiben, aber er ist ein sonderbarer Typ und hat seine gute Stellung in London aufgegeben, um mit den Nomaden zu leben. Allerdings spricht das Bild von Christine für sich selbst, - sagte Marta.
    - Ah, dann handelt es sich also um sie!
    Nun war die Fotografie von Christine gut auf dem Schreibtisch sichtbar. Justus sah sie aufmerksam an.
    - Es scheint, als ob diese Frau eine sonderbare Aufregung in den Köpfen der Menschen auslösen würde. Als ob die Finanzfachleute nicht ausreichen würden, nun kümmert sich auch der Bruder von Marta um sie. Es wäre interessant zu wissen, wer sie ist, was die Leute von ihr denken. Was weißt du, gute Marta?
    - Wenig. Das Wenige, was Paul mir gesagt hat.
    - Was hat er dir gesagt?
    - Was kann er sagen? Für ihn ist sie perfekt, edelmütig und wunderschön. Er denkt über sie nach und träumt.
    - Und sie erwidert seine Gefühle?
    - Eure Heiligkeit, Christine ist eine junge Nomadin. All dies ist eine Sache für Träumer. Glauben sie mir, ich denke, dass selbst Euro vor den Geistern seines Verstandes Angst hat. In Wirklichkeit ist Christine harmlos.
    - Sie vielleicht, aber ihre Anhänger…?
    - Anhänger? Das ist nur eine Gruppe junger Visionäre, Leute, die sich nicht in das wirkliche Leben einfügen können und die sich in eine Phantasiewelt aus Bäumen, Bergen, Sternenhimmeln, Vögelchen und Vergnügungen flüchten, zu denen man ohne Geldbeutel Zugang hat.
    - Marta, vielleicht könntest du die richtige Person sein, um Informationen einzuholen. Ja, informiere dich, sammle genaue und konkrete Nachrichten über diese Leute. Aber handle sehr diskret.

   
Paul erbittet eine Audienz beim Papst

    Paul hatte Marta das Foto von Christine geschickt und als er nun in Rom war, gelang es ihm nicht, den Vatikan zu betreten, um sie wiederzusehen und auch den Papst zu treffen. Er dachte, dass sie ihn wegen seines verwahrlosten Aussehens oder wegen seines Erscheinungsbildes eines Vagabunden nicht aufnehmen würden. Was ist ein Bild? – fragte er sich. – Ist es eine wirklich wesentliche und reale Sache oder eine Maske, die du dir schaffst oder die andere dir geben? Abends nimmst du sie ab und setzt sie wieder auf, wenn du morgens unterwegs bist. Einige vergessen sie allerdings, legen sich hin, ohne sie abzunehmen und erwachen am nächsten Morgen mit der Maske, die noch auf dem Gesicht sitzt. Sie waschen ihr Gesicht, waschen aber nur die Maske und durch das ständige Waschen, Glätten und erneute Betrachten im Spiegel, vergessen sie ihr wirkliches Gesicht und glauben schließlich, die Maske zu sein, die sie tragen. Aber Justus durfte nicht an diese Äußerlichkeiten glauben. Wenn er eine Maske hatte, so musste er sie sich abends abnehmen, bevor er schlafen ging und wenn er in den Spiegel blickte, musste er sein eigenes Gesicht sehen. In der Tat war er nicht ein Mann wie alle anderen, wie diejenigen, die glauben, nur aufgrund eines zeremoniellen Kleidungsstücks jemand zu sein. Lakaien mögen sich durch die bestickte Uniform renommieren können, in der ihr Körper dem Wagen des Herrn folgt, so wie sie sich eventuell durch die Kraft renommieren können, die sie führt. Justus jedoch hatte keinem Herrn außer dem Herrgott zu folgen. Und dieser erlaubte ihm nicht, stolz zu sein. Tatsächlich sagte er ihm, wenn er der Erste sein wollte, musste er den anderen dienen, ihnen sogar die Füße waschen. Und das hatte der gute Herrgott selbst getan, wie man in den Evangelien lesen kann.
    Während Paul so dachte, ereiferte er sich. Er hielt unter dem Säulengang des Petersplatzes an und blickte in Richtung von Justus Arbeitszimmer. Warum hatte die Schweizergarde ihn, den armen Sünder Paul, nicht wie einen Papst empfangen? In seinem Innersten glaubte er, dass Justus ihn willkommen geheißen hätte, wenn er nur von seiner Präsenz dort unter dem Säulengang gegenüber der Schweizergarde gewusst hätte.
    Er dachte, dass er für eine Audienz Marta hätte anrufen müssen, eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hätte hinterlassen müssen: Marta, ich bin in Rom, ich bin auf einem Kahn über das Mittelmeer gekommen, bevor ich den Tiber hochfuhr und jetzt bin ich hier und wo schlafe ich? Es ist Nacht, alle scheinen ein Bett gefunden zu haben. Die Katzen, die Hunde und die Füchse haben ihren Bau, aber ich habe heute Abend nicht einmal eine kleine Matratze. Ich bin hier unter dem Säulengang. Lass das große Tor öffnen.

    Am folgenden Morgen fanden ihn zwei Schweizergardisten unter dem Fenster des Papst-Arbeitszimmers.
    - Das muss ein Landstreicher sein.
    - Oder ein Subversiver.
Sie gaben ihm einen heftigen Stoß und Paul schreckte hoch.
    - Was machst du hier? – fragten sie ihn.
    - Ich würde gerne frühstücken.
    - Wer bist du?
    - Ein menschliches Wesen, - sagte Paul irritiert und schickte sich an, aufzustehen und wegzugehen. Aber die Gardisten hielten ihn zurück.
    - Wer bist du? – fragte einer der Wachmänner erneut.
    - Und wer bist du? Weisst du, wer du bist? – antwortete er.
    - Ich bin Hans, Schweizergardist im Dienst des Papstes.
    - Ich habe dich nicht nach deinem Namen oder deinem Beruf gefragt. Ich habe dich gefragt, wer du bist.
    - Dieser Mann stellt sich dumm. Da können wir nur die Legionäre von Euro rufen. Denen wird schon einfallen, wie sie an seinen Namen kommen, - sagte der zweite Gardist.
    - Ihr verschwendet Zeit. Gardisten, ich bin ein Freund von Justus, der euch noch heute ins Tessin zurückschicken wird.
    - Er ist ein Subversiver.
    - Aber nein! Siehst du nicht, dass das ein armer alter Dummkopf ist? Der gleiche Verrückte, der gestern darum gebeten hat, mit dem Papst zu sprechen.
    - Trotzdem ist es besser, die Legionäre von Euro zu benachrichtigen.   

    Kurz danach erschienen zwei muskulöse Legionäre, die Paul ergriffen, ihn in den Schwitzkasten nahmen und wegzerrten. Sie befuhren das Zentrum von Rom in einem gepanzerten Fahrzeug, dann drängten sie ihn durch den Eingang eines großen Gebäudes eines unsäglichen Handelszentrums, in dem sich Ströme von Gebrauchsgütern ergossen. Es erschien ihr Vorgesetzter, ein grau bekleideter Mann, der trockene und entschlossene Befehle erteilte.
    - Er gehört uns, lasst ihn nicht los, haltet ihn, aber stoßt ihn nicht, er wird sich selbst ziehen.
    Der verängstigte Paul, der sanft wie ein Schäflein war, wäre ihnen auch gefolgt, ohne von der nackten Gewalt gezwungen zu werden.
    Nach dem Durchlaufen unzähliger Säle durch eine dichte Menge, die zwischen den randvollen Ladentischen mit Gebrauchsgütern pilgerten, kamen sie zum Ausgangspunkt einer beeindruckenden Freitreppe, die zu den Manageretagen führte. Sie liefen nach oben und betraten einen leeren Raum ohne Fenster. Paul wurde schließlich aus dem Griff der Legionäre befreit. Er bat darum zu trinken und es wurde ihm eine Tasse mit einem säuerlichen Getränk gebracht. Die zwei Legionäre zeigten sich jetzt entspannt. Sie hatten ihre Arbeit gut verrichtet. Paul schlürfte das Getränk und begann sich zu beruhigen. Er beobachtete den Chef, einen eleganten Manager des Finanzwesens, der sich jetzt an ihn wendete.
    - Beruf? 
    - Menschliches Wesen.
    - Schon gut. Aber was tust du in deinem Leben?
    - Aus psychologischer, biologischer oder sozialer Sicht?
    - Versuch nicht, uns hinters Licht zu führen, denn wir wissen sehr gut, wer du bist.
    - Warum fragt ihr mich dann danach?
    - Du bist wegen Landstreicherei und Kontakten im Zusammenhang mit der Sekte Christines angeklagt. Hast du etwas zu deiner Verteidigung vorzubringen?
    - Ich bin unschuldig.
    - Das sagen alle. Ist dir nicht bewusst, dass diese Anklagen schwerwiegend, ja sogar sehr schwerwiegend sind? Es ist besser, wenn du mit der Justiz zusammenarbeitest.
    - Was habe ich mit der Justiz von Euro zu teilen?
    - Die Fragen stellen wir. Du und die Anhänger Christines habt dem Fortschritt und der Produktion den Krieg erklärt.
    -  Ich brauche eure Produktion nicht, ich brauche nicht viel.
    - Genau darum geht es. Was besitzt du?
    - Nichts.
    - Hast du keine Elektrohaushaltsgeräte?
    - Nein.
    - Wieviel Benzin verbrauchst du an einem Tag?
    - Ich gehe zu Fuß, um Wasser am Brunnen zu schöpfen.
    - Strom?
    - Keinen.
    - Heizung und Klimaanlage?
    - Habe ich nicht.
    - Die Jacuzzi?
    - Habe ich nicht.
    - Welchen Computer verwendest du?
    - Keinen.
    - Also bist du nicht einmal mit Internet verbunden?
    - Nein.
    - Weisst du, dass du dafür verurteilt werden kannst?
    - Es gibt viele Leute wie mich! Immerhin achtzig Prozent der Menschheit. Ihr könnt nicht alle Armen verurteilen.
    - Du bist kein wirklich Armer! Sicher bist du verrückt und musst eingesperrt werden.
    Der Finanzmanager beobachtete Paul aufmerksam. Er wechselte seine Fragen mit einem verzerrten Lächeln ab und seufzte während er auf seine Uhr, einen prachtvollen, mit Eigenleben getakteten Mechanismus blickte. Der Schimmer seiner Augen war von einer sonderbaren Macht, einem Bewusstsein erfüllt, die Paul nicht erfasste. Das Videotelefon klingelte. Die Stimme des Finanziers wurde sanft, verzogen und kindlich, während sich sein Blick auf das Innenleben des kleinen farbigen Bildschirms konzentrierte, wo eine mitteilsame Blondine erschien. Der Manager ließ sich von der verzerrten und metallenen Stimme, die Anweisungen erteilte, wiegen und liebkosen, ja wie in den Armen einer Amme einlullen. Dann ging das Licht des Telefons aus und seine Augen blieben im Nichts, fern der grauen, dort anwesenden Realität hängen.
    Paul betrachtete ihn seinerseits. Er stellte ihn sich außerhalb der Gemarkung vor, die durch seine kostspieligen Daseinsprothesen abgesteckt war. Er sah ihn ohne sein Mobiltelefon, ohne Designerkleidung, ohne sein großes Auto und die Dinge, an denen er hing, ohne die Rolle, die er spielte und ohne Kreditkarten. Und da erschien er ihm in einem anderen Licht. Vor seinen Augen offenbarte sich ein schwacher Mann, eine verwirrte Seele. Er dachte, dass er ihm vor seinem Zusammentreffen mit Christine ähnlich war und hatte Mitleid mit ihm.
    - Du bist verrückt. Wünschst du dir nicht ein besseres, ein anständiges und normales Leben? Möchtest du zu verstehen geben, dass du wunschlos glücklich bist? – begann der Manager ihn erneut zu fragen.
    - Ich flüchte nicht vor den Wünschen, sondern vor ihrer Mittelmäßigkeit, - antwortete Paul.
    - Und was wünschst du dir?
    - Es geht darum zu verstehen, was man wirklich möchte, nach Höherem zu streben und sich nicht in den Gängen eures Emporiums zu verlieren.
    - Wenn sich alle wie du verhalten würden, würden Wirtschaft und Beschäftigung sowie BIP zusammenbrechen.
    - Wenige denken so wie ich und warum macht ihr euch also Sorgen? Es gibt viele Leute, die allzeit bereit sind, eure Produkte zu erwerben, auch wenn sie sie nicht benötigen.
    - Aber wer bist du, was bist du ohne einen Geländewagen, ohne Elektronik, ohne Kreditkarte, ohne alles?
    - Ich bin. Die Realität besteht nicht im Haben, sondern im Sein.
    - Schöne Worte. Sind das die sonderbaren Ideen der Anhänger Christines?
    - Nicht dass ich wüsste, - antwortete Paul.
    - Du weisst es sehr gut. Indes seid ihr am Ende. Christine wurde verhaftet, sie kann nicht mehr herumlaufen und Armut predigen. Sie wird verurteilt werden und auch du wirst wie sie, wie all ihre Anhänger enden. Wohin wolltest du?
    - Ich weiß nicht, ich folge meinem Instinkt. Ich suche Christine und hoffe, dass sie befreit wird.
    - Was erwartest du dir von ihr? Was kann sie dir schon geben?
    - Die wahre Realität wird nicht durch Konsumgüter aufgezeigt.
    - Kennst du vielleicht die Realität? Du bist nur ein armer Landstreicher. Vergiss Christine und kehre zu deiner Arbeit zurück.
    Der Manager blickte Paul verächtlich an und ging mit den Schutzmännern im Gefolge weg.

    Paul blieb alleine in jenem engen Zimmer eingeschlossen zurück. Er verlor nicht den Mut und dachte, dass er nicht wirklich alleine sei. Anderswo gab es Männer wie ihn, die in ihrer Armut allerdings leidenschaftslose Beobachter der Welt waren. Sie waren wenige und mussten schweigen, denn bisher wurde zu viel gesprochen, während die Dinge immer unverändert oder schlechter geworden waren. Eine fürchterliche Bereitschaft oder Notwendigkeit verwandelte die Erde gerade zu einem Lager giftiger Industrieabfälle und die Meere zu schwarzen Erdöltümpeln. Die Thunfische des Mittelmeeres waren bleischwer und der Kabeljau der Nordsee war radioaktiv geworden. Der Schnee fiel im August, die Flüsse traten über die Ufer, die Eisflächen schmolzen und die Städte versanken im Meer. Allein die Anhänger von Euro erlebten eine Blütezeit. Sie hatten sich in alle Institutionen, öffentlichen Büros, in die Regierungen und Gemeinden eingeschlichen und agierten ungestört an der Verbreitung ihres Glaubens. Gleichzeitig flüchteten sich die Weisen in die Wüsten und Randgebiete, während zahlreiche nicht zu Euro gehörende Einwanderer sich vor den Toren des Reichs drängten, die Grenzen überschritten, in Konzentrationslagern eingeschlossen oder zur Sklaverei gezwungen wurden. Die Vertreter Euros liebten ihren Nächsten nicht, raubten die Armen aus und fürchteten sie gleichzeitig. Und Christine war der zu bekämpfende Feind. Ihre einfache Präsenz an irgendeinem Ort konnte revolutionär und umstürzlerisch sein. Sie verbreitete eine unsagbare Freude um sich herum. Und ihr Glück war ansteckend, so dass jeder mit aufrichtigem Herzen einfach davon beeindruckt sein musste. So erklärte sich nicht nur die Anziehungskraft, die sie auf ihre Gefolgsleute ausübte, sondern auch der wilde Hass der Anhänger Euros, deren Interessen sich angesichts dieser Verzücktheit nicht mehr halten konnten. Die Vertreter Euros wussten sehr gut, dass ihre Macht auf dem Versprechen eines vergänglichen Glücks, auf der Werbung, gründete. Christines verzücktes Verharren in der Gegenwart versetzte sie in Unruhe. Ihr sonderbares Glück, dieses unmittelbare, in der Gegenwart verankerte Glück, das auf nichts, auf keinem mondänen Bild, keinem Besitz und keiner Macht basierte, würde ihren Institutions- und Polizeiapparat ebenfalls wie eine Sandburg zusammengebrechen lassen. Dies war absolut nicht annehmbar, wenn es nicht absurd gewesen wäre. Die Anhänger Euros hatten Angst vor dem sanften Lächeln einer armen und glücklichen Frau. War dies nicht widersinnig? Eine unerklärliche Sache? Die Macht von Euro wankte vor dem zufriedenen Lächeln der Armut.
   Christine sprach nicht, erschien nicht im Fernsehen. Und wäre sie dort aufgetreten, so wäre ihre Kraft geringer oder gar nichtig gewesen. Sie hätte sich in den Sog der Welt der Massenmedien eingefügt, wo eine scheinbare Freiheit von Wort, Ideen und Meinungen herrschte. Vor allem die Ideen und Worte der Werbung, die die Möglichkeit glücklicher Welten aufzeigten, sprudelten überall wie Perlen im Mineralwasser. Jede Idee konnte frei verbreitet, sodann verarbeitet und zu einem Fernsehbild, einer erfundenen Geschichte, einer Soap-Opera, zu einer Ware umgeformt werden. Die Macht Euros war konkret, durchschlagend, manipulierte die Menschen, betonierte und verschmutzte die Welt, zerstörte die antiken Kulturen, vereinheitlichte das Bewusstsein und verdarb den Geist. Die Anhänger Christines suchten jedoch einen Weg zur Erlösung und folgten anderen Werten. Sie kämpften nicht direkt gegen Euro. Ihnen war bewusst geworden, dass seine Macht stark und im Herzen der Menschen gut verwurzelt war. Auch wenn er niedergerissen worden wäre, so hätten die Gewinner den Platz der Besiegten eingenommen und Euro wäre wieder erstanden. Die Anhänger von Christine hatten also beschlossen, ihn zu ignorieren. Sie lebten wie Geschwister, tauschten Gaben aus, hatten aufgehört, sich in einer auf Wettbewerb ausgerichteten Welt zu stressen und zu kämpfen und hatten sich der unbeschwerten Intensität des Lebens gewidmet. Das Schweigen Christines sprach die Wahrheit. Wenn dich Christine betrachtete, dann fühltest du sie im Herzen. Ihr Lächeln eroberte dich, vertrieb die Worte, die sich vorher selbständig in deinem Geist Gehör verschafften. Es wurde dir bewusst, dass der Raum deines eigenen Lebens nicht von Worten begrenzt, sondern erweitert und unbeschwert war. Du konntest verstehen, dass du nicht die vom Verstand gewünschten Dinge, sondern die vom Herz ersehnten brauchtest. Du wünschtest nicht die Dinge, die Macht von Euro. Vielmehr wolltest du Liebe, auch wenn du nicht wusstest, wie du sie verwirklichen, wie du dich einnehmen und einhüllen lassen solltest.
    So überlegte Paul gerade vor sich hin, während er im Büro des Managers eingeschlossen war, hinter einem schweren Tisch saß und auf die weitere Entwicklung der Ereignisse wartete. Schießlich hörte man Schritte im Gang. Der grau gekleidete Mann erschien wieder.
    - Du kannst gehen. Wir wissen nicht, was wir mit einem wie dir anfangen sollen. Unsere Hoffnung ist es allerdings, dass du dich eines Besseren besinnst. Kehre zu deiner Arbeit zurück, die hervorragend war… das wissen wir. Verdiene Geld und gebe es wieder aus, halte die Wirtschaft am Laufen und trage zum unendlichen Wachstum unseres Gottes BIP bei. Alles andere ist Wahnsinn.
    Dann bat er Paul, ihm zu folgen. Sie durchquerten erneut die Säle des Handelszentrums und Paul fand sich frei auf dem Gehsteig einer überfüllten Straße der Stadt wieder.
    Er tat einige Schritte in der Nähe des Emporiums und kehrte dann dorthin zurück. Die Lichter waren grell und es gab unendlich viele Gegenstände zu kaufen. Man fand alles, jegliches Ding, das der menschliche Geist nur wünschen konnte. Paul begab sich in die Kleidungsabteilung. Mit seinem erbettelten Geld erwarb er ein neues Paar Schuhe und ein Priestergewand, das er anzog.
    Langsamen Schrittes ging er erneut in Richtung Vatikan und verweilte dabei mitunter bei der Betrachtung seines in den Schaufenstern der Geschäfte widergespiegelten Bildes.
    „Wer bin ich? Vorher glaubte ich es zu wissen. Ich war ein Manager. Jetzt kann ich mich jedoch nicht mehr definieren. Aber ich bin, ich bin einfach, während die anderen mich nach dem beurteilen, wie ich mich präsentiere und was ich trage. Und vielleicht lassen sie mich in dieser Bekleidung als Pfarrer im Vatikan eintreten,” dachte er.
     Er stellte sich erneut der Schweizergarde vor.
    - Ich werde vom Papst zu einer Audienz erwartet. Hier ist die Einladung, - sagte er und zog aus der Innentasche des neuen Gewandes das Etikett hervor: „Chemisch reinigen. Reine Schurwolle aus Cashmere”.
    - Hier entlang, Pater Cashmere, der Audienzsaal ist auf dieser Seite, - und der Schweizergardist verneigte sich und ließ ihn passieren. 

    Im Vatikanpalast bemerkte Paul die flüchtigen, aber ausdrucksvollen Blicke in Richtung seines schwarzen Gewandes, das ihm den Anschein eines antiquierten Landpfarrers gab.
    Er durchlief einen langen Gang, bog nach rechts ab und stieg hoheitliche Freitreppen hinauf, die mit dicken, roten Teppichen versehen waren. Er durchquerte einen antiken Eingang und befand sich in einem enormen, leeren Saal, dessen Wände mit Freskenbildern sakraler Geschichten bedeckt waren. Am Ende des Saals stand ein geschnitzter Holzstuhl, neben dem sich eine Tür befand, die Paul durchlief. Er trat in ein Zimmer ein und sah sich weiteren Treppen gegenüber. Er ging hinauf und erreichte einen Dachgarten mit üppig wachsenden Pflanzen. Hier erblickte er einen alten Liegestuhl, auf den er sich bettete. Die Sonne ging hinter einer Zwergpalme unter.


Der Traum von Justus

    Als es Abend wurde und er, nach seinem Gespräch mit Volpi, allein zurückblieb, hatte Justus entspannt auf einem Sessel des Arbeitszimmers zu meditieren begonnen. Er fühlte sich in jenem gut eingerichteten, geräumigen, aber nicht zu großen, schnörkellosen, wenn auch nicht sterilem Raum wohl. Er blickte um sich und betrachtete die dekorierten Wände, die Bilder und antiken Regale voller Bücher, die ausgeschaltete, von der Decke hängende Lampe und die zarte Flamme einer Kerze. Alles erschien ihm vertraut. Nun wirkte die schwierige Beziehung zu Euro und seinen Finanzfachleuten nicht mehr so besorgniserregend. Im Übrigen hatte er sich nie von Menschen beeinflussen oder einschüchtern lassen, die für ihn nur Werkzeuge größerer, undurchschaubarer und mysteriöser Kräfte waren. Sicherlich war die Situation schwierig. Die Welt war heidnisch geworden. Euro versuchte die Kirche für seine Zwecke zu benutzen. Die Kirche beugte sich jedoch nicht, ja sie war sogar wieder missionarisch unter den Ungläubigen tätig. Das Papsttum hatte noch seine Bedeutung, war eine Mission, die vor dem Ende der Zeit zu erfüllen war.
    Die Gedanken von Justus kehrten beharrlich zu Christine zurück. Er wusste wirklich wenig von ihr. War sie tatsächlich eine Heidin? Und wie erklärte sich der Verdruss, den sie der Macht bereitete? Die Macht der Finanzfachleute, die wirklich heidnisch und von materiellen Dingen eingenommen waren, die fern der ewigen göttlichen Wahrheit agierten, konnte nicht von einem einfachen esoterischen Kult behelligt werden. Es musste sich um etwas ganz anderes handeln. Und wie erklärte sich dann diese Unbeschwertheit, die er jetzt fühlte, während er erneut das Bild betrachtete, das ihm Paul geschickt hatte?
    Er blickte um sich. Im Halbschatten, der vom schwachen Licht einer Kerze beleuchtet wurde, warf ihm ein großer Spiegel ein dunkles Bild zurück. Er aber fühlte sich leicht und unbeschwert, ging in das Schlafzimmer und legte sich nieder. Durch das Fenster drang ein Mondstrahl ins Zimmer und beleuchtete sein Gesicht. Justus war jetzt eingeschlafen und…

    Marmorblöcke bildeten eine Freitreppe, die sich durch einen dichten Wald einen Berg hoch schlängelte. Justus schritt langsam dahin, setzte sorgsam seine Schritte, beobachtete die Blätter und Zweige, die majestätischen Baumstämme, die von einem leichten Wind liebkost wurden. Er drehte sich um, um das Panorama zu betrachten. Auf einer Seite erstreckte sich der Wald soweit das Auge reichte, während in der Gegenrichtung einsame, schneebedeckte Gipfel und ein weitläufiger Himmel sichtbar waren, dessen Wolken golden und rosa gefärbt waren. Justus lauschte dem Rauschen der Bäume, der Stimme der Bäche, der Stille des endlosen Raums. Als er den Gipfel des Berges erreicht hatte, erblickte er eine kleine Lichtung. Er überquerte sie und sah, dass sie in einem Abgrund endete. An dessen Rand stand ein Thron, auf dem Euro vor einem großen LCD-Bildschirm saß.
    - Euro, was machst du hier am Rande des Abgrunds? Ist dein Standort nicht Frankfurt?
    - Ich habe dich erwartet.
    - Du stehst auf der Kippe und könntest von einem Moment zum nächsten fallen.
    Euro antwortete nicht, lachte aber einige Augenblicke lang und sein schrilles Gelächter, das aus einer unheilvollen Tiefe zu entspringen schien, ängstigte den Wald, der plötzlich verstummte. Dieses Schweigen der Natur war angespannt und von einer unerträglichen Schwere erfüllt. Dichte Wolken, die von einem eisigen Wind herangetragen wurden, senkten sich düster zwischen den Bäumen herab. Nach langen Sekunden setzte dann zunächst nur von Zeit zu Zeit schüchtern hier und dort und danach im ganzen Wald der Gesang der Vögel erneut ein und man hörte auch die Stimmen der wilden Tiere wieder.
    - Justus, betrachte diesen Bildschirm hier und lasse dich nicht von der Natur ablenken. Schau dir Rom an, siehe deren Bewohner, die in ihren luxuriösen Häusern leben. Sieh dir die Fabriken an, in denen tausend Dinge hergestellt werden und die Handelszentren voller Güter. Siehst du? Zuerst war es eine Wüste, eine Wüste mit Bäumen, Tieren, Bergen, mit wilder Natur. Wir haben das allerdings mit unserer Arbeit umgeformt. Wir haben die Berge durchlöchert und Eisen, Diamanten und Gold herausgezogen. Du solltest nicht ohne all diese Dinge leben. Wir haben die Flüsse aufgehalten, die Täler überschwemmt, die Tiere eingesperrt, wir haben sie umgebracht und zerbissen. Wir haben hundertjährige Bäume ausgemerzt und haben sie zermalmt. Wir haben Landstriche und Strände zementiert, große Vororte vor den Städten errichtet. Wir haben Waffen produziert und an die Armen verkauft. Wir haben Waren von einem Ende der Welt zum nächsten transportiert. Wir haben Arbeit, Beschäftigung, Wohlstand und Reichtum für die Leute geschaffen. Das haben wir mit unserer Macht getan.
    Justus blickte auf den Bildschirm und sah Rom, den Ruhm Roms voller unzähliger Gegenstände aus Gold und Silber. Er sah Teppiche, Sklaven, Autos, Videotelefone, Mikrowellenherde, Computer, Klimaanlagen, Elekrohaushaltsgeräte, Tablets und iPods.
    - Justus, auch du kannst glücklich sein und all diese Dinge besitzen. Ich werde sie dir geben, wenn du Christine aus deinem Herzen verjagst, wenn du vor mir niederfällst und mich vergötterst.
    Als Euro diese letzten Worte aussprach, erschien er verwirrt und seine Augen entflammten sich, ja sie sprühten sogar Feuer. Er bebte am ganzen Leib und fieberte einer Antwort entgegen. Schwarze Sturmwolken zogen aus der Tiefe des Tals herauf.
    - Alsdann, Justus, denk darüber nach. Du bist Papst, aber das bedeutet jetzt nicht mehr so viel. Du bist nur eine Galionsfigur und deine Macht hat sich im Laufe der Jahrhunderte aufgerieben. Du musst wie am Anfang neu beginnen, wie damals als du ein christlicher Bischof im römischen Kaiserreich warst. In der Vergangenheit hast du Gutes geleistet. Dein Verhalten war tadellos. Es gefiel mir, dich um die Macht kämpfen und das Blut von Unschuldigen und Ketzern vergießen zu sehen. Allerdings hat sich die Geschichte nicht in die richtige Richtung entwickelt. Und wer bist du jetzt? Was besitzt du? Du bist verarmt. Verneige dich, werfe dich vor mir nieder, vergöttere mich und ich werde dich sehr großzügig entlohnen, ich werde dich erblühen lassen und deine Macht wird erneut aufkeimen. Die Könige werden dir wieder gehorchen und ich werde immer an deiner Seite sein. Verneige dich, Justus.
    Justus schwieg entgeistert. Würde Euro sein Versprechen einhalten, wenn... aber sich vor ihm verneigen? Demütigen? Warum? Für die Macht des Geldes... auf seine Freiheit verzichten, Euro zufriedenstellen, ihn erneut in seinem unendlichen Podestat bestätigen, ihn anerkennen und folglich unter der lobpreisenden Menge als Triumphator nach Rom zurückkehren, Papst sein, ein echter Papst und Herr, verehrt, gefürchtet, fast angebetet werden und die Gläubigen in Richtung des immanenten, materiellen Paradieses führen.
    Man hörte einen markerschütternden Aufschrei: Ein einsamer Fuchs schrie wie ein gequältes Kind und danach gab es eine kurze, schmerzerfüllte Stille.
    - Nein! – rief Justus mit einer Stimme aus, die sich aus einem tiefen Inneren zu befreien schien, darin bebte und widerhallte, um dann in der Lichtung zu verklingen.
     - Nein, - wiederholte er gelassen, - deine Angebote interessieren mich nicht. Ich werde meinen Herrgott verehren. Verlasse mich, weiche von mir, Euro, du denkst nicht nach dem Gebot Gottes, sondern nach dem des Profits.
    Euro erblasste. Er fiel in seinem Thron zusammen und seine Augen füllten sich mit Blut, Hass und Verzweiflung. Man hörte das Getöse eines Donners.
    Justus gelang es gerade noch rechtzeitig, zurückzuspringen, als sich plötzlich zu Euros Füßen ein Erdloch auftat. Dieser versank noch auf seinem Thron sitzend darin und wurde von einer schwarzen Wolke verschlungen, die von roten Funken durchbrochen wurde.
    - Welch eine Erleichterung! - sagte Justus. – Armer Teufel, das war dein Ende.
    Sodann erwachte er stark beeindruckt aus seinem Traum und hatte Schwierigkeiten wieder einzuschlafen. Er dachte, dass ihm eine Runde an der frischen Luft zwischen den Pflanzen des Dachgartens gut tun würde und erhob sich.

Justus trifft Paul
     
    Justus begann im Dachgarten des Palastes zu spazieren. Er war vollkommen von Stille umgeben, nahm Paul wahr, der unter einer Zwergpalme sitzend ruhte und dachte, dass dies der Gärtner sein müsste.
    - Haben sie alle Pflanzen gegossen? – fragte er ihn.
  Paul erwachte durch diese nachdrückliche, ja fast gebieterische Frage und erinnerte sich nicht, wo er war.
    - Um die Wahrheit zu sagen, hatte ich keine Zeit dazu. Aber wie spät ist es? Wer hat das Licht angemacht? – antwortete er.
    - Es ist eine Mondnacht.
    - Ja, der Mond ist hell.
    - Der römische Mond.
    - Er kommt überall hin, er fährt zur See, durchquert die Wolken, fliegt über die Hügel und bleibt dann am Himmel von Rom stehen.
    - Er reist auch durch die Zeit.
    - Wenige betrachten ihn. Ich sehe mir lieber den Mond an. Wissen sie, ich habe keinen Fernseher, - sagte Paul.
    - Ach, sie auch nicht!
    - Ich auch nicht? Was möchten sie damit sagen?
    - Ich möchte damit sagen, dass einige Menschen unserer Zeit nicht fernsehen.
    - Im Mond kann man alles sehen, alle menschlichen Programme.
    - Dazu braucht man allerdings Fantasie. Schlafen sie heute Nacht nicht im Zimmer?
    - Ehrlich gesagt wissen sie nicht, dass ich angekommen bin. Da waren diese Schweizergardisten, die mich dem Papst vorstellen hätten sollen. Ich habe sie darum gebeten, aber sie haben mir nicht geglaubt.
    - Was haben sie nicht geglaubt?
    - Dass auch ich das Recht habe, mit ihm zu sprechen.
    - Und wer sind sie?
    - Also nein, jetzt reicht es! Justus, stell mir nicht auch du die gleiche Frage. Ich bin. Muss ich auch für dich irgendjemand oder irgendetwas sein? Muss ich ein wohldefiniertes Bild sein, um anerkannt zu werden? Ich bin ein Mensch, das sollte dir genügen! – rief Paul also mit Nachdruck aus. Dann blieb er ruhig vor dem Papst, der ihn stehend betrachtete, auf dem Liegestuhl sitzen.
    - Nun gut, einen Namen wirst du schon haben, -  sagte Justus gelassen zu ihm.
    - Paul.
    - Ah, dann bist du das!
    - Wer ich?
    - Du bist ein Zig... ein Obdachloser, der Bruder von Marta.
    - Marta? Marta kenne ich. Auch sie betrachtet den Mond.
    - Ja schon. Inzwischen sagst du mir aber, woher du kommst?
    - Aus London und ich werde mein Nomadenleben bald wieder aufnehmen.
    - Wie sonderbar. Nun sind viele als Landstreicher unterwegs. Andererseits ist das Leben in der Stadt unerträglich geworden. Du bist also einer von ihnen.
    - Von ihnen?
    - Hast nicht gerade du mir das Foto von Christine geschickt?
    - Ja.
    - Ich bin neugierig, etwas mehr über sie zu erfahren. Erzähle mir von ihr.
    Justus setzte sich neben Paul und war bereit zuzuhören. In der Zwischenzeit hatte sich im Dachgarten ein leichter Wind zwischen den Blättern der Zwergpalmen erhoben. Paul hüllte sich indes in ein zurückhaltendes Schweigen.
    - Niemand kennt Christine.
    - Nein? Du wirst bestimmt etwas Kontakt zu ihr gehabt haben.
    - Ja, ich habe sie getroffen und werde sie nie wieder vergessen können. Sie lächelte mir zu und ich wurde von einem Gefühl der Wärme inmitten der Brust überwältigt, meine Gedanken beruhigten sich, ich fühlte mich glücklich. Ich begriff, dass sie immer neben und in mir gelebt hatte. Es hatte immer eine Christine in meinem Herzen gegeben.
    Während Paul dies sagte, wurde er von Rührung ergriffen und konnte nicht weitersprechen. Justus schwieg. Der Mond stand hoch am Himmel.
    - Ja, Paul, - sagte schließlich Justus mit väterlicher Stimme. – Ich verstehe dich. Aber sage mir doch lieber, welches Verhältnis ihr Anhänger von Christine mit der Macht von Euro habt?
    - Keines. Nur die Vertreter Euros erbosen sich gegen uns. Sie klagen uns an, dass wir keinen festen Wohnsitz haben und nicht arbeiten.
    - Und du arbeitest nicht?
    - Ja, besser gesagt, ich arbeitete. Ich arbeitete für das Geld und wollte mich so bereichern und habe das auch getan. Dann habe ich allerdings alles zum Teufel geschickt. Jetzt tue ich nur das, was mich erfreut und niemand bezahlt mich. Ich glaube, dass ich deswegen verhaftet und registriert wurde.
    - Euro hat Angst vor Gespenstern. Und sage mir, wo befindet sich diese deine Christine nun?
    - Sie ist hier in Rom.
    - Warum? Was tut sie hier?
    - Die Anhänger Euros halten sie gefangen. Sie wollen ihr den Prozess machen. Du musst eingreifen, Justus, du musst sie beschützen. Ohne dich ist sie verloren.
    - Verloren... Christine wäre verloren und warum sollte ich sie beschützen und Euro herausfordern? Du kennst seine Macht nicht. Er ist entschlossen, einflussreich und ist zu allem bereit, um seine Pläne zu verwirklichen, um jede seiner kleinen Marotten zufriedenzustellen. Und Christine ist sicher nur eine Marotte für ihn. Er hat wichtigere Dinge zu tun. Du solltest dich dagegen nicht in seine Angelegenheiten einmischen. Lasse Euro alleine gegen seine Gespenster kämpfen. Ich begreife nicht, wie diese Frau es schafft, die Leidenschaft der Menschen anzuheizen, eure Seele zu besitzen und euch zu unterwerfen.
    - Du sprichst so, weil du sie nie gesehen hast.
    - Welche Bedeutung kann ein Treffen mit ihr haben? Ich frage mich, ob sie in deiner Lage als… ja als Landstreicher nicht nur ein Trost ist. Vielleicht würdest du sie vergessen, wenn du eine Bleibe und Zuneigung hättest.
    - Das könnte ich nicht.
    - Du ziehst herum, folgst Christine, einem zu verehrenden Bild, einer Idealfigur. In ihr suchst du das, was in dir, in deiner Tiefe wohnt. Denn vielleicht suchst du nur dich selbst.
    - Du könntest sogar Recht haben, Justus. Dennoch braucht Christine deine Hilfe.
    - Gott wird ihr helfen. Wenn Gott sich in dieser Angelegenheit meiner Person bedienen will, so wird er es tun. Ich verspreche dir allerdings nichts. Suche du dagegen, statt deine Zeit auf den Straßen der Welt zu verlieren, das Wahre und Ewige, suche die unendliche, transzendente Wirklichkeit, die jedoch mitten unter uns, in uns ist und… höre, Marta hat mir von dir erzählt. Du bist ein gebildeter Mann, hat sie mir gesagt. Das ist schön, aber du musst dennoch leben und arbeiten.
    - Arbeiten... um was zu tun? Um unnötige Güter, Gifte und Bomben herzustellen? Das interessiert mich nicht. Viele Arbeiten sind ein Sklavendienst. Andere sind Spiele für unreife Jungs. Sie sind langweilig und entfremdend. Man sollte nicht mehr arbeiten, als man zum Leben braucht, um die echten, wesentlichen Bedürfnisse zufriedenzustellen.
    - Die Arbeit ist in jedem Fall nützlich.
    - Einige Arbeiten sind es.
    - Du könntest eine nützliche Arbeit verrichten.
    - Auch Betteln ist eine Arbeit und ich bin frei.
    - Aber du lebst auf Kosten anderer. Was die Freiheit angeht, so kann es jedoch sein, dass du nur flüchten, von Ort zu Ort ziehen und dein unmögliches Ideal von Armut predigen willst.
    - Ja, wie das bereits dein Herr getan hatte.
    Justus antwortete nicht, erinnerte sich an sein jüngstes Gespräch mit Volpi und seine eigenen Worte zugunsten der Armut. Dann erfüllten ihn plötzlich andere Gedanken. Der erste morgendliche Sonnenstrahl fiel auf sein vom frühen Aufstehen müdes Gesicht. Warum konnte er nicht wieder einschlafen und hatte die Notwendigkeit gefühlt, in den Garten zu gehen? Und warum wurde er dann von sonderbaren Träumen geweckt, wenn er sich nach einem langen Arbeitstag durch einen sanften Schlaf erholte? Er wendete sich erneut an Paul:
    - Stelle dich bei meinem Sekretär vor. Wir benötigen einen Archivar. Wir werden dir eine monatliche Präbende geben und du wirst zur Ruhe kommen.
    Sie verabschiedeten sich.

Die Konversion

    Justus kehrte in seine Gemächer zurück, betrat das Arbeitszimmer und betrachtete das auf dem Schreibtisch aufgehäufte Papier. Dann setzte er sich und sah sich um, wie er das in besinnlichen Augenblicken zu tun pflegte. Das Zimmer schien durch eine neue Präsenz belebt zu werden. Wie ein berauschender Duft lagen eine Sanftheit und ein endloser Frieden in der Luft, die sich vollkommen grenzenlos über die Wände des Arbeitszimmers hinaus ausdehnten. Justus fragte sich, woher dies wohl käme. Dann versenkte er sich in sich hinein, schien sich jedoch selbst fremd und mysteriös. Er hatte ein neues Gefühl, eine sanfte Seinsspannung, die er vielleicht nur wiederfand. Sodann nahm er Kaffeeduft wahr, was die Ankunft Martas ankündigte. Und tatsächlich war ein schwaches, fast schüchternes Klopfen an der Türe hörbar.
    Es kam eine brünette Frau herein, die leichten Schrittes vortrat und das Frühstückstablett auf den Schreibtisch stellte. Danach wendete sie sich zu Justus und lächelte.
    Justus riss die Augen weit auf und betrachtete sie erstaunt. Dann hatte er das Gefühl, die Besinnung zu verlieren und konnte nur noch einen Namen flüstern: Christine...?!

    Justus war ein guter Papst gewesen und hatte eine neue Energie in die seit Jahrhunderten bestehende vatikanische Institution eingebracht. Es war ihm gelungen, ein hervorragendes Gleichgewicht zwischen dem tiefgründigen Wert seiner Mission und den politischen und choreografischen Funktionen zu schaffen, die sein Amt von ihm verlangte. Außerdem hatte er es geschafft, der Christianisierung neue Vehemenz zu verleihen, indem er nicht mehr das starke und dogmatische Gesicht der Kirche hervorhob, sondern die Liebesbotschaft Jesu in den Mittelpunkt seiner Predigten stellte. Wenn er nun sogar eine hohe Position in der Papstgeschichte erreicht hatte, weil er auch die Möglichkeit hatte, weitere ausgefallene Visionen seines Pontifikats zu verwirklichen, so blieb ihm eine Art Unzufriedenheit. Er fragte sich, warum diese in seiner Seele verspürte Leere ständig wiederkehrte. Darüber hinaus fragte er sich auch, ob eine gewisse Rastlosigkeit, die sich in seinem von sonderbaren Träumen gestörten Schlaf zeigte, nicht nur vom Zwiespalt mit Euro, sondern auch mit der Kurie herrührte. Und er dachte, dass die Quelle seines oft in ihm aufkeimenden Unbehagens sicherlich dennoch nicht durch andere zustande kam. Vielmehr waren vielleicht die unharmonischen menschlichen Beziehungen nur der Ausdruck einer viel größeren Dissonanz im Herzen des Mannes, in seiner Existenz und Identität. Obwohl ihm die päpstliche Macht, die im Vergleich zu der eines großen Managers im Vorstand einer Multinationalen von Euro wirklich bescheiden war, sicherlich einen starken und befriedigenden Identitätssinn verleihen musste, so berauschte sich Justus nicht an ihr. Sein Bewusstsein um die menschliche Vergänglichkeit bildete für ihn das Gegengewicht zu jeglicher Überschwänglichkeit des Ichs. Selbst die Größten mussten sich doch immer wieder erden. Justus saß auf dem Stuhl Petri, betrachtete den großartigen Palast und wusste dennoch, dass die gewaltigsten menschlichen Bauten auf dem Boden ruhten. Auch das Leben bedeutender Männer musste unten auf der Erde verankert sein, die sie hervorbrachte und nährte und die sie sich zurückholte. Welchen Sinn hatte jede Identität und jede Macht in Anbetracht der Sicherheit, dass jeder menschliche Weg endete? Und welchen Sinn konnte das vergängliche Menschenleben ohne Glauben haben? Justus lächelte mitunter über die hartnäckige Bindung, die die Vertreter Euros an Macht und Reichtum, an ihr Ego zeigten. Dessen Kraft war für ihn nichts anderes als eine Verschleierung einer nicht eingestandenen Beklemmung angesichts der Vergänglichkeit aller Dinge, angesichts des unausweichlichen, zukünftigen Endes ihrer Herrlichkeit, ihres Namens und Bildes. Sie beherrschten gleichsam Natur und Menschen und, obwohl sie glaubenslos waren, strebten sie durch Herrschaft und große Eroberungen nach Ewigkeit. Ihre Suche war jedoch vergeblich. Sie war nur eine große Illusion. Ebenso war die Verehrung Euros nichts anderes als ein leerer Ersatz für den wahren Glauben.
    Auf diese Weise verfolgte Justus ständig viele verschiedene Gespräche in sich. Es kam ihm auch in den Sinn, in die Vergangenheit zurückzukehren. Er fragte sich, ob seine derzeitige Unzufriedenheit und die sonderbaren Träume eine entfernte Ursache haben könnten. Er erinnerte sich an die Etappen seines Lebens, die Erfolge, die großen Kämpfe und Siege, die ersten Liebesleiden, die unwiderrufliche Entscheidung für das Zölibat und den geistlichen Weg. Außerdem rief er sich dann vielleicht noch mehr die Jahre seiner Kindheit ins Gedächtnis. Er dachte an seine Eltern, seine Mutter, kehrte zu dem Gefühl, ja sogar Duft des Lebens zurück, die sie ihm übertragen hatte, sie, die ihn in ihrer Lust empfangen hatte... Und war seine Herkunft mit dem Verlangen verbunden, das das Leben nach sich selbst hat? War sie ein Zufall oder ging sie aus etwas anderem hervor und woraus? Aus Gott? Für ihn war es leicht, zu leicht von Gott zu sprechen. Seine umfassenden Theologiestudien befähigten ihn in höchstem Maße theoretische Lösungen auf alle existenziellen Fragen zu finden. Allerdings war es nicht das, was er eigentlich wollte. „Gott” war jetzt – und dies schien ihm einigermaßen schwerwiegend – nur zu einem Wort, einem Konzept geworden, das von Theologie, Geschichte, Macht sowie von einigen seiner Vorgänger missbraucht wurde. Sicherlich hatte er den Glauben nicht verloren. Vielmehr wollte er Gott jetzt in sich selbst, außerhalb jeglichen Namens und jeder Doktrin wiederfinden. Er erinnerte sich auswendig an die Worte des Heiligen Maximus Confessor: „Mit der heiligen Beteiligung an den reinen und belebenden Mysterien empfängt der Mensch Vertrautheit und Gleichheit mit Gott. Dadurch wird er aus dem Menschen, der er war, zu Gott“. Dies schienen ihm aber große Worte, die den orientalischen Mystizismen zu nahe lagen. Justus blickte jedoch in sich und hier suchte er in seinem Gefühl, das sicher und grundlegend, in Einheit mit Gott sein musste. Es war, als suchte er nach der Verwirklichung des göttlichen Ursprungs, einer weitreichenderen Dimension der Grenzen seines persönlichen Lebens.
    Über all das dachte er in den Augenblicken der Schwäche und vor allem in den Tagen vor dem Zusammentreffen mit Christines Blick nach.
    Als er sie nun so plötzlich vor sich sah und nicht wusste, wie sie in seine Gemächer eingetreten war, wurde er von einer augenblicklichen, aber tiefgehenden Eingebung getroffen. Gott hätte ihm durch sie ein tiefes, sanftes und heiteres Gefühl von Sicherheit und Frieden, von unerschütterlicher, innerer Kraft und von endlosem Vertrauen in das Leben geschenkt.
    Christine sprach nicht, sie lächelte mit unsagbarer Sanftmut.
    Justus wendete ihr seine Augen zu, blickte sie einen Moment lang an und senkte dann sein Gesicht wie geblendet ab. Er hatte das Gefühl, dass er nun in diesem Blickwechsel all seine Fragen vergessen hatte. Er konzentrierte sich einige Sekunden lang auf sich selbst und blickte dann erneut in ihre Augen: Dort sah er ein Licht, das ihm förmlich wie eine Wiedergeburt und sonderbarerweise gleichzeitig wie ein Ende vorkam. Und das war also sein Ende, das Ende seines alten Ichs und er hatte jetzt das Gefühl zu sterben. Das Ende... sterben... er musste sterben, bevor er wiedergeboren wurde. Es verging eine Sekunde, ein endloser Augenblick, in dem seine Seele auf der Oberfläche eines stürmischen Meeres zu sein schien. Und die Wellen erhoben sich gegen den Himmel und der Wind der Beklemmung johlte. Schwarze Wolken verdunkelten die Sonne und das Boot von Justus wurde führungslos hin und her geworfen. Ja, es konnte sogar Schiffbruch erleiden. Dann schienen auch die Wellen zu verschwinden, auch wenn sich die See noch nicht beruhigt hatte und die Situation extrem war: In ihm gab es keinen Seinsraum, keinen Ansatzpunkt zum Anklammern, keinen Zufluchtsort sowie keinen Ort mehr, vor dem man flieht und wohin man wieder zurückkehrt. Es gab nicht einmal einen Schiffbruch, denn vielleicht wäre der noch so schreckliche Schiffbruch dem Fehlen von Sein, dem Ersticken der Seele vorzuziehen gewesen. So schien ihn Gott nicht nur aus seinen Gnaden zu nehmen. Vielmehr löschte er ihn jetzt von jeglichem Ort und dies war seine Stimme, seine Leere, seine fürchterliche Art sich zu offenbaren. Justus fühlte Gott unerträglich in seinem Herzen und in all seinen Gliedern. Es war zu viel, aber er konnte ihm keinen Widerstand leisten; es war unmöglich, ihm zu entfliehen. „Nicht mein Wille, sondern dein Wille geschehe” war sein letzter Gedanke und er ließ sich auf den Sessel fallen.
    Diese Hingabe ist es, die das Wunder hervorbringt und die in zarte und erfrischende, mystische Tränen mündet. Christine nähert sich ihm und streicht sanft über sein dichtes Haar. Justus sieht weiter wortlos in ihre Augen. Jene Augen... strahlende Sterne in einem unsäglichen Raum mit einer Tiefe, in der sich das Leben offenbart. Dann blickt er aus dem Fenster und betrachtet den blauen Himmel jenseits der Säulen des Petersplatzes. Die gegenwärtige Zeit dehnt sich aus und wird im Angesicht Christines, dem Spiegel unendlicher Klarheit, zu neuem Leben.                             

Die Abdankung des Papstes
                          
    Paul, der nichts von der Anwesenheit Christines im Vatikan wusste, hatte in der Zwischenzeit beschlossen, seine Reise fortzusetzen. Bevor er Rom verließ, fragte er sich jedoch, wie sein Leben verlaufen wäre, wenn er geblieben wäre. Die von Justus angebotene, ruhige Arbeit eines Archivars wäre für einen Mann seines Alters geeignet gewesen. Sie hätten ihm eine kleine Wohnung, Mensa-Gutscheine und ein Gehalt gegeben. Er hätte das unbequeme Leben eines wandernden Bettlers aufgegeben. Er hätte immer im gleichen Bett und nicht mehr unter den Brücken oder in einem Boot am Strand geschlafen. Er wäre früh morgens aufgestanden, hätte sich gewaschen, angekleidet, rasiert, hätte gefrühstückt und wäre in das Archiv gegangen, um verstaubtes Papier zu ordnen. Möglicherweise hätte er vielleicht neue Dinge entdeckt, hätte interessante Dokumente gelesen und sich mit den anderen Angestellten angefreundet. Und wie man weiß, läuft das Leben so: Man wird geboren, wächst heran, verlässt den Geburtsort und bindet sich an eine neue Lebenslage. Gewohnheiten werden ausgehandelt und beibehalten, man wird sesshaft und vergisst das Gebot Jesus: Lebt in Vergänglichkeit. Paul hatte den üblichen Lebensweg allerdings bereits durchlaufen und fühlte sich jetzt nach monatelangem Nomadentum in seinem Innersten zu streunerhaft, um auf die Idee einzugehen, in einem Büro eingeschlossen zu arbeiten. Er hätte sich wieder in eine Welt voller sicherer Gewohnheiten eingesperrt und hätte sich erneut von sich selbst und von dem Gefühl entfernt, das ihn mit Christine verband. Dies waren seine Gedanken, auch wenn er noch nicht wusste, dass er, selbst wenn er gewollt hätte, nie irgendeinen Arbeitsplatz im Vatikan bekommen hätte.

    Die Nachricht von der Abdankung des Papstes erfuhr Paul aus der Zeitung und sie beeindruckte ihn sehr. Er konnte es nicht fassen, es war einfach unmöglich. Paul fragte sich, welchen Grund es dafür geben konnte: Die unmögliche Beziehung mit Euro, mit den multinationalen Konzernen und mit einer inzwischen fast vollkommen an den Rand gedrängten Kirche? Oder ging es um etwas anderes, vielleicht ein gewisses Ermüdungsgefühl, das Justus nicht erlaubt hatte, seinen neuen Verantwortlichkeiten gerecht zu werden? Tatsächlich gab es jetzt die schweren Verpflichtungen für das Heilige Jahr 2050. Justus hatte sich höchstens wegen eines sehr schwerwiegenden Grundes zurückgezogen. Welcher mochte das sein? Die Zeitungen sparten nicht mit den unterschiedlichsten und sonderbarsten Interpretationen. Sie sprachen auch von einer mentalen Krise, einer geheimnisvollen Krankheit, die Justus Zurechnungsfähigkeit untergraben habe. Nach gewissen Kommentatoren war Justus von einer religiösen und existentiellen Leidenschaft ergriffen worden, die sich schlecht mit der historischen und institutionellen Funktion des Papsttums vereinte. Außerdem bestand kein Zweifel daran, dass er nach seiner Genesung die Führung der Kirche erneut übernehmen würde. Die Presse berichtete allerdings auch über die Gründe, die Justus selbst als den wahren Grund für seine Abdankung bestätigte und kommentierte diese. Er wäre vor der Wahl gestanden, weiter eine Hierarchie von Seelenhirten anzuführen oder sich selbst und seiner Berufung als Diener Gottes treu zu bleiben. Anstatt weiterhin eine inzwischen geschichtlich eingeschränkte Rolle innezuhaben, hatte es Justus vorgezogen, zur Quelle und zur Rechtfertigung seiner Berufung, zu den historischen und demütigen Glaubensursprüngen  zurückzukehren. Zu dieser nicht einfachen Entscheidung kam dann noch der Verzicht auf die restlichen Privilegien der päpstlichen Macht sowie die Ablehnung einer anachronistischen, wenn auch noch formal angesehenen Rolle. Darüber hinaus war die Abdankung für ihn in der Realität einer heidnischen Welt, in der das Christentum, wenn es noch lebendig bleiben wollte, zum Predigen, zum Lebensbeispiel und den Aposteln zurückkehren musste, die einzig mögliche Vorgehensweise. So ließ er jegliche schwere Bürde, das Gewicht einer tausendjährigen zeitlich unbegrenzten Institution, jede Bindung mit der Macht hinter sich.
   
    Das Aufsehen nach der Abdankung von Justus war groß. In aller Welt sprach man von diesem Ereignis und Justus wunderte sich über seine plötzlich erreichte Beliebtheit. Zunächst musste er feststellen, dass er sein altes Bild nicht wie ein Kleidungsstück nach Belieben an- und ausziehen konnte, auch wenn es nicht mehr dem entsprach, was er in sich fühlte. Er wurde weiter als Pontifex betrachtet, auch wenn er abgedankt hatte, auch wenn er sich jetzt unter die einfachen Leute mischte und mit dem Bus fuhr. Im Gegenteil, wenn er einstieg, wurde die Atmosphäre ehrerbietig. Die Menschen forderten ihn auf, sich zu setzen. Von irgendwo tauchte jemand auf, der ihm ein Kissen gab, andere legten ihm einen kleinen Teppich unter die Füße. Der Autobus wurde zu einer Art ‘Papabus’, der während der Fahrt die jubelnde Menge durchtrennte. Allerdings betraf die Beliebtheit von Justus nicht nur ihn alleine. Auch wenn er nicht der erste abdankende Papst der Geschichte war, auch wenn das Wahlgesetz der Kirche vorsah, dass der Papstsitz aufgrund eines triftigen Verzichts des Amtsinhabers und nicht nur aufgrund seines Todes als vakant betrachtet werden konnte, so öffnete seine Abdankung dennoch eine Unmenge von Fragen, Zweifeln und Kontroversen, die nicht mehr ausschließlich theologischer, sondern auch politischer Natur wurden und, was besonders wichtig war, den Mann auf der Straße zu interessieren, ja manchmal zu erhitzen begannen. Zunächst zeigten sich die stärksten Reaktionen und das größte Aufsehen natürlich innerhalb der Kirchenhierarchie und des Christentums. Die katholischen Prälaten waren verwirrt und fassungslos. Danach wurden allerdings auch die Protestanten unruhig. Justus behauptete tatsächlich, dass das Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes falle. Er sagte, dass das Papsttum keine Macht-, sondern eine Dienststruktur sei, so dass also einer der Hauptgründe für ihre Trennung von den Katholiken schwand. Was hätte dieser radikale Erneuerer indessen noch alles gesagt und getan? Die Protestanten waren auf der Hut. Wenn sie nach außen hin immer mit der Machtbefugnis des Papstes uneinig waren, so fühlten sie vielleicht in ihrem Innersten und heimlich bei ihrer eigenen Unterteilung in viele Sekten die Notwendigkeit, eines hoch gestellten und einenden Oberhaupts. Und nun, wo Justus nicht mehr Papst war und kein Gehorsam von ihnen verlangt wurde, nun konnten sie in Betracht ziehen, ihn zu ehren und vielleicht sogar ihm zu folgen. Allerdings teilte das Argument der päpstlichen Fehlbarkeit vor allem die Katholiken. Konnte man eben diese Erklärung von Justus zugunsten der Fehlbarkeit des Papstes für unfehlbar halten? Oder war auch diese Erklärung fehlbar? Diese Frage war nicht nur logischer Natur, sondern betraf die Ursprünge des Papsttums und überrollte somit anfangs vollkommen die Person des Heiligen Petrus, dessen Gebeine sich, wie manche behaupteten, im Grab umdrehten. Tatsächlich wiesen einige Wissenschaftler auf die fehlende Eignung von Petrus als der Person hin, die zum ersten Papst gemacht worden war. Sie behaupteten, dass ein uralter Mangel, d. h. eben diese historische und theoretische Rechtfertigung der unmöglichen Machtbefugnis von Petrus, einer biblisch widersprüchlichen Machtbefugnis, jetzt nach vielen Jahrhunderten auf explosive Weise zu Tage trat. Durch die innere Qual von Justus höhlte er, neben dem Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit, auch die geringen Reste des Prunks und der zeitlichen Macht der Kirche aus.
    Von der Frage um die Unfehlbarkeit des Papstes ging man dann auf die seiner Macht über. Was war indes letztendlich die Macht von Petrus? Jetzt hatte niemand mehr irgendwelche Bedenken, sich diese Frage zu stellen, die bei Podiumsdiskussionen debattiert wurde. War dies eine richterliche, volle, universale und unmittelbare Macht? Nach den Worten der Wissenschaftler konnte diese Hypothese nicht akzeptiert werden, weil die geschichtlichen Daten dies nicht bestätigten. Tatsächlich war Jakob das richterliche Oberhaupt der Urkirche. Bestand dann dagegen die Machtbefugnis von Petrus nur darin, die Schafe auf die Weide zu treiben? Einige Domherren sagten, dass Petrus in Wirklichkeit nie die Kirche getragen hatte. Vielmehr hatte er ihr mit der einfachen Aufgabe gedient, den Glauben seiner Brüder zu bestätigen. Petrus schien eher wie ein missionierender Apostel als ein rechtsprechender Papst aus seinem Grab zu treten.
    Auch wenn Justus eindeutig den Thron von Petrus aufgegeben hatte, hatte er im Übrigen nie offen gesagt, dass er auch auf seine Berufung als Hirt verzichten wollte. Schließlich bekräftigten diejenigen, die ihm treu blieben, dass seine Abdankung die Kirche belebte und diese endlich auf ihre ursprüngliche Zahl zurück brachte.
    Vor allem Euro war von Justus Abdankung beunruhigt. Die Vertreter Euros fürchteten, dass sich ein neues Szenario ergeben könnte, mit anderen Worten, dass ein ausgefallenes Urchristentum sich zu einer Bewegung gegen sie verwandeln könnte. Die größte Befürchtung lag darin, dass sich diese Bewegung mit der von Christine, mit der stillschweigenden und verzückten Predigt einer visionären Priesterin der Großen Mutter vereint hätte. Und dies hätte die bestehenden sozialen Werte gefährlich verlagert, so dass diese auf eine irreale, fiktive Ebene, in eine Dimension geschoben werden würden, die wenig oder gar nichts mit dem Wirtschaftswachstum zu tun hatte. Wie im Fernsehen gezeigt wurde, reiste Justus jetzt auf dem Eselsrücken in Richtung eines heiligen Ortes. Was würde er aber dann nach seinem geistigen Rückzug tun? Würde er stumm und abseits stehen? Oder würde er sich mit Sandalen und einer ärmlichen Kutte auf Wanderschaft begeben und dabei weiß Gott welche neue und anachronistische Frohe Botschaft predigen? Euro hatte keine Ruhe, konnte die Fenster der Massenmedien jedoch nicht schließen, die dem Gesetz der höchsten Einschaltquote folgend, alle Erklärungen und Handlungen eines immer beliebteren Justus im Detail aufzeigten. Und Euro musste beunruhigt anerkennen, dass jetzt ein armer, zurückgetretener Papst ohne politische Macht und theokratische Ansprüche auch dank der Unterstützung der Massenmedien einen neuen und bedeutenden moralischen Einfluss und eine symbolische Fähigkeit erwarb, die neue Bewegungen und neue Moden mit sich brachten. Und so schien sich die sehr alte Prophezeiung des Heiligen Paulus zu bewahrheiten, nach der man wirklich stark ist, wenn man Schwäche zeigt.
    Einige dachten, dass die neuen Ereignisse ein Zeichen dafür seien, dass sich die Welt als Ganzes zu zersetzen begann. Sicher wurden langsam ganz bestimmt hier und dort Risse, einige Trennungen, klare Widersprüche auch zwischen den reichsten Klassen und nicht nur zwischen den gebildeten und erleuchteten Personen erkennbar. Es setzte sich die Vermutung durch, dass die Europäische Gemeinschaft an Bedeutung verlieren und sich auflösen könnte. Sonderbarerweise breitete sich also eine gewisse Unruhe unter der machthabenden Elite aus. Eben diese oder Bereiche dieser Elite, die alles besaßen und die jedes Streben nach Macht und Konsum befriedigt hatten, wendeten sich jetzt der Esoterik, den proto-orientalischen Kulten, all dem zu, was neu war. Diese Elite hatte die Geste des Papstes bewundert und hätte ihn vielleicht unterstützt, wenn er die Absicht gehabt hätte, eine neue religiöse oder politische Bewegung zu gründen. Kurzum schien sich die Abdankung von Justus als ein unerwarteter Katalysator für bereits vorhandene Unruhen zu erweisen und schien der Anfang für den Umsturz jener materiellen Werte zu sein, die bis kurz vorher nicht den geringsten Zweifel auf sich zogen. Genau diese Leidenschaft für Euro, die den einzelnen in eine Konsumgesellschaft einschweißte, begann zumindest anscheinend, nicht mehr für alle die bisherige Faszination auszuüben. Und dies schien für die orthodoxen Verehrer von BIP wirklich schwerwiegend. Hier handelte es sich um eine Tendenz, die sich jetzt nur leicht andeutete. Allerdings hätte sie große Bedeutung erlange können, wenn sie nicht rechtzeitig gestoppt worden wäre. Der einfache, von Justus durch seinen Verzicht auf Macht und Geld eingeführte Lebensstil, hatte tatsächlich vielleicht die schwächsten Gemüter beeindruckt und so fingen nun viele an, einen ins Gegenteil gekehrten Snobismus zu zeigen, ja fast zur Schau zu stellen. Sie rühmten sich, keine Designer-kleidung zu tragen, kein Auto mehr zu besitzen, mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren, auf Überflüssiges und gewisse Technologien zu verzichten, also ein einfaches und auf das Wesentliche begrenztes Leben zu führen. Wenn es allerdings zunächst nur vorrangig die Reichen waren, die sich erlauben konnten, Arme zu spielen, fragte man sich, ob sich diese Mode nicht nach und nach in der Mittelklasse verbreitet hätte. Welch ein Unglück, wenn auch diese begonnen hätte, ihre Bedürfnisse auf ein unerlässliches Minimum zu reduzieren und somit die verschrobene Idee Justus zu akzeptieren, die so oft von den Massenmedien zitiert wurde, nach der das Wesen des Glücks immateriell ist. Ehrlich gesagt konnte diese Idee jedoch paradoxerweise nur in einer bereits reichen Gesellschaft um sich greifen, weil die wirklich Armen bekanntermaßen nie daran geglaubt hätten.
    Zum ersten Mal in seiner langen Erfahrung als große Gottheit und Manager der globalen Welt musste sich Euro jetzt damit abfinden, dass die Beliebtheit eines seiner Gegenspieler zum Großteil von Faktoren abhing, über die er keine Kontrolle hatte. Es war also nicht weiter verwunderlich, wenn aufgrund dieser frustrierenden Einschränkung, seine Herrschaftsgier verstimmt und fast zu einer Zwangsneurose geworden war. Euro verlor die Ruhe, die das Wissen um die Macht begleitet und war folglich nicht mehr in der Lage, seine Stimmung und den bewundernswerten Abstand dessen aufrecht zu erhalten, der aus seiner hohen Position den Verlauf der Ereignisse beobachten und steuern kann.
    Jetzt atmete man auf den Straßen Roms ein Klima des Misstrauens. Und nachdem Paul von der Abdankung Justus gehört hatte, hatte er in der Zwischenzeit die Idee, zum Vatikan zurückzukehren. Er wunderte sich, den Petersplatz von unzähligen Polizisten abgesperrt zu sehen. Die Zahl der anwesenden Polizeikräfte war beträchtlich. All diejenigen, die unter dem Verdacht standen, ein einfaches Leben zu führen, das sich somit gegen Konsum und Wirtschaftswachstum richtete, wurde als kriminell, d. h. als Feinde der Entwicklung und folglich von BIP und Euro eingestuft. Die Sondereinheit der Antiterror-Polizei begann gegen die Ketzer vorzugehen und innerhalb von wenigen Tagen zeigte dieser Organismus, der sich der Erfahrung der modernsten Marktforschungen bediente, seine Leistungsfähigkeit durch diverse Festnahmen und die Inhaftierung derjenigen, die nicht genügend konsumierten, obwohl sie Geld hatten.

Paul sieht Justus wieder

    Für Paul wurde diese Atmosphäre bald lästig und  so machte er sich wieder auf den Weg. Er hatte vor, zu Christine zurückzukehren, die sich jetzt, nach ihrer Flucht aus dem Gefängnis und nach ihrer kurzen Aufnahme bei Marta im Vatikan, an einem entfernten und geheimen Ort Siziliens aufhielt. Die Gestalt von Justus fesselte Paul jedoch weiterhin. Nun, da dieser praktisch und nicht mehr nur theoretisch auf der Seite der Armen stand, wäre ein Gespräch mit ihm interessant gewesen. Außerdem fragte sich Paul, ob Justus noch an einen patriarchalischen Vatergott glaubte oder ob er nach seinem schicksalsschweren Treffen mit Christine begonnen hatte, ein gewisses Interesse für die Muttergöttin zu hegen. Und wer war Jesus wirklich für ihn? War er Sohn des Vaters oder der Mutter oder von beiden? Und folgte ihm Justus weiterhin? Würde er eine neue Theologie begründen? Paul stellte sich diese Fragen mit Nachdruck.
    Die unwegsame und gebirgige Gegend, in die sich Justus zurückgezogen hatte, war bekannt und so machte sich Paul auf, um ihn aufzusuchen.

    Pauls Weg verlief am Rande eines großen, grünen Berges. Die Besteigung war schwer. Es gab keine Straßen, die man begehen konnte und auch keinerlei Spur eines Pfades. Aus der Ferne war Paul der Berg mächtig erschienen. Bei fortschreitendem Anstieg entschwand er dann jedoch allmählich dem Blick. Anstelle des Berges erschien der Wald wie ein grüner Drache, der diesen verschlang. Paul wanderte, schwitzte, kletterte und fragte sich, wie es Justus gelungen war, den Gipfel zu erreichen, wo sich die antiken Grotten der Eremiten befanden. Dann kam ihm das Glück zur Hilfe und er entdeckte Steine zwischen den Bäumen, die von Moos bedeckt und häufig von Wurzeln verschoben waren. Diese Steine waren so nacheinander angeordnet, dass sie über den Berg eine gewundene Treppe bildeten. Nun musste er ihr nur folgen und einfach weiter hochsteigen. Dennoch war die Strecke unwegsam und Paul kam nur langsam und vorsichtig voran. Gleichzeitig betrachtete er dabei die Bäume, Blätter, Zweige und majestätischen Stämme.
    Als er schließlich den Gipfel erreicht hatte, drehte er sich um und sah sich die Wolken an, die am endlosen Himmel dahinglitten. Die große Waldfläche verlief so weit das Auge reichte und bis zu den Seiten weiterer, entfernter und einsamer Gipfel. Zum Raunen des Waldes und der Stimme der Bäche gesellte sich die Stille des endlosen Raums.
    Am Berggipfel befand sich eine Lichtung, die von majestätischen Eichen abgegrenzt wurde und an einer ihrer Seiten war im Schutz der Felsen eine Steinkonstruktion sichtbar. Dies war tatsächlich der Vorraum eines antiken Labyrinths von Grotten, die den Berg durchzogen und die ihrerseits von heißen Strömungen erreicht wurden, die aus den Tiefen der Erde kamen. In den vergangenen Jahrhunderten hatten diese Grotten den Eremiten als idealer Rückzugsort vor der Welt gedient.
     Paul klopfte an einer Tür, die geöffnet wurde.
    - Paul, bist du das!?
    - Justus! - rief Paul gerührt.
    - Ich freue mich, dich zu sehen.
    Paul hatte sich sein erneutes Treffen mit Justus mehrmals vorgestellt. Er hatte vorausgesehen, dass es in einem schlichten Umfeld stattfinden würde. Dennoch wunderte er sich, ihn dort, wie abseits von der Bühne, als Mönch gekleidet vorzufinden. Dies machte einen wirklich sonderbaren Eindruck.
    Paul umarmte den Eremiten. Als er in den Raum  und zum Platz nehmen eingeladen wurde, begann er sich umzusehen. Das Zimmer war fast leer. Es gab eine Lagerstatt und wenige Möbel, einen rudimentären Holzofen und einige einfache Gebrauchsgegenstände. Ein offenes Fenster blickte auf einen kleinen Garten, der von mit Bögen unterbrochenen Mauern umgeben war und wie ein primitiver Kreuzgang wirkte.
    Nun löschte ein gebanntes Schweigen jedes Wort. Und jedes mögliche Gespräch hätte das Gefühl verborgen, das langsam aufkam: Es handelte sich um eine ansteckende Stille, die den Raum und die Dinge wie eine dichte und süße Substanz tränkte und den Geist Pauls berührte, seine Gedanken stimulierte und durchdrang.
    Abgesehen von seiner alten Gewohnheit, Kaffee zu trinken, hatte Justus auf alles verzichtet. Die treue Marta, die darauf bestanden hatte, ihm bis hier herauf zu folgen, war gerade dabei, Hölzchen sorgfältig unter einer Platte zu verteilen. Nachdem sie sie angezündet hatte, nährte sie die Flamme durch den Hauch, der durch die Bewegung eines Fächers entstand. Danach stellte Marta die Espressokanne auf das Feuer und setzte sich, fast als wollte sie ausruhen und nachdenken. Nun saßen alle drei still und schweigend da. Die Geräusche des Waldes waren deutlich hörbar und um sie herum war keinerlei Zeichen der Zivilisation erkennbar. Es gab kein Rom, kein Fernsehen, keine Werbung, keine theologischen Diskussionen, keinerlei Zeichen von Euro mehr. Es gab nur Frieden. Und dann verwandelte sich das erste Rumoren der Espressokanne zum zischenden Entladen des Drucks, während sich gleichzeitig der Kaffeeduft in der Luft verbreitete. Marta füllte die Tässchen. Sie, Paul und Justus rochen am Getränk und schlürften es. Ihre Gesichter erschienen unbeschwert.

    Nach dem Kaffeeritual wendete sich Justus an Paul:
    - Wunderst du dich, mich hier zu sehen?
    - Ja, wirklich.
    - Nun siehst du mich, wie ich es immer gewünscht hatte.
    - Fühlst du dich hier oben nicht alleine?
    - Nein. Ich habe viele neue Freunde, mit denen ich mich unterhalte, die mir Gesellschaft leisten und mich erfreuen. Bleiben wir aber nicht in diesem Zimmer sitzen. Es ist ein wunderschöner Tag. Komm! Gehen wir hinaus und sprechen wir mit den Spatzen.
    Paul folgte ihm ins Freie.
    Als sie tief im Wald angekommen waren, hielten sie an, um dem Gesang der Vögel zu lauschen. Und dann begann Justus mit ihnen zu sprechen.  
    Liebe Spatzen, - sagte er, - ihr seid neugierig und aufmerksam und in euch finde ich das Gehör, das mir die verhärteten Ohren der technologischen Menschen nicht schenken würden, weil sie derartig in ihre Leidenschaften verstrickt sind. Ich wende mich an euch wie an meine Brüder und so beachtet meine Worte in eurer Anmut und erinnert euch an sie, denn vielleicht wollen die Menschen sie eines Tages hören und so sprecht ihr dann zu ihnen.
    Liebe Vögel, ihr wisst, was ihr braucht und habt keine unnötigen Wünsche. Ihr habt keine Macht, aber niemand unterdrückt eure Seele. Ihr seid keine Verschwender und rettet die Erde. Ihr braucht keine Techniker und Experten, ebenso wie der, der seinen Garten anbaut, seine Seide webt und die Bäume anpflanzt, deren Früchte er erntet. Ihr seid froh, weil ihr die Vergangenheit hinter euch gelassen habt und so der Gegenwart würdig werdet. Und ihr seid die Ersten, die begriffen habt, dass das sorgen- und schmerzfreie Leben in sich und für sich Freude ist. Verbreitet die Freude unter den Menschen. Lasst ihnen euren Gesang und die Stimme der Natur in der Stille hören, damit sie schweigend die Bedeutung der Worte entdecken, durch Innenschau die anderen erkennen und ohne Zerstreuung ihren Ursprung finden.

    Am Ende der Predigt an die Vögel fragte Paul Justus, warum er nicht nach Rom zurückkehrte, um den Menschen zu helfen, ihre Probleme zu lösen. Justus antwortete, dass das nicht notwendig wäre. Die Welt war von Gott geschaffen worden und es war dessen Aufgabe, sich um sie zu kümmern. Und vor allem jetzt, wo es so viel Verwirrung gab, konnte nur Gott sie retten.
    - Justus, es ist wahr, was du sagst. Aber warum gibst du dem Herrn nicht die Möglichkeit, dich als sein Werkzeug zu verwenden? - drängte Paul.
    - Es steht mir nicht zu, dem Herrn Möglichkeiten zu geben. Vielmehr ist er die einzige Möglichkeit, die uns bleibt.
    - Das musst du aber für die anderen predigen.
    - Ich habe gesprochen und sie haben mir nicht zugehört. Wenn ihre Herzen jedoch bereit sein werden, werden sie meine Worte nicht brauchen.  Sie werden sich an die Spatzen wenden und diese werden sprechen.
    - Aber eure Heiligkeit, wann, wann werden die Herzen der Menschen zuhörbereit sein?
    - Vorher muss es zur Apokalypse kommen.
    - Was soll das heißen?
    - Auch die großen östlichen Nationen haben die westlichen Konsummodelle angenommen. Sie werden Erde und Luft noch mehr verschmutzen, die Flüsse mit ungeheuren Deichen blockieren und die Wälder zerstören. Die Erde wird sterben, der Mond wird über einem unfruchtbaren Meer aufgehen, die Berge werden verbrannt sein, ein Engel wird seinen Kelch in die Flüsse und Wasserquellen gießen, die bitter werden. Die Könige der Erde werden sich noch mehr am Wein der Unzucht berauschen. Und die Menschen werden von glühender Hitze versengt werden. Es wird zentnerschwere Eisbrocken vom Himmel auf die Menschen hageln. Es wird Kriege, Diebstähle, Gewalt, Unsicherheit, Depression, Hungersnöte und Überschwemmungen geben. Euro wird gegen die Armen kämpfen und viele unschuldige Menschen werden leiden.
    - Aber all das passiert bereits jetzt!
    - Ja, aber die Menschen können oder wollen die Ursachen für ihre Übel nicht sehen und Abhilfe schaffen. Sie werden ihrer Straße blind bis zum Ende weiter folgen.
    - Wie wird das Ende sein?
    - Es wird Leiden bringen.
    - Und dann werden die Menschen die Augen öffnen und sehen?
    - Vielleicht. Oder sie werden sterben, bevor sie begreifen.
    - Das ist furchtbar. Was können wir tun? Sag du es, Justus.
    - Nur Gott kann uns retten.
    - Aber eure Heiligkeit, tut auch ihr etwas.
    - Paul, höre mir zu! Vor langer Zeit konnten die Augen der einfachsten Personen die Natur der Dinge direkt sehen. Dann kamen die Mächtigen und begannen die Welt nach ihren Interessen zu steuern und organisieren. Und danach kamen die Gelehrten, die Wissenschaftler, Techniker und Experten und haben die Realität auf ihre Weise erklärt. Schließlich kamen die Finanzmanager, die alles erdenklich Mögliche zusammenraffen und alles zu einer Tauschware herabsetzen. So sind nun die Einfachen verwirrt und sehen sich zerstreuende Programme im Fernsehen an. Denkst du, dass weitere Predigten sie jemals retten könnten?
    - Es besteht immer eine Hoffnung, nicht? Predige zu den Menschen und empfehle ihnen, keine fossilen Kraftstoffe zu verbrennen, keine Waren von einem Ende der Welt zum anderen zu transportieren und dabei die Luft zu verschmutzen, in ihrer eigenen Wohngegend zu produzieren und zu konsumieren. Bitte die Politiker, die Schadstoffemissionen schwer mit Steuern zu belegen, sie zu beseitigen und die Sonnenenergie zu fördern. Diejenigen, die Bäume pflanzen, verdienen Nachsicht. Wer ohne ein Auto auskommt und die öffentlichen Verkehrsmittel benutzt, soll heiliggesprochen werden. Exkommuniziere diejenigen, die Wälder zerstören, Kriege führen, Waffen herstellen und verkaufen. Exkommuniziere die Mitglieder der Mafia, die Selbstherrlichen und Gewalttätigen, die Diebe und Geschäftemacher. Predige, predige gegen die Ungerechtigkeiten, gegen den Konformismus, gegen das schlafende Gewissen. Predige, Justus.
    - Paul, du bist blauäugig. Die Leute ändern sich nicht, weil du ihnen Predigten hältst und außerdem ... sind schon viele zum Predigen gekommen. Sie haben Programme für neue Revolutionen geschrieben. Dennoch sind die Ketten der Menschen nicht gerissen, sondern haben sich nur vermehrt. Es kamen die Gerechten und in ihrem Namen wurde der Schwache überwältigt und der Unschuldige gequält.
    - Dies befreit dich nicht von deiner Verantwortung, Justus. Deine Glückseligkeit ändert nichts in der Welt. Sie muss ein Ausgangs- und kein Ankunftspunkt sein und darf dich nicht gegenüber den Problemen der anderen, gegenüber ihren Gefühlen und Leiden gleichgültig machen. Du verbleibst auf diesem Berg, als ob die Welt nicht existiert.
    - Lasse zu, dass sich ihr Schicksal erfüllt. Wir aber suchen das Reich des Herrn.
    - Und was tust du für dieses Reich?
    - „Die Herrschaft Gottes kommt ohne Vorzeichen und keiner wird sagen: Hier ist sie oder dort ist sie. Denn schon jetzt, mitten unter uns, richtet Gott seine Herrschaft auf“. Blicke in dich hinein.
    - Leicht gesagt, aber wie verwirklicht man das?
    - Versenke dich in die Tiefe, lasse deine störenden Gedanken hinter dir zurück und suche das Reich. Und nimm dir hierzu Zeit und eile nicht. Zwinge dich nicht, die Welt zu ändern, sondern betrachte, sei Zeuge, beobachte und erkenne dich selbst und beginne bei dir selbst. Alles, was du außen siehst, kannst du in dir wiederfinden. Sei ein Zeuge dessen. Betrachte den Krieg, der nicht nur außen, sondern auch in deinem Herzen stattfindet. Helfe dir selbst, bevor du etwas für die anderen tust. Finde Frieden in deiner inneren Welt und bringe also Frieden, wohin du auch immer gehst. Ändere die Richtung. Wenn du dich änderst, ändert sich die Welt. Wende den Blick von den vergänglichen Dingen ab und du wirst das Reich sehen. Das Reich ist in dir. Es ist dein Naturzustand, der sanfte Lebensfluss.
    - Also, warum sagst du diese schönen Dinge, die du mir hier auf diesem Berg erzählst, nicht allen?
    - Auch wenn ich klar sprechen würde, würden sie mir nicht zuhören. Sie schlafen auf dem Kamm eines Vulkans; wenn ich sie aber rufen würde, wenn ich versuchen würde, sie aufzuwecken, würden sie mich nicht hören oder sie würden sich gegen mich wenden.
    - Aber im Namen Gottes, sprich trotzdem! Du bist Papst!
    - Im Namen Gottes haben sie Todesurteile gefällt. Ich spreche in meinem Namen und wer Gott will, soll ihn sich suchen und wenn Gott dich sucht, wird er dich finden. Aus der Tat eines verwirrten Geistes entsteht größere Verwirrung. Erkennen wir dagegen unsere Grenzen und wiederholen wir ständig: Nicht mehr ich, sondern du, oh Herr. Und lassen wir zu, dass der Herr das aus uns macht, was ihm gefällt. Und dass Er sich direkt um die Welt kümmert und dass Er mit seiner eigenen Stimme spricht. Nur Gott kann uns retten.   

    Paul war von den apokalyptischen Worten Justus beeindruckt. Er verließ ihn und begann zu überlegen, während er im Schatten von hundertjährigen Eichen dahin lief. Die für ihn interessantesten und echtesten Personen, die er auf seinen Reisen getroffen hatte, hatten sich von der Welt abgeschieden, um ein einfaches, wenn nicht einsiedlerisches Leben wie Justus zu führen. Dieser sah und kannte die menschliche Leidensbedingung jenseits vom Ruhm und Glanz Euros nur zu gut. Er hätte gesprochen, wenn ihm jemand zugehört hätte. Justus wollte also nicht nach Rom zurückkehren und predigen, Worte von sich geben. Wieviele Predigten werden gehalten! Aber wer hört sie sich an? Jeder versteht sie nach seiner Geisteshaltung. So verstanden beziehungsweise missverstanden sie die Worte Jesus, des Meisters von Justus. Und Justus hatte verstanden und deshalb hüllte er sich in Schweigen. Jetzt sprach also sein Schweigen.
    Paul zog etwas in der Natur umher, kehrte dann am Abend zur Einsiedelei zurück, sah Justus und Marta wieder, die bei einer großen Eiche ins Gebet vertieft waren und schloss sich ihnen an.
   Es herrschte eine große Stille und sie fühlten einen tiefen Frieden, wie sanften Regen auf sich herabkommen. Und während die Stille wuchs, tauchte ihr Ich in einen unendlichen Himmel ein, wurde davon verschlungen und schwand dahin. Es verblieben nur die großen, schweigenden Sterne, Zuschauer eines kleinen, fernen Planeten.

    - Durch das Gebet können wir uns wieder an unseren göttlichen Ursprung erinnern. Hier in dieser ungezwungenen Nacht entsinnen wir uns auch des Mondes und der Sterne, die anderswo von geheimnisvollen, künstlichen Lichtern verdunkelt werden, - sagte Justus, und dann, an Paul gewandt:
     - Wo wirst du jetzt hingehen?
    - Ich weiß nicht, ob ich mich erneut auf die Suche nach Christine machen oder hier bei dir bleiben soll, - antwortete Paul.
    - Christine ist eine wunderbare Frau, ein Engel Gottes, eine echte Christin. Finde sie wieder und liebe sie, fühle ihre Freude in dir wirken. Vergiss aber Jesus nicht, unseren wahren Herrn und Meister. Lieber Paul, - sprach Justus weiter. – Du denkst und hast gut verstanden, dass die Wahrheit nicht von Euro oder der im Fernsehen verbreiteten  Selbstgefälligkeit kommt. Vielmehr hat Gott sie dir ins Herz geschrieben und du erkennst sie in der Stille. Ziehe dich dennoch nicht von der Welt zurück, lebe unter den Menschen, verlasse die Berge der Einsiedler, mache dich auf den Weg, gehe, beobachte, schaue, mache Bekanntschaften und folge dabei immer der Eingabe deines Herzens. Vergesse die Gnade Gottes und die Freude der Stille auch dann nicht, wenn du unter den fundamentalistischen Verehrern von Euro und BIP sein wirst. Trage den göttlichen Schatz ganz fest in deinem Herzen, weil Gott in dir wohnt. Und nun gehe, kehre in die Welt von Euro zurück, lebe darin, aber beteilige dich nicht an seinen bösen Werken. Sei ein schweigender Zeuge der in Jesus offenbarten Liebe Gottes.

    Am folgenden Morgen verabschiedeten sie sich mit einer Umarmung und Paul setzte seinen einsamen Weg fort. Er durchwanderte den Pfad nunmehr talwärts und wünschte sich sehr, Christine wiederzusehen und mit ihr den Weg des Obdachlosen weiterzugehen. Er ging in sich und versuchte nachzudenken. Er glaubte, wählen zu können. Vielleicht konnte er glauben oder sich vormachen, frei zu sein, seinem Instinkt, seiner Seele oder den Ratschlägen der Weisen zu folgen. Welche weiteren Möglichkeiten blieben ihm? Er war mit seinen Gedanken alleine und begriff dennoch, dass er das nicht vollständig war. Wir glauben, frei zu denken, auch wenn unsere Gedanken schon tausend Mal gedacht und wiederholt wurden. Und nun sind wir es, die sie erneut formulieren und dabei glauben, sie zum ersten Mal zu schaffen. Paul war jedoch davon überzeugt, originelle Gedanken zu haben. Er war ein Obdachloser, ein Anhänger von Christine und nachdem er nun Justus gehört hatte, konnte er sich auch und vollkommen zu Recht als ein Jünger eines Meisters betrachten, dessen Wert er vorher nicht kannte: Jesus. Jesus war ebenfalls wirklich arm  und obdachlos gewesen. Außerdem hatte er wie Justus als Eremit in der Wüste gelebt. Wie Christine war er verfolgt, wie die Armen verhöhnt und beschimpft worden.
    Sicherlich war Christine unbeschwert, immer freudig, während Paul Jesus mit jener, seiner sonderbaren Beziehung zu seinem Vater, der ihn schließlich ans Kreuz geschlagen verließ, für etwas gequälter hielt. Jesus hatte einen jähzornigen und gekränkten Vater, der besänftigt werden musste, der ein Menschenopfer, den Tod einer seiner Kreaturen, seines eigenen Sohnes forderte, dessen letztes Heilsgebet er nicht erhörte. Wenn Jesus sich dagegen an die Muttergöttin gewandt hätte, hätte diese ihn gerettet.
    Oder war Jesus vielleicht unbeschwert wie Christine? Paul wusste es nicht. Wer kennt schon die Wahrheit? Vielleicht nur derjenige, der in der Stille lebt. In der Stille gibt es jedoch keine Namen, keine Worte; es gibt keine Götter, keine Lehren. Es gibt nur eine unvergleichliche, unsagbare, gewaltige Stille, die Stimme Gottes.
    So dachte er und lief weiter durch den Wald. Er überlegte, dass die meisten Menschen verrückt waren, dass die Verrücktheit zum Maßstab geworden war. Er wusste, dass Jesus im Grunde genommen und - abgesehen von gewissen schönen Predigten - übergangen wurde oder für utopisch, für einen Idealisten, eine schöne und fantastische Seele gehalten wurde. Weil die wahre, reale Welt letzten Endes die von Euro und BIP war: Weil viele daran glaubten, dass Euro letztendlich die Oberhand über alle schönen Seelen gewinnen würde.

Rückkehr in den Süden und das Schicksal von BIP

    Nachdem Paul die Einsiedelei von Justus verlassen hatte, benötigte er viel Zeit, um nach Bulla zwischen den Opuntien in das Dorf seiner Nomadengeschwister zurückzukehren. Und als er so vollkommen alleine zu Fuß von Berg zu Tal, an Stränden und Landstrichen vorbei wanderte, an verlassenen Orten schlief und sich von Obst und Kräutern ernährte, wurde ihm gar nicht bewusst, dass sich die Welt in der Zwischenzeit radikal änderte und dass die neuen sozialen Umwälzungen schließlich unvorhersehbarerweise und gegen jede pessimistische Erwartung in einer Situation von allgemeinem Wohlbefinden und Frieden gipfelten.
    Er kam nachts an, als der Mond auf sanfte Hügel strahlte und wurde vom Bellen streunender Hunde empfangen. Mit dem gefundenen Stroh baute er sich eine Lagerstatt im Schatten eines wilden Feigenbaums. Er lauschte der herzergreifenden Musik einer Zigeunergeige, bis nur noch die Stille seiner Seele in der Luft lag. Dann fand er eine verlassene Hütte. Er trat ein, schloss die Türe wieder und befand sich zwischen vier klapperigen und kahlen Wänden. Vor nur wenigen Jahren, als er in London lebte, hätte er sich seine derzeitige Situation nie vorstellen können, dachte er.
    Paul hatte in London gelebt und sich dort abgemüht, war inmitten anderer, ebenfalls ermüdeter Menschen, die ebenso wie Windhunde hinter Hasen herliefen, ständig in Eile. Allerdings handelte es sich um Stoffhasen, die genauso fiktiv waren, wie die Versprechen der Werbefachleute. Sie liefen den ganzen Tag und versammelten sich dann voller Verehrung erschöpft vor gewissen, rechteckigen Schirmen, die verschiedene Bilder ausstrahlten, durch die sie Denkweise, Wahlkriterien, Verhaltensweisen und die Vergötterung von BIP erlernten.
    London war nun jedoch inzwischen weit weg und Paul erinnerte sich nur an eine Stadt, die von den Klausnern der City, von den dienstfertigen Finanzfachleuten regiert wurde, die sich in den telematischen Verkauf von Aktien und Derivaten ohne realen Wert vertieft und unter Papier, Druckern, Statistiken, Prognosen, Berichten, Computern und Mobiltelefonen begraben, in ihre Büros einschlossen, durch die sie mit anderen telematischen Menschen in virtuellem Kontakt blieben.
    Und dennoch wusste Paul noch nicht, dass die City von London nach dem Tod von BIP und dem Zusammenbruch von Euro ein Museum von leeren Büros geworden war. Wie im Übrigen auch das alte Finanzzentrum Frankfurt, wie New York, Tokio, usw.
    Aber wie war BIP, ein anscheinend so vor Gesundheit und Ressourcen strotzender Gott gestorben?
    Paul erfuhr die Nachricht von seinen Nomadenfreunden und suchte in seiner Neugierde Bestätigung sowie weitere Meldungen in den Zeitungen. Fast alle Artikel gaben die Schuld den Chinesen, das heißt ihrer Gewohnheit, Reis mit den schicksalsschweren, hölzernen Einweg-Stäbchen zu essen. In einem Land mit eineinhalb Milliarden Einwohnern, die alle Tage jeweils vier Holzstäbchen verwendeten und wegwarfen, wurden ganze Wälder in einem untragbaren Rhythmus gefällt. Und weil China jedes Jahr fünfundvierzig Milliarden Paar Holzessstäbchen produzierte, von denen sechs Milliarden für die Lieferung an chinesische Restaurants in aller Welt exportiert wurden, nährte ein Chinese, wenn er ein Paar wegwarf, jedes Mal ohne es zu wissen, ein Gemetzel an Pappeln, Birken und Bambussen. Alljährlich wurden zwei Millionen Kubikmeter Holz zerstört.[1] Schon bald waren die chinesischen Wälder erschöpft und die Industrie der Chopsticks aus Holz brach zusammen. Indessen trugen weitere fanatische und fundamentalistische Verehrer von BIP stark zum endgültigen Ableben der Wälder bei. Und die Wälder verschwanden aufgrund einer ebenso unvorhergesehenen wie einfachen Tatsache: Es wurden mehr Bäume gefällt als in der Zwischenzeit nachwachsen konnten. Folglich fiel eine grundlegende Ressource für BIP vollkommen aus. Allerdings wurde das Klima auf einem Planeten ohne Wälder sehr eigenwillig. Es kam zu einer Trockenheit, zu den Kriegen wegen des Wassers. Industriezweige, die viel Wasser verwendeten und verschwendeten, meldeten Konkurs an. Dies war ein weiterer Todesstoß für BIP. Der grundlegende Fehler der fundamentalistischen Verehrer von BIP bestand darin, an das endlose Wirtschaftswachstum zu glauben. Das Wachstum musste jedoch ein Ende haben und endete wie ein Krebsgeschwür mit dem Tod des Gottes, auf dessen Körper es wuchs: Des Gottes BIP.
    Der Tod von BIP hatte die universale Auswirkung, die die Älteren unter uns nur zu gut kennen: Die Ereignisse überstürzten sich, der galoppierenden Arbeitslosigkeit folgten Unruhen, Revolutionen, Hungersnöte, das Chaos. Nach dieser entsetzlichen und globalen Krise, die nur einige vereinzelte und visionäre Autoren vorhergesehen hatten, änderte sich jedoch auf sonderbare und unerklärliche Weise der Geschichtsverlauf und die Menschen nahmen wieder Vernunft an. Heute, im Jahr 2062, wissen die jüngeren Generationen nicht, dass der derzeitige soziale Frieden, die Weisheit der zeitgenössischen Völker, ihr einfaches und herzerfrischendes Leben, die jetzt universalen und geteilten Werte von Ehrlichkeit, Solidarität und Gastfreundschaft, von Liebe und Weisheit, Errungenschaften sind, die die Menschheit teuer bezahlt hat.
    In den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts wusste und glaubte niemand oder glaubten nur wenige, dass das Schiff sinken würde. Alle waren damit beschäftigt, Einkäufe zu tätigen und fernzusehen. Das Bruttoinlandsprodukt war angestiegen, BIP war rot geworden und gleichzeitig war ein Unbehagen im menschlichen Geist, eine Verzweiflung des Herzens zutage getreten und selbst die reichen Menschen waren nicht glücklich. Jahrtausendelang hatten die Menschen gekämpft, hatten den Lauf ihres sinnlosen Schicksals aufgenommen, sie hatten sich geschubst, mit Füßen getreten, hatten Tiefschläge verteilt und behandelten sich mit gegenseitiger Gleichgültigkeit. Als sich die Menschen nach ihrem Sturz von einem mysteriösen Stern oder von einem wandernden, dunklen Meteoriten auf die Erde, in ihrem Leben wiederfanden, das Gesetzen folgte, die ihre Auffassung nicht verstand, hatten sie sich tausend Illusionen, Zerstreuungen, Lügen und Ideologien geschaffen, ohne sich - mit seltenen Ausnahmen - selbst zu erkennen. Sie hatten immer den Weg der Eroberung, des Zusammenraffens, des Erwerbs von Gegenständen, Privilegien und Positionen gesucht und hatten dann letztendlich in Wirklichkeit nichts Reales und Menschliches behalten und bewahren können, das nicht, wie sie, Teil eines ständigen Wettlaufs war, der zu einem traurigen Abschluss kommen sollte. Tatsächlich waren sie mit ihren wahnsinnigen Torheiten auf ein furchtbares apokalyptisches Schicksal zugeeilt.
    Schließlich schien die menschliche Torheit jedoch bereits zurzeit als Paul nach Bulla zurückkehrte, vollkommen beendet. Er blickte um sich und bemerkte ohne den geringsten Zweifel, dass sich die Welt geändert hatte. Aber wie? Was war geschehen? Warum und wie hatten die Menschen ihre echte und tiefste Menschlichkeit zurückgewonnen? Wieso und warum waren sie zu menschlichen Wesen geworden? Was war in ihrem Geist vorgefallen? Hatten sie gezwungenermaßen unsagbare Leiden durchwandern müssen, um letztendlich ihre Menschlichkeit zu verwirklichen? Es schien also, dass das erreichte wahre und tiefe menschliche Wohlbefinden wie der Gipfel eines Berges war, der über Schmerz und Leid bestiegen wurde. Und während des Aufstiegs gab es viele Menschen, die eine echte, unverzichtbare Qual, aber auch künstliche Unpässlichkeiten erlitten hatten, die von wer weiß welchem Dämon verursacht worden waren. Warum? Warum war die Menschheitsgeschichte so entsetzlich gewesen? Warum die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, warum die Kriege, die Völkermorde und alle anderen Grausamkeiten? Warum waren die Menschen der Vergangenheit nicht wie jetzt glücklich, Musik zu machen, die Wüsten zu bewässern, zu malen, die Gemüsegärten zu bestellen, miteinander zu sprechen und wie Geschwister zusammenzuleben?

    Pauls Nomadenfreunde erzählten ihm, was während seiner Abwesenheit in der Stadt Bulla passiert war, bevor der heutige Frieden und das derzeitige Wohlbefinden eintraten. Sie sagten ihm, dass es auch in Bulla, im Anschluss an den Zusammenbruch der Weltaktienmärkte und das allgemeine Scheitern der Großbanken, Unternehmen und multinationalen Konzerne, zu einer starken und allgemeinen Abwertung des Ansehens von Euro gekommen war. Die Leute waren dann derartig verarmt, dass sie nicht einmal mehr ein Auto kaufen und halten konnten. Die Geschäfte und Supermärkte wurden von Menschenmassen geplündert. Die klassischen Ökonomen, sprich die fundamentalistischen Priester von BIP, versteckten sich verschämt in den Höhlen.
    Nach Überwindung der großen Krise hatten sich die Dinge dann allerdings auch und vielleicht vor allem infolge der umsichtigen Politik der neuen Verwalter zum Guten gewendet. Da die Autos aufgrund des Zusammenbruchs des internationalen Handels und des Benzinmangels nicht mehr verwendet wurden, waren die befahrbaren Straßen nicht mehr notwendig und wurden abgetragen. In den großen, frei gemachten Räumen wurden Karuben- und Feigenbäume, Palmen, Mispeln und andere Obst- und Zierbäume gepflanzt und wuchsen heran. Die grauenvollen Gebäude, die das Ergebnis der vergangenen Bauspekulation Euros waren, wurden niedergerissen und an ihrer Stelle wurden hübsche ökologische Häuser mit Garten gebaut.  Kurzum, man muss nach Bulla kommen, um sich dieser großen Neuordnung bewusst zu werden. Die Stadt wurde so schön, dass sie von der UNESCO zum Erbe der Menschheit erklärt wurde. Die ersten Touristen begannen anzureisen. Als die Fremden dann von den Gärten, der Schönheit des Orts, der von Autoauspuffgasen freien Luft und der Lebensfreude der stillen Bewohner Bullas verzaubert waren, kamen sie scharenweise an. Unter ihnen befanden sich auch viele Chinesen, die lernen mussten, den Reis mit Metallbesteck zu essen. Es erschienen auch einige Amerikaner, die lernten, ohne gigantische Fahrzeuge, Häuser und Wolkenkratzer, ohne gigantische Autobahnen, Pizzas und Hamburger auszukommen. Sie waren erstaunt, als sie feststellten, dass sie in einer Stadt nach Maß für den Menschen zufrieden, ja sogar zufriedener und unbeschwerter als vorher leben konnten. Sie lernten auch die Eselchen zu reiten. Zunächst wunderten sie sich, als sie begriffen, dass es sich nicht um geklonte Tiere, sondern wie sie, von ihren Müttern geborene Lebewesen handelte. Dann begannen sie sie zu lieben und ihre Liebe wurde erwidert. Einige fingen an, sie anzuhimmeln, wie sie vorher ihre gigantischen Fahrzeuge angehimmelt hatten.
    Paul war offensichtlich keineswegs von der Todesnachricht von BIP erschüttert. Vielmehr freute er sich über die neue Atmosphäre, die in der Stadt und im Nomadendorf vorherrschte, das nun gut im neuen sozialen Umfeld integriert war. Nachdem das Schlimmste passiert war und die Leute dennoch, wenn auch in Einfachheit und größerer Unbeschwertheit weiterlebten, hatte nun tatsächlich niemand mehr Angst vor der Andersartigkeit. Kurzum, nach allen Katastrophen, die die Welt in der Vergangenheit getroffen hatte, bestand diese weiterhin und die Menschen waren unbeschwert und wieder vernünftig geworden.

    Unbestrittenerweise war die Welt in ihrer vordergründigen Existenz, der Natur, den Menschen und der Luft, die sie atmete, greifbar. Auch die Musik der Zigeunergeigen lag in der Luft und Paul vergass alles und auch sich selbst, wenn er ihr bei einer Einladung der Zigeuner lauschte und sich mit ihnen dem Tanz hingab.
    Jetzt tanzten und sangen auch die Bewohner Bullas. Nachdem sie aufgehört hatten, fernzusehen (schießlich hatten alle von der Werbung gestützten Fernsehkanäle Bankrott gemacht), verbrachten die Bewohner Bullas ihre Zeit auf kreative Weise, indem sie Musik machten und tanzten.
    Interessanterweise war der Walzer bei allen sozialen Schichten wieder in Mode gekommen und alle tanzten, vergaßen, vergaßen sich selbst und befreiten sich vom Gewicht ihres eigenen Ichs.
    Auch Paul hatte die Vergangenheit vergessen. Und in der Tat ist es hin und wieder oder oft aus geistiger und körperlicher Hygiene notwendig, die Bänder mit der Vergangenheit zu durchschneiden und ein neues Kapitel unter Führung der Göttin zu beginnen. Im Dorf seiner Nomadengeschwister von Maregrosso ging es ihm schließlich gut.
    Wie verführerisch, leicht, glasklar und mitreißend war doch die Zigeunermusik. Paul hörte sie gerne und kehrte dann, wenn Töne und Tänze ein Ende hatten, in seine Hütte zurück. Seine Existenz und die der Welt fühlte er stark.
    Die Welt war greifbar. Mit all ihren Faszinationen einschließlich Musik, Kunst, dem heiteren Himmel und den Regenbögen, den leidenschaftlichen Liebenden und in den Gärten spielenden Kindern war sie real und prägnant. Nur einige ältere frühere Waffenbauer und einige ehemalige, jetzt verarmte Finanzfachleute trauerten der Welt nach, die es nicht mehr gab.
    Paul verließ seine Hütte und begann zwischen den Opuntien im Sand umherzuschlendern. Er zog den Eimer aus dem Brunnen und kippte das Wasser in die Gießkanne. Die Kakteen brauchten etwas Feuchtigkeit. Dichte, am Himmel stehende Wolken bargen den Raum, bis er schließlich zu einem intimen Ambiente wurde und gaben ein weiches Licht wider. Ein unerklärliches und fast süchtig machendes Wohlbefinden begann sich in Pauls Körper zu verbreiten. Er fühlte es zunächst zwischen den Rippen, in der Brust, dann nach und nach in Bauch, Armen und Beinen sowie entlang der Wirbelsäule. Und während seine Freude wuchs, zerfielen seine restlichen Gedanken wie die stachelige Schale einer Kaktusfeige, die in der Sonne rissig wird und so ihr schmackhaftes Fruchtfleisch zeigt und mit sanfter und prägnanter Abwesenheit strahlt. Und ohne Gedanken konnte Paul nichts mehr, nicht einmal sein Ich erfassen und festhalten. Er war glücklich, wunderte sich selbst über das Geheimnis seiner Verwandlung und dass er so unbeschwert geworden war. Und sein Glück hatte keinen begreiflichen Grund, so wie die Tragödien der Menschen und ihre großen Leiden seit der Entstehung der Welt für ihn unverständlich gewesen waren.
    Ein Spatz, der auf dem Zweig eines wilden Feigenbaumes saß, schien ihn zu beobachten. Ein trockener und leichter Wind traf ihn.
    Jetzt entdeckte Paul wieder Leben in sich und es musste eben dieses Leben und nichts anderes sein, das ihm Freude schenkte.

    Paul sah Christine wieder, die sich zum Brunnen begab. Sie umarmten sich und tauschten überglückliche Blicke aus. Weitere Nomadinnen kamen herbei und blieben beim Brunnen angekommen stehen, um fröhlich zu plaudern. Dann wandelten sie langsam und anmutig ihre Schritte messend mit Krügen voller Wasser auf ihrem Haupt. Ihre Körper in farbigen Kleidern bewegten sich wogend, dass es eine Freude war, sie zu betrachten.
    Paul verstand das Glücksgefühl der Nomadinnen um Christine, die jetzt, nachdem sie den Krug auf den Boden gestellt hatte, ruhig dastand und das unendliche Blau des Meeres ansah. Auch Paul betrachtete das Meer in intensiver mystischer Gemeinschaft mit seiner Angebeteten. Dann hörte man ein Glöckchen, das die Nomaden zum gemeinsamen Mahl, zur geschwisterlichen Agape zusammenrief.          
    Paul bewegte sich und auch Christine ging, gefolgt von ihren Katzen, in Richtung Küche. Danach kamen Sofia und Kevala, Plastika und ein nicht mehr unter Beklemmungen leidender Pontius. Es kamen Justus und Marta, Mario und auch Volpi, der Sekretär, sowie viele andere und dann war auch ich dort, der diese Erzählung nach seinen Möglichkeiten geschrieben hat. Dea, unsere Mutter, war ebenfalls anwesend.
    Ihr, die immer und ewig präsent ist, der sanften und vergebenden, barmherzigen und tröstenden Mutter, sei Ehre und Ruhm.

Ende

Schlusswort des Autors

    Der Leser wird bemerkt haben, dass im Roman Gedanken von verschiedenen und wohl bekannten Autoren vertreten sind, (die zum Teil in Anführungsstrichen stehen). Durch ihre Aufnahme im Text beabsichtigte ich sie auf persönliche sowie romanhafte Art und Weise neu zu interpretieren.
    Allerdings wollte ich dabei, insbesondere, wenn sie zu einer für andere unantastbaren Tradition gehören, keineswegs Gültigkeit und Maßgeblichkeit der Quellen herabsetzen, für die ich eine hohe Achtung hege.
    Im Übrigen muss gesagt werden, dass die Gedanken anderer ihren Beiklang ändern und einen unterschiedlichen Wert oder Sinn annehmen, wenn sie in einen andersartigen Kontext eingefügt werden.
    Wenn wir es uns gut überlegen, so gibt es außerdem wirklich wenige, vielleicht sogar sehr wenige, uns eigene und ursprüngliche Gedanken, die nicht bereits gedacht oder formuliert worden wären. Wir könnten vielleicht sagen, dass wir bereits in den Gedanken der anderen geboren werden und dass wir sie folglich mehr oder weniger bewusst annehmen.

Aphorismen und Gedanken verschiedener, im Text zitierter oder paraphrasierter Autoren

Denn euer Herz wird immer dort sein, wo ihr eure Schätze habt.                                              Matthäus 6/21

Seht euch die Vögel an! Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln keine Vorräte – aber euer Vater im Himmel sorgt für sie. Und ihr seid ihm doch viel mehr wert als Vögel! Wer von euch kann durch Sorgen sein Leben auch nur um einen Tag verlängern? Und warum macht ihr euch Sorgen um das, was ihr anziehen sollt? Seht, wie die Blumen auf den Feldern wachsen! Sie arbeiten nicht und machen sich keine Kleider, doch ich sage euch: Nicht einmal Salomo bei all seinem Reichtum war so prächtig gekleidet wie irgendeine von ihnen.
Matthäus 6/26-29

Freuen dürft ihr euch, wenn sie euch beschimpfen und verfolgen und verleumden, weil ihr zu mir gehört. Freut euch und jubelt, denn bei Gott erwartet euch reicher Lohn.                                                     Matthäus 5/11-12

»Die Füchse haben ihren Bau und die Vögel ihr Nest; aber der Menschensohn hat keinen Platz, wo er sich hinlegen und ausruhen kann. «                                                                                                                             Matthäus 8/20

Zuletzt führte der Teufel Jesus auf einen sehr hohen Berg, zeigte ihm alle Reiche der Welt in ihrer Größe und Pracht und sagte: »Dies alles will ich dir geben, wenn du dich vor mir niederwirfst und mich anbetest. « Da sagte Jesus: »Weg mit dir, Satan! In den Heiligen Schriften heißt es: 'Vor dem Herrn, deinem Gott, wirf dich nieder, ihn sollst du anbeten und niemand sonst.'«
                                                    Matthäus 4/8-10

»Eines fehlt dir: Geh, verkauf alles, was du hast, und gib das Geld den Armen, so wirst du bei Gott einen unverlierbaren Besitz haben.                                                                                                                          Markus 10/21

»Ihr dürft nicht nach Vorzeichen ausschauen und an allen möglichen Orten nach ihr suchen! Denn schon jetzt, mitten unter euch, richtet Gott seine Herrschaft auf! «                                                          Lukas 17/20-21

Du hättest keine Macht über mich, wenn Gott es nicht zugelassen hätte.                                       Johannes 19/11

Ihr urteilt und verurteilt nach menschlichen Maßstäben; ich verurteile niemand. Wenn ich aber ein Urteil fälle, dann ist es auf die Wahrheit gegründet und gültig; denn ich stehe damit nicht allein da. Es ist mein Urteil und das meines Vaters, der mich gesandt hat.
                                                    Johannes 8/15-16

Am Anfang war das Wort. Das Wort war bei Gott,
und in allem war es Gott gleich. Von Anfang an war es bei Gott. Alles wurde durch das Wort geschaffen;
und ohne das Wort ist nichts entstanden. In ihm war das Leben, und dieses Leben war das Licht für die Menschen. Das Licht strahlt in der Dunkelheit,
aber die Dunkelheit hat sich ihm verschlossen.
                                                   Johannes 1/1-18

Wenn ihr Geld habt, verleiht es nicht mit Zinsen, sondern gebt es denen, von denen ihr es nicht wiederbekommen werdet.

 Die gnostischen Evangelien, Adelphi, Mi: 1995, S. 18

Mit der heiligen Beteiligung an den reinen und belebenden Mysterien empfängt der Mensch Vertrautheit und Gleichheit mit Gott. Dadurch wird er aus dem Menschen, der er war, zu Gott.          
                          Heiliger Maximus Confessor

Wünsche sind Irrsinn. Beseitige sie und trete ins Bewusstsein ein: Sofort wirst du dich jenseits der Zeit befinden. Wünsche erschaffen die Zeit. Wenn du sie beseitigst, befindest du dich jenseits der Zeit.
Osho, Yoga für Körper, Verstand, Geist, Mondadori, Mi: 2005, S. 163

Wenn du die reichsten Menschen der Erde betrachtest, wirst du nur Bettler sehen. Und manchmal geschieht es, einen echten Bettler zu treffen und einen Kaiser zu sehen, der unter einem Baum sitzt, der nichts hat, der nichts besitzt.

Osho, Der Gesang der Meditation, Mondadori, Mi: 1999, S. 37
Als sie Betanien am nächsten Morgen wieder verließen, bekam Jesus Hunger. Da sah er in einiger Entfernung einen Feigenbaum, der schon Blätter trug. Er ging hin, um zu sehen, ob nicht Früchte an ihm wären. Aber er fand nichts als Blätter, denn es war nicht die Jahreszeit für Feigen. Da sagte Jesus zu dem Feigenbaum: »Von dir soll nie mehr jemand Feigen essen! « Und sofort verdorrte der Baum.  Markus, 11/12-14 und Matthäus 21/18

»Doch dann geschah es: Auf dem Weg nach Damaskus, kurz vor der Stadt, umstrahlte mich plötzlich gegen Mittag ein blendend helles Licht vom Himmel. Ich stürzte zu Boden und hörte eine Stimme zu mir sagen: 'Saul, Saul, warum verfolgst du mich?'
Apostelgeschichte, 22/6-7

Der Erste, der nach dem Umzäunen eines Stück Bodens auf den Gedanken kam, „dies ist mein“ zu sagen, und ziemlich dumme Menschen fand, die ihm glaubten, war der eigentliche Begründer der Zivilgesellschaft. Wie viele Verbrechen, wie viele Kriege, wie viele Morde, wie viel Not und Fehler wären der Menschheit erspart geblieben, wenn sie die Pflöcke ausgerissen oder den Graben aufgefüllt hätte und den Mitmenschen zugerufen hätte: „Hütet euch davor, diesem Betrüger Gehör zu schenken! Wenn ihr vergesst, dass die Früchte allen und die Erde niemandem gehören, seid ihr verloren!
                                                       J. J. Rousseau

 Könnte ich ein Messer nehmen und es in den Busen meiner Mutter stechen? Wenn ich das tun würde, würde sie mich nicht mehr an ihrer Brust aufnehmen, wenn ich sterbe. Möchtest du, dass ich Steine umgrabe und aushöhle? Könnte ich vielleicht in ihrem Fleisch bis zu den Knochen graben? Dann könnte ich nicht mehr in ihren Körper zurückkehren, um zu neuem Leben geboren zu werden. Wollt ihr, dass ich Gras und Heu mähe, um diese mit Gewinn zu verkaufen, wie das die Weißen tun? Könnte ich etwa die Haare meiner Mutter schneiden?
Smohalla, Häuptling der Wanapun, S. 89 in M. Eliade, Das Heilige und das Profane, Boringhieri, Turin 1973

Wie der Flügel für den Vogel, das Wasser für den Fisch, das Leben für den Lebendigen, so bist du für mich. Doch sage mir, mein Vielgeliebter, wer bist du? Wer bist du in Wirklichkeit?
                                          Chàndogya Upanishad

Das Tao tut nie etwas,
jedoch sind durch das Tao alle Dinge getan.
Wenn mächtige Männer und Frauen
sich das Tao einverleiben würden,
wäre die ganze Welt verwandelt
von selbst weg, in ihrem natürlichen Rhythmus.
Der Inhalt der Menschen wäre
mit ihren einfachen, täglichen Leben,
in Harmonie, und frei von Begierde leben.
Wenn es keine Begierde gibt,
sind alle Dinge in Frieden.
                               Laotse, Dao De Jing, (37)

Oberflächliche Wünsche zu verfolgen, hier und dorthin zu laufen, dies und das zu wollen... es gibt viele Wege zum Wahnsinn.
Gib das Äußerliche auf. Kultiviere
 die Innerlichkeit.                                                                            Laotse, Dao De Jing, (12)

Wenn reiche Spekulanten gedeihen
während die Landwirte ihr Land verlieren;
wenn Regierungsbeamte Geld für Waffen statt Medizin ausgeben;
wenn die Oberklasse extravagant und unverantwortlich ist
während die Armen keine Aussichten haben.
All das ist Raub und Chaos.
Es ist nicht im Einklang mit dem Tao.
                                Laotse, Dao De Jing (53)

Der Weise agiert ohne Anstrengung, er lehrt mit seinem gelassenen Beispiel.
                                        Laotse, Dao De Jing

Die echten Worte sind nie ausgefeilt. Die ausgefeilten Worte sind nicht echt. Die Wissenden sind nicht voller Worte. Diejenigen, die voller Worte sind, wissen nichts.
                                       Laotse, Dao De Jing

Ihr sagt: 'Wir sind reich und bestens versorgt; uns fehlt nichts.' Aber ihr wisst nicht, wie unglücklich und bejammernswert ihr seid, elend, blind und nackt. Ich rate euch: Kauft von mir Gold, das im Feuer gereinigt wurde; dann werdet ihr reich! Kauft euch weiße Kleider, damit ihr nicht nackt dasteht und euch schämen müsst! Kauft euch Salbe für eure Augen, damit ihr sehen könnt!
                                                  Offenbarung 3, 17-18

Der vierte Engel goss seine Schale auf die Sonne. Da wurde der Sonne erlaubt, die Menschen mit glühenden Feuerstrahlen zu quälen. Und die Menschen wurden von glühender Hitze versengt. Sie verfluchten den Namen Gottes, der Verfügungsgewalt hat über solche Katastrophen; aber sie änderten sich nicht und wollten Gott nicht die Ehre geben.                                Offenbarung 16, 8-9

Gott rechnete ab mit dem großen Babylon: Es musste den Wein aus dem Becher trinken, der mit seinem glühenden Zorn gefüllt war. Es hagelte zentnerschwere Eisbrocken vom Himmel auf die Menschen.                                                                                                  Offenbarung 16, 19-21

Einer der sieben Engel, die die sieben Schalen trugen, kam zu mir und sagte: »Komm! Ich werde dir zeigen, wie die große Hure bestraft wird, die Stadt, die an vielen Wasserarmen erbaut ist! Die Könige der Erde haben sich mit ihr eingelassen. Alle Menschen sind betrunken geworden, weil sie sich am Wein ihrer Unzucht berauscht haben. « Der Geist Gottes nahm Besitz von mir, und der Engel trug mich in die Wüste. Dort sah ich eine Frau. Sie saß auf einem scharlachroten Tier, das über und über mit Namen beschrieben war, die Gott beleidigten. Das Tier hatte sieben Köpfe und zehn Hörner.
                                                  Offenbarung 17, 1-3

Jesus, der sich den Reichen gegenüber streng zeigte, ist kein Asket: Er isst und trinkt gerne, nimmt an einem Fest teil und labt sich bei einem Bankett mit Freunden. Er verlangt nicht vom Menschen, sich vom Genuss dessen zu enthalten, was Gott geschaffen hat. Während jedoch der Reiche sein Festmahl genießt, muss sich der arme Lazarus mit den Bröseln begnügen, die unter den Tisch gefallen sind. Darin besteht die Sünde: Gott hat den Tisch der Welt für alle seine Kinder gedeckt. Indessen ist die egoistische Aneignung dieses Tisches vonseiten einiger weniger die Ablehnung des Plans Gottes.

Josè Miguez Bonino, Ein Raum zum Menschsein.



   Schlusswort zur Abfassung von 2015
 
    Die erste Abfassung dieses Romans geht auf das Jahr 2011 zurück. Zu jener Zeit dachte ich über eine einzigartige Bemerkung von Papst Luciani nach, die ich in einem nicht mehr auffindbaren Text gelesen hatte: „Wir müssten unsere Silberstäbe gegen Holzstäbe eintauschen, wie sie die ersten Jünger trugen”.
    Damals dachte ich, dass Papst Luciani, wenn er länger gelebt und wirklich versucht hätte, diese Idee mit all ihren praktischen Auswirkungen und möglichen Folgen zu realisieren, wenn er nämlich wirklich versucht hätte, die Kirche auf ihre ursprüngliche Armutsstellung zurückzubringen, so wäre er zur Abdankung gezwungen geworden oder hätte nach einigen Monaten oder Jahren auf sein Projekt verzichten müssen. Ich dachte also nicht, dass ein Papst tatsächlich zurückgetreten wäre, wie dies Papst Ratzinger, wenn auch aus ganz anderen Gründen, getan hat.
   Daher ist mein Roman nicht „prophetisch”, wie in einer Rezension zu lesen ist. Und wenn ich jetzt im Jahr 2015 dennoch eine echte Prophezeiung, oder vielmehr eine logische Vorausschau machen müsste, so würde ich sie auf die mögliche zukünftige Abdankung von Papst Franziskus beziehen, der ständig mutig den Wert der Armut predigt, das heißt die Überlegenheit von Geist und Glauben über die Materie. Doch obwohl er der Pontifex Maximus der letzten absoluten Monarchie ist, wird er die Kirche meiner Meinung nach nie zu ihren Ursprüngen zurückbringen können.
    Kann man sich tatsächlich eine vollkommen von Gütern und Privilegien befreite Kirche vorstellen? Soweit ich weiß, gibt es keine wirklich arme Kirche, die gleichzeitig keinerlei oder ein minimales Verhältnis zum Geld hätte. Obwohl einige vereinzelte Geistliche manchmal in Armut leben können, ermöglicht der acht Tausendstel-Betrag der italienischen Einkommenssteuer den Messen der höheren Hierarchien die Verwaltung großer Summen.
    Indessen glaube ich, dass der unwahrscheinliche, reale Versuch der Kirche, zur biblischen Armut zurückzukehren, die verbissensten Gegner nicht nur in einigen hohen und privilegierten Hierarchien, sondern auch außerhalb davon und unter den Gläubigen finden würde. Denken wir an die dem Namen nach christlichen Massen, die sich in den Einkaufszentren verlieren und an deren Seelen, die nach Gütern und keinesfalls nach Armut streben! Denken wir auch an das verbreitete produktive Arbeitssystem von überflüssigen Gütern, die mit der Entlohnung anderer, oft entfremdender Aufgaben von Arbeitern, Managern, usw. gekauft werden müssen. Denken wir jedoch vor allem an die Interessen und die Sichtweise des Lebens der Menschen, die das Finanzwesen leiten. Die Reichen und Mächtigen könnten sich sicher für die Armut aussprechen - offensichtlich für die der anderen. Allerdings könnten sie, außer infolge einer sehr unwahrscheinlichen Bekehrung ihrerseits zu einem neuen Leben, nicht auf ihren Reichtum verzichten.
    Was ist indes letzten Endes die Armut wirklich? Warum liebt Jesus die Armen? Warum waren und sind wahrhaft große Menschen, wie ein Heiliger Franziskus, ein Buddha und ein Diogenes, ein Epikur, ein Sokrates und verschiedene andere arm? Welche Armut predigten sie, welche praktizierten sie? Epikur besaß keine Reichtümer, lebte jedoch gut und glücklich, umgeben von treuen Freunden in einem reizvollen Garten. Selbst Jesus war nicht ärmlich und wurde angeklagt, ein Vielfraß und Säufer zu sein (Matthäus 11,19); Sokrates wohnte im Haus, das er zusammen mit siebzig Minen vom Vater als Erbe erhalten hatte und lebte nicht im Elend. Und so darf der Begriff „Armut” nicht mit Not und Bedürftigkeit gleichgesetzt werden. Man muss folglich wirklich sagen und klarstellen, dass es eine extreme, erlittene und unfreiwillige Armut gibt, die herabsetzt und zum Sklaven macht. Es gibt allerdings auch eine positive Armut, die sich mit einem einfachen Leben deckt, das den Menschen befreit und erhebt. Eine Bedingung, die auf Basis einer passenden und realistischen Überlegung um die wesentlichen Werte des Lebens frei gewählt werden könnte. Das einfache Leben, das also auch in positiver Armut gelebt wird, besteht darin, seine wahren Notwendigkeiten zu kennen und sich von induzierten Wünschen, vom Totem der Entwicklung um jeden Preis, von der Anbetung von Geld und Gewinn, vom Abgott des Wachstums, vom undendlichen Konsum zu befreien, der sich selbst konsumiert.
    Es handelt sich folglich um den existentiellen Zustand von reifen Menschen, die ihre Zeit beherrschen und sich nicht für unglücklich halten, weil sie keine unnötigen und überflüssigen Dinge besitzen. Außerdem gibt es keine Hinderungsgründe, dass sich die positive Armut mit Bildung, Kultur, Geselligkeit, Beziehungsharmonie und einem hervorragenden Verhältnis zur Umwelt verbindet. Ja, sie könnte sich sogar als nützliche Voraussetzung hierfür erweisen.
    Nun regieren uns Finanzwesen und wirtschaftlicher Gewinn. Gleichzeitig steigen Arbeitslosigkeit und die Zahl der neuen Armen an, die dies nicht aus eigener Wahl sind und es vorziehen würden, reich oder wohlhabend zu sein. Dennoch beginnen die neuen Armen und nicht nur sie die Vermutung zu hegen, dass der wahre Reichtum nicht im Geld besteht und nicht von den Finanzmachtzentren reguliert werden kann.
    Auch beim Gedanken an den Reichtum müssen wir folglich vor allem überlegen, was ihn wirklich ausmacht. Tatsächlich kommt echter Reichtum durch Kreativität zustande: Er entsteht durch all diejenigen, die notwendige Güter und Serviceleistungen, positive Konzepte, Forschung und Zusammenarbeit schaffen. Die wahren Erzeuger von Reichtum sind also Handwerker, Bauern, Arbeiter, Erzieher, Wissenschaftler, Schriftsteller, Künstler, Forscher, ehrliche Verwalter, Hüter der natürlichen Ressourcen, usw. Ihr Reichtum ist menschlich und besteht eher aus Fähigkeit, Wert und Intelligenz als aus Dingen und Geld. Allerdings haben sie im Vergleich zu denen, die nichts produzieren, aber das Geld gut verwalten können und große Finanz- und Spekulationstransaktionen ausführen, wenig oder keine Macht.
    Folglich müssen die echten Erzeuger des Reichtums sich tiefgehend ihres Wertes bewusst werden, indem sie gleichzeitig eine wahre Demokratie aufbauen, die frei von der Macht des Geldes ist und neue, grundsätzlich menschliche und beglückende Ansätze für Existenz und Zusammenleben umsetzt. Hierbei muss die Sichtweise des Menschen als eines in erster Linie wirtschaftlichen Faktors aufgegeben werden, um ihn als menschliches Wesen zu erfassen, das in glücklichen und menschlichen Beziehungen lebt. Mit anderen Worten geht es darum, mit großer Leidenschaft und Ernst zu bewerten, was unser wahres Wohlbefinden oder Glück, wie man es auch nennen mag, ausmacht. Und es ist eben das Glück, das die Menschen im Allgemeinen letztendlich, wenn auch mit verschiedenen Ansätzen und Methoden, wünschen und nach dem sie streben.
    Christine, die Hauptfigur meines Romans, verfolgt und verkörpert meiner Meinung nach einen möglichen Ansatz in Richtung Glück und gutem Leben. Sie ist nicht glücklich, weil sie besitzt, sondern weil sie ist. Und in diesem Sinn ist sie nicht nur im Wesentlichen Christin, sondern ist vielleicht und vor allen Dingen ein reifes menschliches Wesen; das heißt, sie ist abgeklärt wie die echten Weisen, vielleicht am ehesten wie ein Epikur. Denn dieser sagte, dass das Leben in Abwesenheit von körperlichem Schmerz und seelischem Leiden in sich und an und für sich eine Freude ist. Und wenn wir diese grundlegende Freude umsetzen, dann müssen wir nichts anderes, als unsere grundlegenden Notwendigkeiten, wie Essen, Rückzugsort, Kreativität und Freundschaft zufriedenstellen.
    Und diese Weisheit zieht sich quer durch die verschiedenen Glaubensbekenntnisse, verschiedenen Philosophien und Religionen, die folglich zu Mitteln und Wegen für die Verwirklichung von Menschlichkeit und Glück werden können. Außer sich vom Geld und dessen Sklaverei und damit von den geläufigen materialistischen, wirtschaftlichen und finanziellen Weltanschauungen zu befreien, muss man also die tiefgehenden Gründe und Bedingungen des Glücks anerkennen, Anspruch auf deren Recht erheben und es, wenn auch und vielleicht vorzugsweise, im Rahmen eines einfachen und menschlich reichen Lebens verwirklichen. 
       Es geht also nicht darum, Bettler oder Obdachlose wie die ersten Jünger Jesus, Abbilder des Heiligen Franziskus zu werden oder sich in eine Einsiedelei zurückzuziehen. Stattdessen müssen wir einerseits unsere realen und grundlegenden Bedürfnisse erkennen, die zufriedengestellt werden müssen und andererseits müssen wir die wichtigen Faktoren entdecken oder überdenken, die das Leben prägnant, tiefgründig, glücklich und lebenswert machen.
    Wir brauchen nicht mehr Geld, sondern mehr Gerechtigkeit, Solidarität, Freundschaft, Ehrlichkeit, Kreativität, Berufung zur Arbeit, Frieden, Liebe zur Natur, unserer Mutter. Wir brauchen nicht einmal in Richtung der Dinge und privilegierten Positionen zu laufen, die uns fern liegen. So befreien wir uns dann auch vom Konsumsydrom, das die Welt konsumiert und aufbraucht.
  



copyright 2011 Eliseo Laganà
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[1] In La Repubblica vom 23. März 2006 erschienene Daten